Anknüpfend an den vorangehenden Artikel über die Wahrnehmung ideologischer Gegner als böse gehe ich hier anhand von Beispielen auf eine Variante des Mythos des reinen Bösen ein, die uns im Internetzeitalter häufig begegnet. Ich bezeichne sie als »Wilde Horden«. Diese treten in Erzählungen auf, die besagen, dass da draußen bzw. im Internet eine wilde Horde ihr Unwesen treibe, die der Leser/Zuhörer fürchten und hassen soll. Solche Erzählungen haben die Funktion, ein Moralsystem zu reproduzieren und die Polarität von Gut und Böse zu schärfen, was die eigene Seite entsprechend heller als gut erstrahlen lässt. Wilde Horden sind ein dankbares Ziel für Projektionen des Bösen, weil sie furchteinflößend und zugleich anonym und nicht greifbar sind. Will man konkrete Personen beschuldigen, braucht man Beweise und muss sich der Verteidigung der Beschuldigten stellen. Wilde Horden hingegen können sich nicht und kann man nicht verteidigen. Wilde-Horden-Erzählungen stabilisieren moralische Gemeinschaften, doch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zerstören sie Vertrauen.
Bevor ich zu den Beispielen komme, fasse ich noch einmal kurz zusammen, worum es beim Mythos des reinen Bösen geht.
In aller Regel sehen Menschen ihr eigenes Handeln nicht als böse an, sondern als gut oder zumindest gerechtfertigt. Dies muss man wissen, wenn man die Motivation von Handelnden/Tätern verstehen will, und dieses Verständnis wiederum ist nötig, wenn man wissen will, wie das Böse in die Welt kommt.
Erschwert wird es durch unsere allgemeine Neigung, Übeltäter als bösartig wahrzunehmen. Wir treffen reflexhaft die Annahme, dass es ihre Absicht sei, zu schädigen, zu verletzen und Chaos zu stiften, weil sie daran Befriedigung fänden. So entsteht der »Mythos des reinen Bösen«, wie der Psychologe Roy Baumeister es genannt hat – eine Vorstellung, die wir uns vom Bösen bilden und in Erzählungen aller Art immer wieder abbilden, die aber mit der tatsächlichen Psychologie aggressiven oder anderweitig schädigenden Verhaltens wenig zu tun hat.
Der Kern dieser Vorstellung ist der Kurzschluss, »wer böse handelt, ist böse«. Er ist psychologisch vor allem deswegen attraktiv, weil er Klarheit schafft, sowohl hinsichtlich der Kausalität als auch hinsichtlich der Moral eines Ereignisses: Die Tat ist durch die bösen Absichten des Täters hinreichend erklärt und Gut und Böse sind sauber getrennt. Dies macht es leicht, zu urteilen und zu verurteilen.
Der Mythos des reinen Bösen ermöglicht es mir als Opfer oder Beobachter, jegliche Gemeinsamkeit zwischen mir und dem Täter abzustreiten, denn böse Motivationen wie die, die ich ihm zuschreibe, sind mir fremd. Ich bin fehlbar, aber ich will das Gute. Er will das Böse. Die kategorische Unterschiedlichkeit zwischen ihm und mir schützt und stärkt die Wahrnehmung meiner selbst als gut.
Die Wahrnehmungsgestalt des reinen Bösen in diesem Sinn stellt sich nicht nur bei Gewalttaten und gezielten Feindseligkeiten ein, sondern auch, wenn jemand die eigenen heiligen Werte verletzt. Heilige Werte binden Menschen zu kooperativen Gemeinschaften zusammen und funktionieren als verinnerlichter Kompass, der uns jederzeit fühlen lässt, was nach den Maßstäben unserer Gemeinschaft gut und was böse ist. Stellt sich jemand gegen unsere heiligen Werte, reagieren wir reflexhaft mit emotionaler Abwehr und nehmen den Ketzer oder Außenseiter als böse im obigen Sinn wahr.
Ein Problem ist das vor allem aus zwei Gründen. Erstens verstehen wir die wirkliche Motivation von Handelnden nicht, wenn wir uns mit dem Fantasiebild des reinen Bösen begnügen. Unsere Deutung des Geschehens ruht dann auf einer falschen Prämisse und ist von Grund auf irrational. Zweitens: Das Böse darf und muss mit allen Mitteln bekämpft werden. Die Deutung eines Gegners als bösartig ist eine bequeme Möglichkeit, uns selbst die Lizenz auszustellen, alle Mittel einzusetzen – auch solche, die aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachtes selbst bösartig erscheinen. Womit sich der Kreis dann schließt: Aufgrund unserer Gründe und Rechtfertigungen sehen wir das Böse nicht, wenn wir es selbst verkörpern.
»Rassistische Vernichtungsfantasien«
Am 29. Juli stieß ein Mann aus Eritrea einen 8‑jährigen Jungen im Frankfurter Hauptbahnhof vor einen einfahrenden Zug und nahm ihm damit das Leben. Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel kommentierte dies so:
Darauf kam aus der Twittersphäre unter anderem diese Antwort:
Der Account von »Stefan« wurde inzwischen gelöscht. Ich habe im Google-Cache noch Reste davon gefunden, die nicht besonders aussagekräftig sind. Er nutzte Twitter nur selten und nicht primär für politische Kommentare. Er hatte nur neun Follower. Immerhin erzielte sein »Volkstrecker«-Tweet 44 Likes, insofern ist er nicht ganz irrelevant, aber die Reste des Profils lassen keine rechtsextremen Tendenzen oder ähnliches erkennen.
Ein Aktivist aus dem linken Lager kommentierte Weidels Tweet mit »Stefans« Reaktion wiederum wie folgt. Angehängt war zusätzlich ein Ausschnitt der aktuellen Twitter-Trends.
Der Tweet beginnt mit einer nur vage umschriebenen Gruppe (»Rassisten«) und einer darauf bezogenen Aussage der Form »es geht denen nicht um …, sondern um …«. Eine mit Gewissheit vorgetragene, absolute Behauptung (»einzig und allein«) über Geisteshaltungen und Intentionen aller Individuen der zuvor vage umschriebenen Gruppe. Er glaubt sicher zu wissen, dass null positive menschliche Regungen in diesen »Rassisten« vorhanden sind.
Dieses häufig anzutreffende Muster ist ein starker Indikator dafür, dass es sich um Fantasie handelt. Wie sollte es möglich sein, eine so spezifische und sichere Aussage über psychische Zustände einer hohen Anzahl fremder Menschen zu treffen? Die empirische Basis fehlt und die Aussage ist nicht einmal in sich plausibel, wenn man es nüchtern betrachtet. Warum sollte eine Befürwortung der Todesstrafe oder Wut auf den Täter ausschließen, dass man trauert und Mitgefühl empfindet? Geht nicht beides schlüssig miteinander einher? Würde obiger Ankläger nicht selbst Wut auf einen rechten Mörder empfinden und dabei für sich in Anspruch nehmen, dass die Wut gerechtfertigt sei und dass er zugleich um das Opfer trauere?
Der Screenshot der Twitter-Trends ergibt durch die Nebeneinanderstellung von »Frankfurt«, »Afrikaner« und »Todesstrafe« rassistische, vielleicht sogar genozidale Assoziationen (Todesstrafe für Afrikaner?), aber dass dies gleichzeitige Trends sind, besagt natürlich nicht, dass die Wörter auch in denselben Tweets auftauchen und dort in dem hier suggerierten Zusammenhang stehen.
Dieser Link führt bei Twitter eine Suche nach Tweets vom 29. Juli durch, die das Wort »Todesstrafe« enthalten. Die überwältigende Mehrheit der Tweets bringt Empörung darüber zum Ausdruck, dass »Todesstrafe« trendet. Es ist praktisch immer so, wenn Leute sich über einen Twitter-Trend aufregen: Diese Leute werden schnell zur größten Kraft, die den Trend lebendig hält.
Die meisten Tweets sprechen sich gegen die Todesstrafe aus, manche mit, manche ohne Empörung. Ich musste ein bisschen suchen, um überhaupt einen Todesstrafenbefürworter zu finden. Solche Befürwortung ist allerdings noch nicht gleichbedeutend mit »Lynchgelüsten« und »Vernichtungsfantasien«.
Was ich nur ein einziges Mal gesehen habe – auf einem Screenshot, den Linke herumreichten –, ist ein Tweet, der sich für die Todesstrafe aussprach und dies in irgendeiner Form auf Ausländer bezog. In den anderen wenigen Fällen, in denen die Forderung nach der Todestrafe überhaupt erhoben wurde, begründete sie sich stets aus der Grausamkeit der Tat. Auch die Tweets von Alice Weidel und »Stefan« nehmen in keiner Weise auf die Herkunft oder Ethnizität des Täters Bezug.
Ich stieß also vereinzelt auf Zorn und Rachegelüste in Richtung eines Täters, der soeben grundlos und grausam ein Kind ermordet hat. Das scheint mir weder überraschend noch allzu erschreckend. Ich konnte nichts finden, was rassistischen Vernichtungsfantasien gleichen würde. Ziehen grausame Gewalttäter etwa keine Wut auf sich, wenn sie Landsleute sind? Doch, natürlich tun sie das.
Es gibt hier offenbar ein Bedürfnis, blutdürstige Nazihorden zu sehen, und selektive Wahrnehmung erledigt den Rest.
Die wilde Ur-Horde: Gamergate
Weil dies ein Phänomen ist, das einem regelmäßig begegnet, präge ich dafür den Begriff »Wilde Horden«. Es dürfte etwas sein, das in dieser Form erst im Internetzeitalter relevant geworden ist. Ich meine die Fälle, in denen ein Erzähler – meist ein Journalist, Politiker oder Aktivist – das Bild zeichnet, dass da draußen bzw. im Netz eine wilde Horde ihr Unwesen treibt; eine Horde von Individuen, die voller Hass sind und schädigen, zerstören, verletzen wollen. Meist bekommt der Zuhörer diese Horde nie zu Gesicht und der Erzähler liefert nur dünne oder überhaupt keine Beweise für ihre Existenz.
Der Mechanismus der Wilde-Horden-Erzählung ist mir zum ersten Mal und in besonderer Heftigkeit im Jahr 2014 im Zusammenhang mit »Gamergate« begegnet, einer Rebellion von Computerspielefans gegen den Versuch miteinander verbündeter Aktivisten und Journalisten, die Computerspiele-Subkultur und ‑Branche nach Maßgabe radikalprogessiver Identitätspolitik umzugestalten. Noch heute pflegen neulinke Aktivisten und Organisationen den Mythos, dass damals Horden von jungen Gamern im Internet Jagd auf Frauen und Minderheiten gemacht hätten und dass die Gamer-Kultur im Grunde eine frauenfeindliche und faschistische sei. Gamergate hat hier vielfach die Rolle eines Ur-Mythos angenommen, der diese Leute nicht loslässt; ich las sogar einmal, Gamergate hätte Trump ins Amt gebracht. Das ist eine Wahnvorstellung mit einem Körnchen Wahrheit: Gamergate war der erste größere und wirksame Widerstand gegen das Vordringen neulinker Identitätspolitik in der Kultur, und Trump ist ebenfalls unter anderem ein Widerstand dagegen; besser gesagt: Ausdruck eines gesellschaftlichen Widerstandes dagegen. Die Stärke und Beharrlichkeit dieses Widerstandes ist für die Identitätspolitiker eine traumatische Erfahrung, da es für sie zur sukzessiven Verwirklichung ihrer recht spezifischen theoretisch-ideologischen Vorstellungen keine akzeptable Alternative gibt.
Da ich seinerzeit noch recht stramm links war, neigte ich einerseits dazu, den linken Aktivisten und Medien zu glauben, die das behaupteten. Andererseits aber schien es mir unplausibel. Warum sollten Massen junger Männer auf Teufel komm raus »Frauen hassen«, und zwar so sehr, dass sie wochen- und monatelang aktiv Jagd auf sie machten? Männer mögen und lieben Frauen im Allgemeinen und hassen sie nicht, insbesondere junge Männer.
Zu meiner Skepsis trug auch bei, dass ich Computerspiele grundsätzlich mit Sympathie sah, auch wenn ich nie ein Hardcore-Gamer war. Ich kannte diese Kultur als zuweilen ruppig, aber auch als weltoffen und kreativ. Was Frauen betrifft, stellte es sich mir immer so dar, dass diese sich weit weniger für Computerspiele interessierten und männliche Gamer ihnen tendenziell als nerdig und unsexy galten. Deshalb war es für Letztere/uns immer ein Anlass zur Freude, wenn junge Frauen sich für Games interessierten. Ich kann verstehen, wenn es für Gamerinnen nervig ist, ständig bewundert, begafft und angebaggert zu werden, was geschieht, weil Frauen in dieser Szene einfach selten sind. Doch die Behauptung, dass Massen von Männern es sich vornehmen, die wenigen vorhandenen Frauen aktiv aus dem Gaming zu vertreiben, weil sie sie aus heiterem Himmel »hassen«, ergab vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen keinerlei Sinn.
Aber man las es ja überall, also musste doch etwas dran sein? Lauter renommierte Medien werden so etwas doch nicht erfinden? Ich war verunsichert und wollte Gewissheit. Ich fragte mich also, wie man die verfügbare Evidenz so auswerten könnte, dass das Ergebnis nicht nur anekdotisch wäre und dass man daraus schließen könnte, was für den ganzen Streit und die Gamergate-Bewegung wesentlich und zentral ist und was nicht.
Und das war gar nicht so schwer. Ich sah mir zum einen die Antworten auf die Tweets und Videos prominenter Feministinnen an, die harte Kritik an den Gamern übten und in den Medien als Opfer von massenhaften Drohungen und frauenverachtenden Beleidigungen herumgereicht wurden. Das Ergebnis entsprach dem der Suche nach »Todesstrafe« oben. Die überwältigende Mehrheit der Tweets enthielt vernünftige, begründete, mit normalem menschlichen Respekt vorgetragene Kritik, obwohl diese Akteurinnen hart austeilten. Einige enthielten flapsige Sprüche. Drohungen und vulgäre Inhalte bildeten allenfalls einen winzigen Bodensatz. Dahinter stand eindeutig keine Masse. Hier waren die wilden Horden nicht zu finden, von deren behauptetem Wüten die Medien voll waren.
Dies kann ich nach so langer Zeit nicht mehr empirisch beweisen, da viele der damals relevanten Posts und Accounts inzwischen nicht mehr existieren. Außerdem würde eine umfassende Darstellung und Beweisführung zu viel Raum beanspruchen. (Nachtrag: Eine Studie aus dem Jahr 2020 bestätigt anhand einer Stichprobe, was wir Beteiligte immer schon wussten: Gamergater waren nicht nur weiße Männer, sondern durchaus eine gemischte Gruppe, und eher links als rechts.) Ersatzweise biete ich ein anderes Beispiel an, das in viel kleinerem Maßstab eine ähnliche Gestalt aufweist.
Exkurs: Amnesty verkauft »Damsel in Distress«
Im Dezember 2018 veröffentlichte Amnesty International eine »Twitter-Studie«, die laut skandalisierender Überschrift die »schockierende Größenordnung der Angriffe [abuse] gegen Frauen im Internt« offenlege. Ich sah näher hin und fand heraus, dass etwa Journalistinnen und Politikerinnen laut dieser Studie weniger als zwei Prozent missbräuchliche Tweets erhielten. Das sind Berufsgruppen, deren Mitglieder eine überdurchschnittliche Reichweite haben und durch ihre öffentliche Funktion auf das gesellschaftliche Leben Einfluss nehmen, weshalb ihre Äußerungen zwangsläufig immer ein paar Leute verärgern werden. Selbst bei denen also, die am ehesten angefeindet werden, bleibt der Anteil missbräuchlicher Tweets unter zwei Prozent. Für den Durchschnitt der Frauen dürfte der Wert entsprechend kleiner sein.
Diese gute Nachricht, dass Online-Anfeindungen trotz Anonymität usw. selten sind, passt nicht zum von Amnesty gewünschten Schockfaktor. Vermutlich deshalb vermarktete die Organisation ihre Studie dann mit der nebulösen Metrik, dass »alle 30 Sekunden« eine Frau einen missbräuchlichen Tweet erhalte. Das ZDF schlug die Hacken zusammen und plapperte es nach. Die Vergleichsgröße, die nötig wäre, um eine besondere Betroffenheit von Frauen zu behaupten, nämlich, wie häufig Männer angegriffen werden, wurde erst gar nicht erhoben. (Laut einer geringfügig älteren Studie von Pew Research sind Männer von allen Online-Anfeindungen außer sexueller Belästigung und Stalking stärker betroffen als Frauen. Das entspricht den Verhältnissen bei der Gewaltkriminalität in der Offline-Welt.) Auch hier lösten sich die wilden Horden bei näherem Hinsehen also schnell in Luft auf.
Die Irren leiten die Anstalt
Zurück zu Gamergate. Neben den Accounts der Gamergate-GegnerInnen sah ich mir die Inhalte der YouTube- und Twitter-Accounts einiger Gamergater an, die innerhalb der Bewegung als Wort- und Meinungsführer fungierten. Deren Follower- und Abonnentenzahlen sowie die Likes ihrer Inhalte schienen mir brauchbare Indikatoren dafür zu sein, dass ihre Standpunkte zumindest annähernd die Standpunkte der Gamergate-Bewegung wiedergaben. Ich wunderte mich, dass kaum ein Journalist auf die Idee kam, sich auf diese Weise systematisch ein Bild davon zu machen, worum es ging.
Bei keinem dieser Wort- und Meinungsführer war je zu hören, dass Frauen, ethnische Minderheiten oder sonst jemand nichts im Gaming zu suchen hätte. Nicht mal ein bisschen. Vielmehr ging es darum, dass eine korrupt agierende Kabale von radikalprogressiven Aktivisten und Journalisten darauf drängte, die Computerspiele-Subkultur auf eine ideologische Linie mit dem intersektionalen Feminismus zu bringen. Das Druckmittel dazu war wie üblich das Anschwärzen dieser Community als sexistisch, rassistisch, homophob etc. Dagegen wehrte sich diese. Ähnliches vollzieht sich gegenwärtig im Zusammenhang mit Hollywood-Produktionen (Ghostbusters 2016, Star Wars, Terminator 6, Captain Marvel, Female Thor …), mit dem Unterschied, dass hier wohl nicht in erster Linie die Medien die treibende Kraft der forcierten Politisierung sind, sondern die Kreativen selbst.
Wenn die Fans als Rassisten und Frauenhasser beschimpft werden, ist man versucht, von Lügen in den Medien zu sprechen. Doch wahrscheinlich sind es genaugenommen keine Lügen, da in der Wahrnehmung von Aktivisten die Ablehnung radikalprogressiver Ideologie tatsächlich gleichbedeutend mit »Frauen hassen« und Kritik an den Vertreterinnen dieser Ideologie »Hass« ist. Dies wäre ein Ausdruck der Wahrnehmung ideologischer Gegner als böse, wie sie hier Thema ist. Diese Wahrnehmung ist dann so zwingend, dass man als Journalist etwa die schwerwiegende Anschuldigung massenhafter Morddrohungen ungeprüft durchreicht und die Behauptungen einer interessierten Streitpartei ebenso ungeprüft als pure Wahrheit akzeptiert. Beides ist psychologisch dann und nur dann plausibel, wenn man im Bann einer Ideologie steht, denn dann weiß man von vornherein, wo Gut und Böse stehen, und ein Prüfung der Guten auf womöglich Böses und umgekehrt sind unnötig, verbieten sich sogar aus moralischen Gründen.
Dass praktisch alle großen Medien die Wilde-Horden-Erzählung verbreiteten, dabei auf Evidenz verzichteten und durch keine Gegenevidenz davon abzubringen waren, jagte mir einen tiefen Schrecken ein und veränderte meinen Blick auf die Welt für immer. Es wäre mir fast lieber gewesen, dass es mir gelungen wäre, diese wilden Horden aufzufinden, weil das den Schock und meine Entfremdung von der veröffentlichten Meinung verhindert hätte. Aber ich fand sie nicht, und nichts hat mein Vertrauen in die Medien derart schwinden lassen wie diese zutiefst beunruhigende Erfahrung einer medialen Massenhysterie und ‑halluzination.
Seitdem glaube ich nicht mehr ohne Beweise an wilde Horden welcher Art auch immer. Jeder, der mich dazu auffordert, bestimmte Personen oder Gruppen zu hassen, soll sich zum Teufel scheren, wenn er seine Vorwürfe gegen diese Personen oder Gruppen nicht konkretisieren und beweisen kann.
Moralpsychologische Funktionen der Wilde-Horden-Erzählung
Die gesellschaftlichen Folgen des moralischen Wirtschaftens mit Wilde-Horden-Erzählungen sind nicht zu unterschätzen. Es macht einen großen Unterschied, ob es da draußen eine Generation von jungen Männern gibt, die »Frauen hassen« und sie aktiv aus dem Internet vertreiben wollen, oder ob es sie nicht gibt. Gleiches gilt für »Rassisten« mit »Vernichtungsfantasien«. Es macht einen Unterschied für unsere Vorstellung von der Welt, für unsere Vorstellung von der aktuellen gesellschaftlichen Situation und sogar für unser allgemeines Menschenbild. Damit ist nicht zu spaßen. Man streut auch nicht leichtfertig in der Nachbarschaft das Gerücht, dass ein Mörder im Haus wohne.
Doch der Glaube an die eine oder andere wilde Horde stiftet Sinn und Gemeinschaft. Er hat eine soziale und psychische Funktion. Es wird nicht wirklich eine Frau gerettet, wenn Spider-Man im Kino seine Mary Jane aus der Bredouille holt, aber es ist erbaulich, ihm dabei zuzuschauen und sich mit ihm zu identifizieren. Ähnlich ist es, wenn Medienerzeugnisse oder Amnesty International ausreiten, um Frauen im Internet vor Monstern zu retten. Es werden dadurch nicht wirklich Frauen vor irgendwas gerettet, aber die Medien bekommen Klicks, Amnesty et al. bekommen Spenden und die Klicker und Spender können sich ein bisschen tugendhaft fühlen. So haben alle, was sie wollten. Dass dabei soziales Vertrauen zerstört wird, ist eine Externalität, wie das Abwasser einer Fabrik.
Die wilden Horden manifestieren den Mythos des reinen Bösen. Sie bieten die Möglichkeit, einen Schurken in die Erzählung einzuführen, ohne tatsächlich jemanden konkret zu beschuldigen, wofür man letztlich ja dann doch Beweise bräuchte. Indem ich sie verdamme, indem ich sie hasse, indem ich ihre Vernichtung fordere, demonstriere ich meine Tugend und verorte mich fest auf der Seite des Guten, auch in meinen eigenen Augen. Indem Manifestationen des reinen Bösen zeigen, wo das Böse ist, zeigen sie auch, wo das Gute ist, und wir brauchen beides zur Orientierung und zur Gruppenbildung auf Basis sozialer Normen.
Zwei Schlussbemerkungen
Dass Mythen des Bösen eine sinn- und gemeinschaftsstiftende Funktion haben, bedeutet nicht, dass wir uns der Irrationalität und Feindseligkeit ausliefern müssten, die sie säen. Aber das Böse einfach zu leugnen ist auch nicht die Lösung – es gibt das Böse. Es gibt auch Mobs im Internet und anderswo. Vonnöten ist vielmehr ein reflektiertes Verständnis vom Bösen, eine Philosophie des Bösen. Zu einer solchen versuche ich hiermit beizutragen, wobei natürlich noch viel mehr dazu zu sagen wäre.
Bezüglich der politischen Rechts-Links-Polarität schrieb ich im letzten Artikel, dass die Wahrnehmung des Gegners als böse in beiden Richtungen geschehe. Dass Beispiele linker Wahrnehmung der Rechten als böse leichter zur Hand sind, führte ich darauf zurück, dass in unserem öffentlichen Leben ganz allgemein linke Wortmeldungen leichter zur Hand sind.
Aber wahrscheinlich ist es nicht nur das. Ich neige jetzt zu der Annahme, dass Linke tatsächlich eher Rechte als bösartig wahrnehmen als umgekehrt. Das würde zu dieser Beobachtung von Thomas Sowell passen:
Man denke zur Illustration etwa an das unter Rechten geläufige Wort »Gutmensch«. Wer es gebraucht, geht davon aus, dass die damit Bezeichneten im Grunde gut sein wollen und sich für gut halten. Genau das gestehen Linke Rechten eher nicht zu. Sie nehmen vielmehr an, Letztere hätten von Grund auf böse Absichten und würden lügen und täuschen, sofern sie gute Absichten behaupteten.
In der Moralpsychologie von Jonathan Haidt und aus anderen Quellen gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Rechte besser verstehen, wie Linke denken, als umgekehrt. Das dürfte die Erklärung dafür sein, dass Linke ihre Gegner eher als Manifestation des reinen Bösen wahrnehmen – eine Wahrnehmung, die ja stets mit mangelndem Verständnis der tatsächlichen Motive des Handelnden einhergeht.
Ein Text über diese moralpsychologischen Unterschiede zwischen Rechten und Linken steht sowieso ganz oben auf meiner Liste und folgt als nächstes.
Ich erlebe dieses .… Erfinden (?) von Hass oft auf twitter oder facebook.
Man liest irgendeinen (kontroversen) Post und drunter findet man dann Kommentare wie »Die Kommentare sind wieder unter aller Sau«, »In den Kommentaren zeigt sich wieder der Alltagsrassismus der Deutschen.« oder der Allzeitklassiker »Die Kommentare zeigen mir, wie Recht der OP mit seiner Meinung hat.
Geht man dann durch die Kommentare, findet man weit überwiegend erregte Statements über den unsäglichen Hass der anderen Kommentatoren. Allein den Hass findet man nicht, oder nur vereinzelt. Vielleicht wurde er gelöscht. Ich weiss es oft natürlich nicht, aber das Ratio echter Hassreden zu Empörung darüber ist vermutlich im Bereich 1:10.
Was man hingegen eher findet ist sachliche, vielleicht pointierte Kritik am Originalposting. Aber wer weiss, vielleicht entledigt man sich der sachlichen Auseinandersetzung am elegantesten, wenn man Gegner des Hassens und des Hetzens bezichtigt.
»Man denke zur Illustration etwa an das unter Rechten geläufige Wort »Gutmensch«. Wer es gebraucht, geht davon aus, dass die damit Bezeichneten im Grunde gut sein wollen und sich für gut halten. Genau das gestehen Linke Rechten eher nicht zu. Sie nehmen vielmehr an, Letztere hätten von Grund auf böse Absichten und würden lügen und täuschen, sofern sie gute Absichten behaupteten.«
Es besteht hier eine gewisse Logik, wenn man von einem linken Weltbild mit dem Nazi als »Reinform« rechter Ideologie ausgeht. Links ist (darf) an ihm nichts sein, der Sozialismusanteil ist hier nur ein Trick, und wenn sie das faken können, dann natürlich auch alles andere.
Rechte dagegen sind sich nach meinem Eindruck eher nicht so einig in ihrem Markieren des politischen Gegners als totalitär. Sind die schlimmsten Linken jetzt Kommunisten, Sozialisten, Stalinisten, (Öko-)Faschisten oder gar die wahren Nazis?