Dieser Text ist ursprünglich bei »Der Sandwirt« erschienen.
Manchmal durchweht ein Hauch von DDR die Filmbewertungsportale im Internet. Die aktuelle Realfilm-Neufassung von Disneys Klassiker „Arielle, die Meerjungfrau“ erreichte bei Rotten Tomatoes nach ihrem Kinostart am 26. Mai in der Publikumsbewertung sagenhafte 95 Prozent Zustimmung. Das war unerwartet, denn der Film war bereits seit Monaten ein Zankapfel im Kulturkampf gewesen. Dies hatte sich etwa in einer desaströsen „Ratio“ seiner Vorschau auf YouTube geäußert, also einem vielfachen Überwiegen der Klicks auf „Daumen runter“. Ähnlich war es letzten Sommer den Ankündigungen von „Die Ringe der Macht“ ergangen, der „Herr der Ringe“-Adaption von Amazon. Im Herbst erwies sich dann die unzufriedene YouTube-Öffentlichkeit als verlässliches Omen – die exorbitant teure erste Staffel der Serie floppte. Ihre Publikumsbewertung bei Rotten Tomatoes landete bei 39 Prozent. Weit entfernt von 95.
Auch bei der Filmdatenbank IMDB bot sich ein fragwürdiges Bild. Die aggregierte Nutzerbewertung für „Arielle“ lag knapp oberhalb einer 7 von 10; ein gutes Ergebnis. Doch bei näherem Hinsehen stieß man auf einen Vermerk, dass aufgrund „ungewöhnlicher Bewertungsaktivität“ eine „alternative Gewichtungskalkulation“ zur Anwendung gekommen sei. Die ungewichtete Gesamtwertung bewegte sich demzufolge zwischen 4 und 5.
Wie üblich rechtfertigten branchennahe Medien das Herausfiltern schlechter Bewertungen, indem sie diese Rassisten zuschrieben. Demnach stößt sich die Öffentlichkeit an der schwarzen Schauspielerin Halle Bailey in der Hauptrolle. Sogar in der „Welt“ war kürzlich zu lesen, dass die Besetzung schwarzer Schauspieler „manchen zu weit“ gehe. Das wäre allerdings etwas Neues. Schwarze Schauspieler wie Will Smith, Zoe Saldaña und Denzel Washington sind hochdotierte Topstars. „Black Panther“ spielte 2018 mit schwarzem Ensemble und Regisseur mehr als 1,3 Milliarden US-Dollar ein, davon 700 Millionen in den USA. Aktuell räumt „Across the Spider-Verse“ an der Kinokasse ab und wird von Medien und Publikum gefeiert. Hauptfigur ist Miles Morales, ein schwarzer Spider-Man. Wenn Rassismus der Grund für den Arielle-Flop ist, schlägt dieser Rassismus merkwürdig selektiv zu.
Der Verdacht manipulativer Bewertungen muss realistischerweise beide Lager treffen. Disney investiert Hunderte Millionen Dollar in einen Film wie „Arielle“ und hat im Zweifel ein größeres Interesse an seiner öffentlichen Wahrnehmung als verstimmte Privatleute – und ganz andere Mittel, sie zu beeinflussen.
Disney in der Krise
So oder so: Disney ist nervös. Die Aktie ist im Tiefflug, dem Streamingdienst Disney+ laufen die Abonnenten davon, der einstige Goldesel „Krieg der Sterne“ hat im Verlauf der Disney-Trilogie kräftig Zuschauer verloren und sich erzählerisch in eine Sackgasse manövriert. Marvel Comics kann seit dem Höhe- und Endpunkt der Avengers-Phase im Jahr 2019 nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Das Pixar-Studio, das einst mit Hits wie „Findet Nemo“ und „Toy Story“ das Animationsgenre neu belebte, fiel 2022 mit „Lightyear“ auf die Nase und musste einen Flop eingestehen. Noch spektakulärer scheiterte im selben Jahr „Strange World“ – der Animationsfilm mit üppigen 180 Millionen US-Dollar Produktionsbudget spielte nur rund 70 Millionen ein. Vorstandschef Bob Iger hat Entlassungen angekündigt, um Geld zu sparen.
Am 3. Juni erschien im Wirtschaftsmagazin Fortune unter der Überschrift „Die Macht hat Lucasfilm verlassen“ eine ungewohnt schonungslose Bilanz der Pleiten und Verirrungen des „Krieg der Sterne“-Studios, das Disney dem Gründer George Lucas 2012 für rund vier Milliarden US-Dollar abgekauft hatte. „Im Zentrum des Chaos“ verortet der Verfasser dessen Chefin Kathleen Kennedy. Sie hat einmal Hits wie „E.T.“ und „Jurassic Park“ produziert. In den letzten Jahren fiel sie aber eher durch ihr energisches Bemühen auf, den Produktionen ihres Hauses den Geist des intersektionalen Feminismus einzuhauchen, der überall Unterdrückung sieht und dies zum Dreh- und Angelpunkt seines Weltbilds macht. Dabei liefert sie sich Schlammschlachten mit Jon Favreau, dem Schöpfer der Serie „The Mandalorian“, der eine traditionellere Vision von „Krieg der Sterne“ vertritt, und lässt sich in T‑Shirts mit der Aufschrift „The Force is Female“ ablichten, „Die Macht ist weiblich“. Diesem Motto entsprechend wurden die männlichen Helden der klassischen Trilogie in Kennedys Fortsetzungen erst zu Versagern reduziert und dann schnell und nachhaltig entsorgt. Das Leiden von Mark Hamill an dieser Behandlung seines Luke Skywalker ist in etlichen Videoaufnahmen dokumentiert.
Der nächste teure Reinfall, den Kennedy verantwortet, steht wahrscheinlich unmittelbar bevor. Der kommende fünfte Teil der „Indiana Jones“-Reihe stieß in der Voraufführung bei den Filmfestspielen in Cannes auf ein katastrophales Kritiker-Echo. Die aggregierte Bewertung auf Basis von 46 Rezensionen bei Rotten Tomatoes liegt bei miserablen 50 Prozent. Bei der BBC hieß es: „Ich weiß nicht, wie viele Fans Indiana Jones als gebrochenen, hilflosen alten Mann sehen wollen, der sich in der Ecke verkriecht, während seine herablassende Patentochter die Führung übernimmt, aber genau das wird uns hier geboten, und es ist genauso düster, wie es klingt.“
Ideologie trumpft Kunst
Dass so viele Hollywood-Produktionen in den letzten Jahren diese Muster aufweisen, ist kein Zufall. Nach Einschätzung von Hollywood-Insidern haben alle wesentlichen Studios inzwischen Diversity-Quoten für ihre Produktionen festgelegt. Ab 2024 werden Filme nicht mehr zu den Oscars zugelassen, wenn sie nicht die Diversity-Kriterien der Academy erfüllen. Dabei geht es hauptsächlich um die Beteiligung von Frauen, Nichtweißen und sexuellen Minderheiten auf allen Ebenen der Produktion sowie in den Stoffen selbst in bestimmtem Umfang. Doch der Geist, der dem Quotendenken zugrunde liegt, wirkt in Hollywood vielleicht noch stärker als die Quoten selbst.
Dies zeigt ein Artikel über „Hollywoods neue Regeln“, der Anfang 2022 bei The Free Press erschienen ist, dem Alternativmedium der ehemaligen New-York-Times-Redakteurin Bari Weiss. Grundlage dafür war eine Befragung von mehr als 25 Autoren, Regisseuren und Produzenten, die mehrheitlich anonym bleiben wollten. Das Stück berichtet von einem Klima der Angst, gegen die neue Orthodoxie zu verstoßen und gecancelt zu werden. In den Autorenteams kommt die Kreativität zum Erliegen. „Sie müssten verrückt sein, um beim Schreiben nicht ständig all diese Rassen- und Geschlechts- und Trans-Fragen im Bewusstsein zu haben“, erklärt ein Autor. „Sie müssen sich Sorgen darüber machen, wie sich jeder Schritt auf Ihre Karriere auswirken wird.“
Deshalb hätten in Hollywood alle „ihre wahren Gefühle zur Verschlusssache gemacht“, meint der Autor und Regisseur Mike White. Das Arbeitsklima leide zusätzlich darunter, dass Serienverantwortliche nicht mehr selbst entscheiden könnten, wen sie beschäftigen. Mehrere ähnlich lautende E‑Mail-Absagen werden zitiert; davon eine: „Wie wichtig ist es dir, ihn zu engagieren? Intern gefällt manchen die Idee nicht, einen weißen Typen anzuheuern. Ich wünschte, hätte eine bessere Art, das zu framen. Hasse diesen Scheiß.“
Manche treten in dieser Situation eine Flucht nach vorn an: „Am besten verteidigt man sich gegen die Woken, indem man woker ist als alle anderen, einschließlich der Woken selbst“, so ein Autor. Das erklärt einiges. 2021 stellte der Regisseur Quentin Tarantino in der Latenight-Show von Bill Maher fest: „Vor allem seit dem letzten Jahr ist Ideologie wichtiger als Kunst. Ideologie trumpft Kunst. Ideologie trumpft individuelle Leistung. Ideologie trumpft gut.“
Der neue Wohltäter-Kapitalismus
„Sie müssen Verhalten erzwingen“, sagt Larry Fink, Chef der weltgrößten Vermögensverwaltungsgesellschaft Blackrock. Die Szene spielt auf der jährlichen Dealbook-Konferenz der New York Times im Jahr 2017. Der Moderator hatte Fink darauf angesprochen, dass sein Unternehmen „Diversität“ als Kriterium für Investitionsentscheidungen heranziehe. Wenn intern Mitarbeiter ihre Diversity-Ziele nicht erreichten, so Fink, könne sich das auf ihre Vergütung auswirken, und nach außen hin „machen wir das Gleiche“. Die Leute müssten es spüren, wenn sie hinter den Erwartungen zurückblieben. Er wiederholt mit Nachdruck: „Sie müssen Verhalten erzwingen.“ Blackrock wirtschaftet mit Anlegergeldern in Höhe von mehr als 10 Billionen US-Dollar und ist größter Einzelaktionär vieler Aktiengesellschaften, darunter Disney.
Neben Klaus Schwab, dem Gründer und Chef des Weltwirtschaftsforums, ist Fink der wohl prominenteste Vertreter der Bewegung, die hinter dem Kürzel „ESG“ steckt. Es steht für „Environmental, Social and Governance“ – Umwelt, Soziales und Unternehmensführung – und ist ein Schema zur Bewertung des Handelns von Unternehmen in diesen drei Bereichen. Diese Bewertungen sind zunächst im Zusammenhang mit Geldanlagen relevant. Eine ESG-Investition ist eine Anlage in ausgesuchte Unternehmen, die als umweltfreundlich und sozial gelten.
Die Förderung solcher Unternehmen durch ESG soll eine neue Art von Kapitalismus entstehen lassen, den „Stakeholder-Kapitalismus“, dem Klaus Schwab zuletzt ein ganzes Buch gewidmet hat. Er soll Firmen als rundum positiv wirkende gesellschaftliche Kräfte aufstellen, in bewusster Abgrenzung zum Shareholder-Kapitalismus, in dem sie allein den Eigentümern beziehungsweise Aktionären verpflichtet sind. Die „Stakeholder“ (etwa: Interessengruppen oder Teilhaber), denen diese sozial verantwortlichen Unternehmen dienen sollen, sind alle Gruppen, die irgendwie mit ihnen in Verbindung stehen – Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten und andere, bis hin zur Gesellschaft insgesamt.
Fürsprecher des Stakeholder-Kapitalismus beteuern, nach ESG-Prinzipien handelnde Unternehmen seien profitabler und würfen bessere Renditen für Investoren ab. Es ist kein Wunder, dass sie das behaupten, denn zum einen wollen sie ESG-Investitionen verkaufen, zum anderen gilt für Vorstände rechtlich immer noch die Treuepflicht gegenüber den Aktionären. Bewusst aufgrund politischer Präferenzen auf Profite zu verzichten, würde diese Treuepflicht verletzen. Doch wenn das Wirtschaften nach ESG-Richtlinien ohnehin profitabler ist, stellt sich die Frage, warum das natürliche Profitinteresse von Unternehmen nicht genügt, sie zu entsprechendem Verhalten zu motivieren.
Die Willkür der Fondsverwalter
Wenn Akteure wie Blackrock, Vanguard und State Street – die einflussreichsten Vermögensverwalter im ESG-Boot – Aussagen über aktuelle Marktentwicklungen treffen, ist nie ganz klar, ob es sich dabei um Beobachtungen oder Drohungen handelt. Larry Fink etwa schreibt jährlich einen offenen Brief an die Vorstandschefs der Unternehmen, an denen Blackrock beteiligt ist. Wenn er darin betont, dass Stakeholder-Kapitalismus und ESG immer wichtiger würden, werden sie mit sofortiger Wirkung tatsächlich wichtiger, denn wer von Blackrock gemieden wird, verliert Zugang zu Investorenkapital. Zieht ein Unternehmen nicht mit, kann es an gleich drei Fronten Schwierigkeiten bekommen: bei der Kreditaufnahme, am Aktienmarkt und im Aufsichtsrat. Dort sitzen Vertreter der Aktionäre, die umso mehr zu sagen haben, je größer ihre Anteile sind. Neben Disney gehören etwa auch Allianz, Bayer und E.on zu den Aktiengesellschaften, bei denen Blackrock das größte Aktienpaket besitzt. Vanguard ist die Nummer eins bei Alphabet (Google), Apple und Microsoft.
Wie qualifizieren sich Unternehmen nun für ESG-Investitionen? Hier herrscht weitgehend Willkür. Investoren weisen ESG-Punkte nach Gutdünken zu. Dabei stützen sie sich teils auf die Einschätzungen von Instituten, Agenturen und Lobbyorganisationen, teils auf die öffentlichen ESG-Berichte der Unternehmen selbst. Diese wiederum haben Narrenfreiheit bei der Erstellung ihrer Berichte. So entstehen Anreize für plakativen Aktionismus. Wenn Coca-Cola weiße Mitarbeiter in sogenannten Antirassismus-Schulungen auffordert, zu „versuchen, weniger weiß zu sein“, wie 2021 geschehen, kann der Getränkehersteller dies in seinem Bericht aufführen und mit entsprechenden ESG-Punkten für Diversität, Antirassismus, Inklusion und so weiter moralisch glänzen. Die Vermögensverwalter ihrerseits können Coca-Cola-Aktien mit moralischem Gütesiegel vermarkten. Für beide ein gutes Geschäft. Gleichzeitig entsteht ein ganz neuer Kuchen für die junge Milliardenbranche von Diversity-Beratern, die solche Trainings durchführen. Ob das Ganze gegen Rassismus hilft oder vielmehr das Gegenteil bewirkt, wie Studien nahelegen, steht auf einem anderen Blatt.
Dass die ESG-Bewegung in Deutschland öffentlich weniger Wellen schlägt, obwohl die europäische Wirtschaft sie bereitwilliger aufgenommen hat als die US-amerikanische, ist ebenfalls Folge besagter Willkür: Welche Faktoren überhaupt mit welcher Gewichtung in eine ESG-Bewertung einfließen, variiert je nach Region und Fondsmanager. Der „Social“-Bestandteil, so das Magazin Forbes, beinhaltet im Vereinigten Königreich etwa Investitionen in bezahlbare Wohnungen, in der Europäischen Union Aspekte wie Sklavenarbeit in der Lieferkette, in den USA vor allem Diversität und Inklusion.
Politik jenseits demokratischer Prozesse
Als Zweckehe zwischen Kapital und linkem Aktivismus beschreibt der Investor, Unternehmer und Bewerber um die republikanische Präsidentschaftskandidatur Vivek Ramaswamy den ESG-Trend in seinem Buch „Woke, Inc.: Inside Corporate America’s Social Justice Scam“. Ihm zufolge hat vor allem die Finanzkrise von 2008 die unwahrscheinlichen Partner zusammengeführt. Das Missmanagement der Banken und deren Rettung mit Steuergeld rissen den Kapitalismus in eine Vertrauenskrise. Die Protestbewegung „Occupy Wall Street“ stand vor den Toren und machte die Interessen der „99 Prozent“ geltend. Ein Bündnis mit der in Mode kommenden Identitätspolitik war der – auf kurze Sicht – perfekte Befreiungsschlag für das Kapital. Nun hieß es nicht mehr 99 Prozent gegen ein Prozent, sondern Frauen gegen Männer, Schwarze gegen Weiße, Schwule gegen Heteros und so weiter. Unternehmen konnten plötzlich Seit an Seit mit den Unterdrückten gegen Patriarchat, Rassismus und Heteronormativität kämpfen und sich so moralische Absolution verschaffen. Die Aktivisten profitierten, indem sie durch die Konzerne in ganz neuen Dimensionen gesellschaftlichen Einfluss erhielten.
Der woke Kapitalismus ist demnach semi-woke: Manche Akteure glauben an eine Weltverbesserung auf diesem Weg, manche profitieren schlicht davon, dass andere daran glauben. So oder so sieht Ramaswamy darin eine Bedrohung der Demokratie, da hier unter Umgehung öffentlicher Diskussion und demokratischer Institutionen Politik gemacht werde. Es handele sich um eine neue Form von Mauschelei zwischen US-Regierung und Wirtschaft, die es in anderen Formen seit jeher gebe. Die Konzerne hätten sich „speziell für die Demokraten einen neuen Trick ausgedacht: Sie stellen ihre Konzernmacht als Werkzeug zur Verfügung, um radikale Agenden umzusetzen, die die Demokraten nie durch den Kongress bekommen würden.“
Diese Einschätzung fand 2019 auf der Wirtschaftskonferenz Business for Social Responsibility offenherzige Bestätigung. Beth Brooke-Marciniak, umtriebige Geschäftsfrau mit aktivistischen Ambitionen und zuletzt bei der Unternehmensberatung EY als globale Vizevorsitzende des Bereichs Public Policy für mehr als 150 Länder zuständig, sprach über die Organisation „Partnership for Global LGBTIQ+ Equality“ oder kurz PGLE. Dies ist ein Zusammenschluss von Unternehmen, der zusammen mit dem Weltwirtschaftsforum und den Vereinten Nationen Kriterien für die “Inklusion” sexueller und geschlechtlicher Minderheiten trommelt, an der sich der „Social“-Faktor von ESG bemessen lässt. PGLE hat sich offiziell Anfang 2019 gegründet, doch die Hauptakteure waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit ein paar Jahren aktiv. Mit Blick auf die Anfänge erzählt Brooke-Marciniak: „Vize-Präsident Biden traf sich privat mit denen von uns, die hinter den Kulissen arbeiteten. Er setzte sich mit uns hin, blickte uns in die Augen und sagte: ‚Ihr Unternehmen könnt umsetzen, was wir, die Regierung, nicht umsetzen können und werden. Ihr müsst in dieser Sache die Welt verändern.‘“
Anfang März 2023 verabschiedete der US-Kongress ein Gesetz, das Fondsmanagern verbieten sollte, Pensionsgelder nach ESG-Kriterien anzulegen. Es ging dabei um Vermögen von 150 Millionen US-Amerikanern in Höhe von 12 Billionen US-Dollar. Präsident Biden stoppte das Gesetz mit dem ersten Veto seiner Amtszeit.
Wenn die Stakeholder nicht mitspielen
ESG kann für Unternehmen zur gefährlichen Zwickmühle werden, wenn der Aktivismus, den Bewertungsagenturen und Investoren „erzwingen“ wollen, auf den Märkten nicht gut ankommt. Das bekommen derzeit mehrere US-Konzerne zu spüren. Einer davon ist Disney. Ein anderer der Brauereikonzern Anheuser-Busch.
Am 1. April veröffentlichte der quirlige und polarisierende Transgender-Influencer Dylan Mulvaney, der bereits das Weiße Haus besuchen durfte, für seine Millionen Follower ein folgenreiches Video. Darin präsentierte er eine Sonderanfertigung von Bierdosen der Marke Bud Light, die der Hersteller mit seinem Antlitz bedruckt hatte, um das erste Jubiläum seines Daseins als „Mädchen“ zu feiern. Das konservative Amerika explodierte. Der folgende Boykott traf den Hersteller samt Mutterkonzern Anheuser-Busch hart. Noch Mitte Mai lagen die Verkaufszahlen des meistgetrunkenen Bieres in den USA rund 30 Prozent unter denen des Vorjahres. Ende Mai hatte Anheuser-Busch 27 Milliarden US-Dollar an Börsenwert verloren.
Wirtschaftsmedien spekulieren, ob sich Bud Light wohl mit Blick auf seine ESG-Punkte zur Kooperation mit Mulvaney entschieden hatte. Dieser Verdacht erhärtete sich, als sich Anfang Mai die Human Rights Campaign zu Wort meldete, die Lobbyorganisation, die den Corporate Equality Index (CEI) führt. Dies ist eine Metrik zur Bewertung des „S“ in ESG, die unter anderem von der oben genannten PGLE-Initiative empfohlen wird. Das Problem: die Reaktion von Bud Light auf den Boykott. Nach ein paar Tagen Schockstarre hatte sich das Unternehmen vorsichtig von Mulvaney distanziert. Es sei ja nur eine isolierte Fotoaktion gewesen, keine Kampagne. Man habe nie beabsichtigt, Botschaften zu verbreiten, die die Menschen spalten. Ein weiteres Signal war die Freistellung zwei führender Marketingverantwortlicher von ihren Aufgaben.
Das ist keine Reaktion, die CEI-Punkte bringt. Die Human Rights Campaign erklärte öffentlich, dass der bislang perfekte CEI-Score von Bud Light für eine eventuelle Neubewertung vorläufig ausgesetzt werde, und gab dem Bierbrauer 90 Tage Zeit zur Stellungnahme. Ende Mai setzte Bud Light seinen Zickzackkurs fort und kündigte eine Spende in sechsstelliger Höhe an eine LGBTIQ+-Organisation an.
Für 2023 hat die Human Rights Campaign abermals die Anforderungen erhöht, die Unternehmen erfüllen müssen, um einen perfekten CEI-Score zu erhalten. Auf der Liste steht nun unter anderem die Abdeckung von medizinischen Transitionsbehandlungen wie Hormontherapien, ästhetischen Operationen und Pubertätsblockern durch die betriebliche Krankenversicherung.