Woke: Autoimmunerkrankung des Liberalismus

Die­ser Text ist ursprüng­lich bei »Der Sand­wirt« erschie­nen.


Nie­mand kann behaup­ten, Sven Leh­mann, der grü­ne Que­er-Beauf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung, sei nicht offen für Kri­tik. „Es wird Zeit, die Regen­bo­gen-Blind­heit des Grund­ge­set­zes zu been­den“, twit­ter­te er kürz­lich im Zusam­men­hang mit sei­nem Anlie­gen, die „sexu­el­le Iden­ti­tät“ als vor Dis­kri­mi­nie­rung geschütz­tes Merk­mal in Arti­kel 3 Absatz 3 der Ver­fas­sung auf­zu­neh­men. Ein Nut­zer mit dem Namen „peng“ und der Losung „No love for a nati­on (espe­ci­al­ly this one)“ im Pro­fil wand­te ein: „Autsch. Ableis­mus­Voll­tref­fer [sic!]. Ver­mut­lich meinst du igno­rant statt Blind­heit, oder?“ 

Für die Älte­ren: „Ableis­mus“ setzt sich zusam­men aus dem eng­li­schen „able“, also fähig, und „-ismus“ wie in „Ras­sis­mus“ oder „Sexis­mus“ und meint so etwas wie Dis­kri­mi­nie­rung von Behin­der­ten durch die Annah­me, dass Nicht­be­hin­de­rung die Norm oder vor­zu­zie­hen sei. So zir­ku­lier­ten im Zusam­men­hang der Fuß­ball-WM auch Appel­le, auf die Meta­pher der „Rück­grat­lo­sig­keit“ zu ver­zich­ten, da die­se unter­stel­le, dass es bes­ser sei, auf­recht zu ste­hen. Leh­mann, der schon mal mit Begrif­fen wie „bür­ger­li­che Faschos“ han­tiert, wenn er rabi­at eine Mut­ter abkan­zelt, die in der Zeit­schrift EMMA über­aus vor- und umsich­tig ihre begrün­de­te Sor­ge über die ver­stö­ren­de Wir­kung von Gen­der-Ideo­lo­gie auf Kin­der arti­ku­liert hat, fand die Beschwer­de von „peng“ sofort über­zeu­gend und ant­wor­te­te bin­nen zehn Minu­ten: „Ja! Dan­ke für den Hinweis.“

Jetzt wen­den Sie viel­leicht ein, Nicht­be­hin­de­rung sei doch aber die Norm und es sei doch bes­ser, nicht behin­dert zu sein, was Behin­der­te gewiss bestä­ti­gen wer­den. Doch da haben Sie die Rech­nung ohne den radi­ka­len Sozi­al­kon­struk­ti­vis­mus gemacht. Es gibt eine eige­ne aka­de­mi­sche Dis­zi­plin – scharf zu unter­schei­den von einer wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­plin – namens „Disa­bi­li­ty Stu­dies“, ana­log zu „Gen­der Stu­dies“, die davon aus­geht, dass Behin­de­rung sozi­al kon­stru­iert sei. Dem­nach wird etwa ein Mensch, der kei­ne Trep­pen stei­gen kann, nicht des­halb als behin­dert ange­se­hen, weil ihm etwas fehlt, son­dern weil es auf die­ser Welt Trep­pen gibt und das als nor­mal gilt. 

Totalitäre Tiefen unter liberaler Oberfläche

Es spricht über­haupt nichts dage­gen, Infra­struk­tur mög­lichst bar­rie­re­frei machen zu wol­len. Das ist ein nobles Ziel. Doch es spielt schon auch eine Rol­le, wie man das Pro­blem theo­re­ti­siert. Wenn näm­lich jeg­li­che kul­tu­rell geschaf­fe­ne Struk­tur, die irgend­je­man­den aus­schließt, als Akt der Dis­kri­mi­nie­rung inter­pre­tiert wird, muss jede kom­ple­xe­re Gesell­schaft als Höl­len­loch der Unter­drü­ckung und jede pro­duk­ti­ve Tätig­keit als Unrecht erschei­nen – und zur Abhil­fe jede Struk­tur ein­ge­eb­net wer­den. Dies lässt die Trag­wei­te der gesell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen erah­nen, auf die sämt­li­che post­mo­der­nis­ti­schen „Studies“-Fächer hin­agi­tie­ren. Das ist so irre, wie es klingt. Es ist eine Art reli­giö­ser Glau­be, in dem die Gestalt der zu schaf­fen­den unter­drü­ckungs­frei­en Gesell­schaft ähn­lich nebu­lös ist wie das Him­mel­reich im Chris­ten­tum. Dies aber mit dem fei­nen Unter­schied, dass Chris­ten nicht glau­ben, ihr Him­mel­reich her­bei­füh­ren zu kön­nen, indem sie mög­lichst gründ­lich die Struk­tu­ren der Gesell­schaft unter­gra­ben und es dem Prin­zip Hoff­nung über­las­sen, dass sich aus dem so ange­rich­te­ten Cha­os her­aus die erwar­te­te Uto­pie spon­tan von selbst formiere.

Die­ses Glau­bens­sys­tem, die soge­nann­te Woke­ness, hat ins­be­son­de­re seit etwa 2010 in rasan­ter Geschwin­dig­keit das öffent­li­che Leben in west­li­chen Gesell­schaf­ten durch­drun­gen. Im wei­tes­ten Sinn libe­ra­le Men­schen soll­ten sich dop­pelt von ihr ange­spro­chen – und abge­sto­ßen – füh­len, denn ihr Ver­hält­nis zum Libe­ra­lis­mus, auf des­sen Boden sie gedeiht, ist ein inni­ges, wenn auch ambi­va­len­tes. In ihrer Rein­form ist Woke­ness tota­li­tär, also der Inbe­griff des Il- und Anti­li­be­ra­len, und der Kampf gegen den Libe­ra­lis­mus ihr Pro­jekt. Doch gleich­zei­tig ist sie an der Ober­flä­che über­aus anschluss­fä­hig an ihn bezie­hungs­wei­se täuscht vor, es zu sein, je nach­dem, wie genau man hin­schaut und wie tief sie von den jewei­li­gen Akteu­ren bereits ver­in­ner­licht wurde.

Die­ses Dop­pel­ge­sicht der Woke­ness – libe­ral an der Ober­flä­che, tota­li­tär in der Tie­fe – spie­gelt sich dar­in, dass prak­tisch alle ihre tra­gen­den Begrif­fe zwei Bedeu­tun­gen haben: eine schein­li­be­ra­le und eine gnos­tisch-revo­lu­tio­nä­re. Die schein­li­be­ra­le dient als PR und Tro­ja­ni­sches Pferd, um die revo­lu­tio­nä­re in Köp­fe und Insti­tu­tio­nen ein­zu­füh­ren, wo sie dann sofort beginnt, ihre Ansprü­che auf radi­ka­le Trans­for­ma­ti­on gel­tend zu machen – immer so offen und nach­drück­lich, wie die Umstän­de es gera­de zulas­sen. So ent­ste­hen zugleich Alli­an­zen zwi­schen einem har­ten Kern von radi­ka­len Akti­vis­ten, der deut­lich Sek­ten­cha­rak­ter auf­weist, und drum­her­um einer grö­ße­ren Wol­ke von wohl­mei­nen­den mehr oder weni­ger Libe­ra­len, die an die ver­nünf­ti­ge­ren Les­ar­ten des woken Den­kens ando­cken, bie­der­män­nisch an der Annah­me fest­hal­ten, es gehe nur um die­se, und so unver­se­hens zur Tar­nung und Ver­brei­tung des zutiefst unver­nünf­ti­gen Kerns beitragen.

Hütchenspiele mit Antidiskriminierung und Queer Theory

Neh­men wir den Begriff „que­er“ als Bei­spiel. Die ein­gangs genann­te For­de­rung Sven Leh­manns ist Bestand­teil des kürz­lich im Namen der Bun­des­re­gie­rung vor­ge­stell­ten Akti­ons­plans „Que­er Leben“ für „Akzep­tanz und Schutz sexu­el­ler und geschlecht­li­cher Viel­falt“. Wie man bei der Lek­tü­re schnell erkennt, wird „que­er“ dar­in als Sam­mel­be­griff für Homo‑, Bi‑, Trans- und Inter­se­xua­li­tät gebraucht. So weit, so gut. Der ers­te Satz lau­tet: „Alle Men­schen sol­len gleich­be­rech­tigt, frei, sicher und selbst­be­stimmt an der Gesell­schaft teil­ha­ben.“ Dem wird jeder libe­ral Gesinn­te freu­dig zustim­men. Das Doku­ment prä­sen­tiert sei­ne For­de­run­gen durch­ge­hend als Maß­nah­men gegen Dis­kri­mi­nie­rung, wie das Wort­paar „Akzep­tanz und Schutz“ im Titel andeu­tet. Auch dage­gen kann man kaum etwas haben. Sich dem Anlie­gen der Anti­dis­kri­mi­nie­rung ent­ge­gen­zu­stel­len hie­ße nicht nur, sich den Prin­zi­pi­en der frei­heit­li­chen Demo­kra­tie ent­ge­gen­zu­stel­len, in deren Zen­trum die unan­tast­ba­re Wür­de des Indi­vi­du­ums steht, son­dern auch, grund­los grau­sam gegen ver­letz­li­che Min­der­hei­ten zu sein. Selbst­ver­ständ­lich will das niemand.

Doch „que­er“ hat eben auch jene tie­fe­re Bedeu­tung, und der Akti­ons­plan ver­sam­melt inso­fern eine gan­ze Her­de Tro­ja­ni­scher Pfer­de. Ihre DNA ist die soge­nann­te Que­er Theo­ry, deren pro­mi­nen­tes­te Ver­tre­te­rin Judith But­ler und deren fol­gen­rei­che Grund­the­se die ist, dass Geschlecht und Sexua­li­tät gänz­lich „sozi­al kon­stru­iert“ und die­se Kon­struk­tio­nen unter­drü­cke­risch seien.

Die tie­fe Bedeu­tung von „que­er“ taucht etwa auf dem „Regen­bo­gen­por­tal“ des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für alles außer Män­ner auf, wo es zum Glos­s­ar­ein­trag zu „Que­er“ heißt: „In Deutsch­land wird ‚que­er‘ […] auch als eigen­stän­di­ge Selbst­be­zeich­nung ver­wen­det, die die begren­zen­den Kate­go­rien ‚Homo-/he­te­ro­se­xu­ell‘, ‚männlich/weiblich‘, ‚Cis-/trans­ge­schlecht­lich‘ in Fra­ge stellt.“

Begren­zen­de“ Kate­go­rien. Das ist Que­er Theory. 

Chirurgische Befreiung aus begrenzenden Kategorien

Wei­ter: „Im aka­de­mi­schen Kon­text wur­de ‚que­er‘ in den 1990er-Jah­ren auf­ge­grif­fen, um gesell­schaft­li­che Nor­men zu Geschlecht und Begeh­ren zu untersuchen.“

Hier hat sich jemand eine Hand­voll Krei­de schme­cken las­sen – die­se Nor­men sol­len laut Que­er Theo­ry nicht nur unter­sucht, son­dern zer­stört wer­den, da sie eben als „begren­zend“ gel­ten und Befrei­ung das Ziel ist. Que­er Theo­ry ist, aus­ge­hend von Geschlecht und Sexua­li­tät, ein Kampf gegen sozia­le Kate­go­rien schlecht­hin. Ein wei­te­rer Hin­weis auf die­se Bedeu­tung im Zitat des „Regen­bo­gen­por­tals“ ist, dass auch „homo­se­xu­ell“ in der Auf­zäh­lung auf­taucht. Ist Homo­se­xua­li­tät denn nicht an sich bereits „que­er“? In der libe­ra­len, publi­kums­freund­li­chen Bedeu­tung von „que­er“ ja, in der tie­fen nicht. Dort wird auch die Homo­se­xua­li­tät zum Feind, sobald sie als Kate­go­rie gesell­schaft­lich nor­ma­li­siert ist. 

Wenn der Akti­ons­plan nun bei­spiels­wei­se „Auf­klä­rung an Schu­len und in der Jugend­ar­beit im Bereich LSBTIQ*“ for­dert, kann man sich aus­ma­len, wie die­ses harm­los klin­gen­de Anlie­gen sei­ne Bedeu­tung ver­än­dert, wenn die Umset­zung davon aus­geht, dass sämt­li­che Kin­der, die „nor­mal“ männ­lich oder weib­lich, homo- oder hete­ro­se­xu­ell sind, damit in „begren­zen­den“ sozi­al kon­stru­ier­ten Kate­go­rien gefan­gen sei­en und aus die­sen befreit wer­den müss­ten. Dann gilt es näm­lich, den sozia­len Zwän­gen, die den Kin­dern die­se Kate­go­rien auf­drü­cken, etwas ent­ge­gen­zu­set­zen, indem man ihnen aktiv „que­e­re“ Geschlechts­iden­ti­tä­ten nahe­bringt und die begren­zen­den her­kömm­li­chen madig macht. All­zu schwer ist das im heu­ti­gen kul­tu­rel­len Kli­ma nicht. Wer will sich schon dazu beken­nen, ein lang­wei­li­ger, pri­vi­le­gier­ter, kon­for­mis­ti­scher, zugleich unter­drück­ter und unter­drü­cke­ri­scher, im Worst Case auch noch männ­li­cher Cis-Hete­ro zu sein statt Teil des bun­ten Regen­bo­gens aus Lie­be, Viel­falt, Krea­ti­vi­tät und unbe­grenz­ten Mög­lich­kei­ten, dem klar die Zukunft gehört?

So ord­nen sich in den USA inzwi­schen 16 Pro­zent der um das Jahr 2000 her­um Gebo­re­nen als „LGBT“ ein, eine Ver­vier­fa­chung gegen­über den knapp 4 Pro­zent in der Gene­ra­ti­on X. Mehr als die Hälf­te davon neh­men das B für sich in Anspruch, bise­xu­ell, was man wohl nicht zuletzt als zeit­geis­tig-oppor­tu­nes und kos­ten­lo­ses Lip­pen­be­kennt­nis ver­bu­chen kann. Dra­ma­ti­scher ist der explo­si­ons­ar­ti­ge Anstieg der Zahl der Jugend­li­chen, weit über­wie­gend Mäd­chen, die sich für „trans“ erklä­ren und unter Zuhil­fe­nah­me von Puber­täts­blo­ckern, ste­ri­li­sie­ren­den Hor­mon­prä­pa­ra­ten, Ampu­ta­tio­nen und plas­ti­scher Chir­ur­gie zum ande­ren Geschlecht wech­seln wol­len; eben­so die der­je­ni­gen, die die­sen Weg beschrei­ten, das spä­ter bereu­en und im Rah­men eng begrenz­ter Mög­lich­kei­ten rück­gän­gig machen, wor­auf­hin sie von Trans­ak­ti­vis­ten, deren Gemein­schaft vor­mals eine solch unwi­der­steh­li­che Nest­wär­me gebo­ten hat­te, als Ket­zer und Ver­rä­ter ange­fein­det und aus­ge­sto­ßen werden.

Durch Herrschaftsakte zur herrschaftsfreien Gesellschaft

Wie fast alles in der Woke­ness beruht die Bot­schaft der begren­zen­den Zwei­ge­schlecht­lich­keit und des „Spek­trums“ an Geschlech­tern auf lin­gu­is­ti­schen Tricks. Man tut so, als wür­den die her­kömm­li­chen Kate­go­rien „männ­lich“ und „weib­lich“ impli­zie­ren, dass alle Jun­gen und Män­ner kli­schee­haf­te Kens und alle Mäd­chen und Frau­en kli­schee­haf­te Bar­bies sei­en. Von die­ser unsin­ni­gen Annah­me aus­ge­hend kann man dann mit vol­ler Berech­ti­gung sagen: Die­se Kate­go­rien sind zu eng. Von die­sen Kate­go­rien aus­ge­hend ist wirk­lich kaum jemand „binär“. Nur dass kein nor­ma­ler Mensch von die­sen Kate­go­rien aus­geht. Sie sind ein Stroh­mann (m/w/d), den die Woke­mon als Kon­trast benut­zen, um der Gesell­schaft ihre Leh­re als drin­gend benö­tig­te Lösung für ein Pro­blem zu ver­kau­fen, das es in der von ihnen behaup­te­ten Form und Grö­ßen­ord­nung gar nicht gibt.

Das umschreibt etwa den Mecha­nis­mus, mit dem Woke­ness immer arbeitet:

Ers­tens: Sug­ge­rie­ren, dass die west­lich-kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft ein Höl­len­loch der Unter­drü­ckung sei. „Bele­ge“ dafür fin­den sich immer, da es immer sozia­le Hier­ar­chien und unnö­ti­ges, unfai­res Leid gibt. Die Pseu­do­rea­li­tä­ten der Woke­ness bestehen immer aus einem Körn­chen Wahr­heit inmit­ten eines mas­si­ven, mehr schlecht als recht zusam­men­ge­klöp­pel­ten Appa­rats von Über­trei­bun­gen, unzu­läs­si­gen Schlüs­sen und Ver­all­ge­mei­ne­run­gen, selek­ti­ven Blind­hei­ten und oppor­tu­nen Erfin­dun­gen. Es ist wahr, dass es viel unnö­ti­ges Leid und Unge­rech­tig­keit gibt, und es gibt kaum ein noble­res Pro­jekt, als zu ver­su­chen, bei­de zurück­zu­drän­gen. Nicht wahr ist, dass geheim­nis­vol­le, ver­schwö­rungs­ähn­li­che „Sys­te­me der Unter­drü­ckung“ dafür ver­ant­wort­lich sei­en und dass Woke-Akti­vis­ten auch nur den blas­ses­ten Schim­mer haben, wie eine Gesell­schaft mit weni­ger Leid ver­wirk­licht wer­den und funk­tio­nie­ren könn­te – selbst wenn wir mal sehr naiv davon aus­ge­hen, dass der­art selbst­lo­ser Ein­satz für das Gute über­haupt ihre pri­mä­re Moti­va­ti­on ist.

Ihr wich­tigs­ter Trick, um kri­ti­schen Rück­fra­gen bezüg­lich Wahr­heit und Zweck­dien­lich­keit ihres Vor­trags aus dem Weg zu gehen, ist Emo­tio­na­li­sie­rung und Mora­li­sie­rung durch den Ver­weis auf Opfer. So ent­ste­hen sofort Sym­pa­thie, mora­li­scher Druck und Gegen­wind für jeden, der auf die Idee kom­men mag, zu widersprechen.

In ihrem Buch „Der Sozio­path von Neben­an“ iden­ti­fi­ziert die Psy­cho­lo­gin Mar­tha Stout Appel­le an das Mit­ge­fühl der Opfer als regel­mä­ßigs­tes Erken­nungs­zei­chen von Sozio­pa­then. Dies sind Per­so­nen, die auf psy­cho­lo­gi­sche Mani­pu­la­ti­on spe­zia­li­siert sind und wis­sen, was am bes­ten funk­tio­niert. Stouts Beob­ach­tung unter­mau­ern empi­ri­sche Stu­di­en, die eine Kor­re­la­ti­on zwi­schen der Nei­gung zu demons­tra­ti­vem Opfer­tum und der „dunk­len Tria­de“ der Per­sön­lich­keits­merk­ma­le zei­gen: Machia­vel­lis­mus, Nar­ziss­mus und Psy­cho­pa­thie. Wir sind uns alle dar­über einig, dass Mit­ge­fühl wert­voll und Auf­merk­sam­keit für Opfer wich­tig ist. Gera­de des­halb ist dies ein effek­ti­ver Angriffs­punkt für Mani­pu­la­ti­on und Missbrauch.

Zwei­tens: Sug­ge­rie­ren, die vom Wokis­mus beseel­ten Exper­ten und Akti­vis­ten kenn­ten den Weg, der aus die­sem Höl­len­loch hin­aus­führt. Durch ver­wor­re­ne aka­de­mi­sche Rhe­to­rik – Sophis­te­rei – erwe­cken sie den Ein­druck, tie­fe­ren Ein­blick in die genann­ten „Sys­te­me der Unter­drü­ckung“ zu haben, die für das all­ge­gen­wär­ti­ge Elend ver­ant­wort­lich sei­en, und ent­ge­hen zugleich der Ver­pflich­tung, kon­kre­te Bewei­se für ihre Behaup­tun­gen vor­zu­le­gen. Indem man „struk­tu­rel­ler Ras­sis­mus“ sagt, kann man alle sei­ne Mit­men­schen mora­lisch für Ras­sis­mus in Haf­tung neh­men, ohne ihnen den behaup­te­ten Ras­sis­mus auch nach­wei­sen zu müs­sen. Indem man „Patri­ar­chat“ sagt, kann man alle Män­ner … und so wei­ter. Indem sie sich also als ein­zig kom­pe­ten­te Exor­zis­ten posi­tio­nie­ren, die das Böse (Unter­drü­ckung) aus der Gesell­schaft aus­trei­ben kön­nen, for­dern sie Auto­ri­tät, Macht und Mit­tel für sich.

Drit­tens: Auto­ri­tät, Macht und Mit­tel nut­zen, um die Gesell­schaft wei­ter zu woki­fi­zie­ren. Flucht­punkt der Woke­ness ist para­do­xer­wei­se eine tota­le Durch­herr­schung der Gesell­schaft mit dem Ziel, Herr­schaft abzu­schaf­fen. Sie lässt sich inso­fern als Auto­im­mun­erkran­kung des Libe­ra­lis­mus anse­hen, da sie aus­ge­hend von dem – rich­ti­gen – Befund, dass die Frei­heit in die­ser Gesell­schaft nicht abso­lut ist, über­all da mit Herr­schafts­ak­ten kor­ri­gie­rend ein­grei­fen will, wo jeman­des Frei­heit durch Unter­drü­ckung beschränkt scheint. So lässt sie letzt­lich über­haupt kei­ne Frei­heit mehr übrig. Ange­trie­ben von einem Gefühl, über­mä­ßig ein­ge­schränkt zu sein, unter­gräbt sie die Insti­tu­tio­nen, die sich über Jahr­zehn­te und Jahr­hun­der­te her­aus­ge­bil­det haben, um unter Real­be­din­gun­gen ein Maxi­mum rela­ti­ver Frei­heit zu ermög­li­chen, in der – fal­schen – Annah­me, damit den Weg zur abso­lu­ten Frei­heit zu ebnen. Logik und Geschich­te zei­gen, wohin die­ser Weg aber tat­säch­lich füh­ren muss: zu unge­zü­gel­te­ren, gna­den­lo­se­ren, tota­le­ren For­men von Herrschaft.

Der große Sprung in den Glauben

Wer „Durch­herr­schung“ für einen zu star­ken Begriff hält, möge sich klar­ma­chen, dass die gedan­ken­re­for­me­ri­schen For­de­run­gen der Woke­ness durch­aus auch mit der har­ten Hand des Geset­zes durch­ge­setzt wer­den, sobald die betref­fen­den Akteu­re die Macht dazu haben. In der woke­ness­ty­pi­schen Rea­li­täts­um­kehr ist es etwa heu­te schon als ver­such­te „Kon­ver­si­ons­the­ra­pie“ ver­bo­ten, einem jun­gen Men­schen die Mög­lich­keit nahe­zu­brin­gen, dass er gar nicht „trans“ ist und sein Unwohl­sein viel­leicht ande­re Grün­de hat und sich anders behe­ben lässt als durch schwer­wie­gen­de, irrever­si­ble medi­zi­ni­sche Ein­grif­fe mit hohen Kom­pli­ka­ti­ons­ra­ten. Der Akti­ons­plan „Que­er Leben“ regt an, auch Eltern sol­che Gesprä­che mit ihren Kin­dern zu ver­bie­ten, für die bis­lang noch eine Aus­nah­me gilt. Ja – so weit kann man das Kon­zept der Anti­dis­kri­mi­nie­rung deh­nen, um den Libe­ra­lis­mus mit sei­nen eige­nen Mit­teln zu schlagen.

Was das alles am Ende soll, erklärt sich viel­leicht am bes­ten anhand der mar­xis­ti­schen DNA, die das Gan­ze durch­zieht. Marx mein­te, auf den Sturz des Kapi­ta­lis­mus fol­ge die Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats, die spä­ter wie­der­um durch irgend­ei­nen mys­te­riö­sen Zau­ber, des­sen Funk­ti­ons­wei­se er nie ent­hüllt hat, in die herr­schafts­freie Gesell­schaft über­ge­he, den Kom­mu­nis­mus. Ähn­lich ist die Logik hier, nur dass Marx pri­mär am Eigen­tum der Pro­duk­ti­ons­mit­tel ansetz­te, wäh­rend die Woke­ness post­mo­der­nis­tisch Spra­che, Den­ken und Wis­sen als maß­geb­li­che gesell­schafts­prä­gen­de Kräf­te sieht. Der zugrun­de­lie­gen­de Erlö­sungs­glau­be ist aber im Wesent­li­chen der glei­che: Es wird irgend­wie funk­tio­nie­ren, wenn alle es wol­len und dar­an glau­ben. Das poli­tisch kor­rek­te Durch­herr­schen der Gesell­schaft ent­spricht der Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats. Wenn die­ses eine Wei­le geherrscht hat und dadurch alle hin­rei­chend umer­zo­gen bezie­hungs­wei­se zum kri­ti­schen Bewusst­sein „erwacht“ sind, wer­den sie so leben wol­len und Herr­schaft wird nicht mehr nötig sein. Tota­le Herr­schaft schlägt dia­lek­tisch in ihr Gegen­teil um, Frei­heit von Herr­schaft. Viel­leicht klappt’s ja beim nächs­ten Mal.

Vom Abgrund zum Aufatmen

Die­se Kolum­ne wird ab sofort regel­mä­ßig ver­schie­de­ne Aspek­te der Woke­ness durch­leuch­ten, bes­ser ver­ständ­lich machen und ihre lin­gu­is­ti­schen Hüt­chen­spie­ler­tricks als das ent­lar­ven, was sie sind. Mei­ne Hoff­nung ist, dass es zugleich gelingt, ihr etwas Posi­ti­ves ent­ge­gen­zu­set­zen. Denn sie zeich­net ein raben­schwar­zes Bild des Men­schen und der Gesell­schaft. Man starrt in Abgrün­de, wenn man sich mit ihr beschäf­tigt oder gar in ihr lebt, und ent­spre­chend erleich­tert atmet man auf, wenn man sich dar­an erin­nert, dass die­ses Bild eine Kari­ka­tur der Rea­li­tät ist. Die Kon­fron­ta­ti­on mit den Abgrün­den ist nötig, aber auch das Auf­at­men ist wichtig.

Die Theo­rie der Woke­ness ist falsch, aber sie ist dar­über hin­aus auch eine Ver­leum­dung. Pri­mär eine Ver­leum­dung der west­li­chen Welt, aber auch eine Ver­leum­dung des Men­schen über­haupt. Woke­ness ist eine Miss­brauchs­be­zie­hung, in der man es dem ande­ren nie recht machen kann und sich so an den Miss­brauch gewöhnt, dass man schließ­lich selbst dar­an teil­nimmt, weil man gar kei­ne ande­re Art mehr kennt, sich selbst zu reflek­tie­ren. Es gilt, sich aus die­ser Miss­brauchs­be­zie­hung zu befrei­en und die Ver­leum­dung zurück­zu­wei­sen. Es gilt, letzt­lich, in unse­rer Kul­tur und uns selbst etwas wie­der­zu­ent­de­cken und mit neu­em Leben zu erfül­len, das wir lie­ben und wor­an wir glau­ben kön­nen. Und soll­te doch alles ver­lo­ren sein, ist dies viel­leicht sogar umso wichtiger.

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