Folgender Text ist aus den Notizen entstanden, die ich mir für den vorgestrigen Podcast gemacht hatte.
Viele Linke, vor allem in den USA, sehen den Terroranschlag von Hamas am 7. Oktober als revolutionären Akt im Rahmen des revolutionären Projekts, auf das all ihre Mühen gerichtet sind, und Israel entsprechend als Teil und Symbol der Unterdrückungssysteme, die sie bekämpfen.
Es entspricht etwa dem, was James Lindsay als gnostische Religion beschreibt. Der Kern einer gnostischen Weltsicht in diesem Sinn ist die Annahme, dass die uns zugängliche Welt ein Gefängnis sei und dass man durch Wissen um diesen Umstand daraus ausbrechen könne. Auf eine solche Weltsicht verweist der Begriff der “Befreiung”. Befreiung wovon? Dieses Denken geht implizit davon aus, dass es einen natürlichen und idealen Modus des gesellschaftlichen Lebens gebe, in dem wir uns eigentlich befinden sollten, und dass wir irgendwie des Naturrechts beraubt worden seien, in diesem Modus zu leben. Dieser Modus wäre die Welt, wie sie war, bevor der Demiurg das Gefängnis konstruiert hat, und wie sie wäre, wenn er es nicht hätte.
Die Errichtung des Gefängnisses bestand je nach Theoriezweig darin, dass sich manche die Produktionsmittel angeeignet, die Eigenschaft “Weißsein” mit gesellschaftlicher Gestaltungsmacht ausgestattet und diese anderen vorenthalten oder andere kolonisiert und sie damit jeweils entmenschlicht haben. Die Bourgeoisie, die Weißen oder die Kolon(ial)isten sind jeweils der Demiurg. Befreiung heißt Zerstörung der Unterdrückungssysteme in der Erwartung, dass sich die demiurgische Macht zur Konstruktion der Wirklichkeit dann auf alle verteile, so dass sich die Welt entfalten kann, wie sie wirklich hätte sein sollen; eine ideale, harmonische Welt, die kein Gefängnis mehr ist.
Dieses Weltbild spiegelt sich in den vielen Verlautbarungen, die dahin gehen, dass alle Probleme dieselbe Wurzel hätten. Luisa Neubauer schlägt beispielsweise gerne immer wieder diesen Ton an.
In einem mit Greta Thunberg verfassten und von vielen Prominenten, sogar Professoren unterzeichneten offenen Brief schrieb sie:
Der Kampf für Gerechtigkeit und Gleichheit ist universell. Sei es der Kampf für soziale, ethnische, Klima- oder Umweltgerechtigkeit, für die Gleichstellung der Geschlechter, für Demokratie, für die Menschenrechte, Rechte von indigenen Völkern, LGBTQ und Tieren, für Rede- und Pressefreiheit oder der Kampf für ein ausgewogenes, gut funktionierendes Lebenserhaltungssystem. Wenn wir keine Gleichheit haben, haben wir nichts. Wir müssen uns nicht entscheiden und uns darüber streiten, welcher Krise oder welchem Thema wir Vorrang einräumen sollten, denn alles ist miteinander verbunden.
Alles ist – irgendwie – miteinander verbunden, das stimmt. Aber dass deswegen die Lösung eines Problems automatisch zur Lösung aller anderen Probleme beitrage, das ist ein Irrtum. In der Realität ist es oft genau umgekehrt: Der Versuch, ein Problem zu lösen, ist mit Kosten und Nebenwirkungen behaftet, verursacht also Probleme an anderer Stelle. Das macht es so schwierig. Man nennt es Komplexität.
In diesem Denken aber gibt es den besagten idealen Entwicklungsgang der Gesellschaft, in dem alles in Harmonie wäre, und Probleme bestehen nur, weil wir den verlassen haben. Die Welt ohne Unterdrückungssysteme, ohne böswillig konstruiertes Gefängnis wäre so perfekt, dass die Produktion von Massenwohlstand ohne Müll und Emissionen geschähe. Jeder Schritt der Rückkehr zum vorgesehenen Entwicklungsgang der Welt ist daher ein guter Schritt. Fragen nach Kosten erübrigen sich oder sind gar blasphemisch (etwa wie die Idee, Judas wäre weniger Verräter gewesen, wenn er mehr als 30 Silbertaler bekommen hätte). Die Begriffsprägung “Klimagerechtigkeit” erklärt sich aus diesem Deutungsrahmen, die auch in dieser Losung steckt:
Klima gut, alles gut. Alles ist eins. Alle Probleme sind Abweichung von der vorgesehenen Soll-Entwicklung der Menschheit, in die eine Gruppe von Auserwählten Einsicht hat (Gnosis).
Die Berliner Professorin und Leiterin des DeZIM-Instituts Naika Foroutan schrieb 2021 im Spiegel in einem Beitrag zur Migrationsdebatte in Deutschland:
Im letzten Jahrzehnt sind Denker aus Syrien, der Türkei, Iran, Afghanistan, Israel in Berlin zusammengekommen. Sie vernetzen sich untereinander – auch rund um die israelisch-palästinensische Frage, die sie mit der überregionalen Utopie einer progressiven Gesellschaftsentwicklung verzahnen.
Einwanderung nach Deutschland, Nahostkonflikt, progressive Gesellschaftsentwicklung, Utopie. Voilà. Alles ist eins. Man muss es nur im Diskurs »verzahnen«. Aus dieser Perspektive verkompliziert es die Dinge nicht etwa, wenn man mehrere komplexe Probleme vermischt und gleichzeitig lösen will, sondern vereinfacht sie, weil sie in Wahrheit alle das gleiche Problem seien – das Weltgefängnis namens “Unterdrückung”.
Die progressive Plattform »The Slow Factory« postete auf Instagram dies:
Wie bekommt man Queer Rights und Hamas zusammen? Wie beschrieben. Der Hamas-Terrorismus ist Kampf gegen das Weltgefängnis, und wenn das Weltgefängnis fällt, sind alle wesentlichen Probleme gelöst.
»Systemic change for collective liberation«!
Im Kontext des »Dekolonialismus« erfolgt die Befreiung ausdrücklich durch einen Gewaltakt – die Tötung der Kolonisten, die für die Kolonisierten eine Wiedergeburt und Menschwerdung darstellt, also eine tiefgreifende spirituelle Transformation. So jedenfalls sieht es Frantz Fanon, einflussreicher Autor von »Die Verdammten der Erde«, und Jean-Paul Sartre, der das Vorwort dazu geschrieben hat.
… Sie täten gut daran, Fanon zu lesen, denn er zeigt deutlich, dass diese unbändige Gewalt [gegen Kolonialmächte] weder Schall und Rauch ist, noch die Wiederauferstehung wilder Instinkte, noch die Auswirkung von Ressentiments: es ist der Mensch, der sich selbst neu erschafft. Ich glaube, wir haben diese Wahrheit einmal verstanden, aber wir haben sie vergessen – dass keine Sanftheit die Spuren der Gewalt auslöschen kann; nur die Gewalt selbst kann sie zerstören. Der Eingeborene heilt sich von seiner kolonialen Neurose, indem er den Siedler mit Waffengewalt vertreibt. Als seine Wut überkocht, entdeckt er seine verlorene Unschuld wieder, und er lernt sich selbst kennen, indem er selbst sein Selbst erschafft. … Denn in den ersten Tagen des Aufstands muss man töten: Einen Europäer zu erschießen bedeutet, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, gleichzeitig einen Unterdrücker zu vernichten und den Menschen, den er unterdrückt: Es bleibt ein Toter und ein Freier; der Überlebende spürt zum ersten Mal nationalen Boden unter seinen Füßen.
Dekolonisierung ist ein gewaltsamer Prozess (danke James Lindsay). Das ist der Gehalt von Verlautbarungen wie derjenigen von diesem he/him-Professor am 7. Oktober:
Oder solchen von der George Washington University:
Oder solchen vom Southern Poverty Law Center, einer radikal linken NGO, die sich ähnlich wie die Amadeu Antonio Stiftung als »gegen Hass« framet und deshalb immer noch vielfach mit heiligem Ernst ernstgenommen wird:
Wiederum an einer Uni beschwerten sich Mitarbeiter in einem Brief an die Universitätsleitung, die Bezeichnung des Massakers vom 7. Oktober als »Terrorismus« führe dazu, dass sich palästinensische Studenten »unsafe« fühlten. Peak repressive Toleranz.
Unter den jüngeren US-Amerikanern hält einer aktuellen Umfrage zufolge eine knappe Mehrheit die Tötung von 1.200 Zivilisten im Zuge des Anschlags vom 7. Oktober für gerechtfertigt.
Man sieht, wie viel progressiver die Jungen gegenüber den Alten sind. Wer kann da etwas dagegen haben? Jedenfalls nicht der Direktor der deutschen Umwelthilfe:
Ein damit verbundenes, aber davon unterscheidbares Judenproblem ergibt sich für die Woke-Linke aus dem “Antirassismus” à la Critical Race Theory (CRT), in der, wie erwähnt, »Whiteness« die ungleich verteilte demiurgische Unterdrückungsressource ist. So erklärt sich die Verteufelung des Weißseins in Verbindung mit den Beteuerungen, es gehe dabei nicht um die Hautfarbe.
Sie stören sich nicht an der Hautfarbe an sich, sondern an der Unterdrückung, die von Weißen ausgehe. Aber indem sie unterstellen, dass von Weißen immer Unterdrückung ausgehe, ist das Ergebnis eben doch wieder die Dämonisierung von Menschen aufgrund der Hautfarbe.
Die CRT behauptet, dass die Gesellschaft bis ins Innerste rassistisch strukturiert sei und sich dieser Umstand aber zu tarnen verstehe, sodass man antirassistische Aufklärungsarbeit und Selbstreflexion brauche, um den buchstäblich überall anzutreffenden Rassismus freizulegen und sichtbar zu machen. Diese Sichtbarmachung soll auf lange Sicht irgendwie zu seiner Überwindung führen.
Wie im utopistischen Denken üblich, wird es an der Stelle wolkig, wo es darum geht, wie die Utopie erstens verwirklicht werden und zweitens dann aussehen soll. Man weiß es nicht. Schon Horkheimer hat dies ja gesehen und damit erklärt, dass unser Denken eben noch durch unsere Sozialisation in der Gegenwartsgesellschaft geprägt und beschränkt sei. Wie praktisch. Man lässt sich also nicht davon beirren, dass man keinen wirklichen Plan hat, und verfolgt einfach die Strategie, den überall anzutreffenden Rassismus sichtbar zu machen und sich ihm entgegenzustemmen, nach außen und nach innen.
Die Juden sind aber in westlichen Gesellschaften, vor allem in den USA, dem Ursprungsland der CRT, gut etabliert in dem Sinn, dass sie erfolgreich, in einflussreichen Milieus – Medien, Wissenschaft, Kunst, Politik – stark vertreten und von den nichtjüdischen Weißen europäischer Abstammung oft kaum unterscheidbar sind. Sie sind also aus Sicht dieser Theorie weiß oder zumindest “weiß positioniert”.
Somit gehören sie zu derjenigen Gruppe, die vor allen anderen ihr Privileg checken und entmachtet werden muss.
Gleichzeitig blicken die Juden aber auf eine beispiellose Geschichte von Verfolgung und Unterdrückung zurück, und dies ist Teil ihrer Identität; es ist nicht zuletzt auch wesentlicher Teil der Begründung des Existenzrecht Israels.
Juden stehen somit in gefährlicher Weise quer zu den Postulaten und dem Programm der CRT. Mit privilegierten Weißen, die als unterdrückte und bedrohte Gruppe gelten, kann die Theorie nicht umgehen. Wenn sie als unterdrückt gelten wollen, dürfen sie ihren privilegierten Status nicht haben; und wenn sie ihren privilegierten Status (also persönlichen Erfolg) haben wollen, dürfen sie nicht als unterdrückt gelten. Die Juden und insbesondere der Holocaust sind für die Theorie ein unumgängliches Hindernis und Ärgernis. Ergebnis ist ein Antisemitismus, der dem “klassischen” stark ähnelt. Die Juden sind zu Unrecht Teil der gesellschaftlichen Elite und müssen ihre jüdische Identität aufgeben oder von der Bildfläche verschwinden.
Das Holocaust-Gedenken muss minimiert werden, weil es das “antirassistische” Deutungsschema bricht. Die Philosophin Whoopie Goldberg bezeichnete deshalb den Holocaust einmal als “white on white violence” – von Weißen begangene Gewalt gegen Weiße -; mit anderen Worten als einen Vorgang, der nichts mit (systemischer) Unterdrückung zu tun hat. Diese Formel zirkuliert an US-Unis schon länger.
Das Thema Israel und “Palästina” wird durch all das zum verdichteten Symbol für Westen vs. Süden, Weiß gegen PoC, kapitalistischer Wohlstand vs. Armut, kalte Moderne vs. edle Wilde und Kolonialismus vs. Indigene, und es wird zum entscheidenden Hebel für die Revolution, die man an all diesen Fronten herbeisehnt – ein bisschen wie eine Voodoopuppe für die westliche Welt im Ganzen, der die Hamas nun aus dieser Sicht verdiente Nadelstiche beibringt. So erklären sich Äußerungen wie die des US-Geschichtsprofessors, der die Nachricht vom Terroranschlag am 7. Oktober “berauschend” fand. Man steckt all seine Energien in die Vollbringung eines kosmischen Zaubertricks – “Befreiung” – und “free Palestine” erscheint als wichtiger Teil der Formel. Der Rausch ist eine Art religiöser Ekstase in dem Gefühl, dass sich die Vorsehung verwirklicht und das Himmelreich auf Erden näher rückt.
All das ist natürlich wieder die Politik der Negation – die fiktive dialektische Vorstellung, dass sich das Ideale von selbst manifestiere, wenn man das Nichtideale zerstört (indem man z. B. den Europäer erschießt, siehe oben). Die Abrissbirne ist dafür ein treffendes Symbol:
Da steht auch »rebuilt« – aber Institutionen besser zu machen ist schwierig und wird nicht leichter, wenn man vorher alles zerstört, worauf man aufbauen könnte. Das ist kein Plan; das ist Hoffen auf ein Wunder. Auf das Gelingen eines kosmischen Zaubertricks.
Und dass sich die Juden im dialektischen Schema als Schlechtes, »Nichtideales« wiederfinden, ist Folge des Schwarzweißdenkens dieser Ideologie. Unterdrückt und erfolgreich gibt es dort ebenso wenig wie verdienten Erfolg überhaupt, es sei denn, er steht im Dienst der Revolution.
Der rechte Antisemitismus sieht in den Juden eine zersetzende Kraft, der linke im Gegenteil einen integralen und tragenden Bestandteil des kolonialen, kapitalistischen, »weißen« Unterdrückungssystems, das überwunden werden müsse. In beiden Fällen sind sie Antithese dessen, was die eigene Gruppe sakralisiert – bei den Rechten das Tradierte, bei den Linken die Revolution. Beides birgt einen Keim von Genozid, weil die Juden der Erreichung des höchsten Ziels dieser Bewegungen im Weg stehen, von dessen Verfolgung sie nicht lassen können. Die Rede von einem »Genozid in Gaza« ist möglicherweise tatsächlich Projektion.