Sollte der Begriff »Pseudo-Realität« in den allgemeinen Sprachgebrauch eingehen, ist zu erwarten, dass er bald von allen möglichen Gruppen gegen ihre jeweiligen Gegner verwendet werden wird, ähnlich wie es etwa mit »Fake News« geschieht. Das ist nicht zu vermeiden und zunächst mal auch legitim, auf Begriffe gibt es keine Monopole. Doch es ginge viel verloren, wenn »Pseudo-Realität« auf den vagen Gehalt »Falschinformation« oder »Auffassungen, die nicht ganz richtig sind« verwässert würde. Dafür hätte man keinen neuen Ausdruck gebraucht. Die Idee hinter »Pseudo-Realität« ist spezifischer und umfasst mehr.
Da ich das Konzept für zeitdiagnostisch wichtig halte, will ich in einer Reihe von Beiträgen, beginnend mit diesem, genauer herausarbeiten, wie man Realität und Pseudo-Realität bzw. eine Orientierung an der einen oder anderen theoretisch und praktisch unterscheidet, immer mit dem letztendlichen Ziel, Pseudo-Realität zu erkennen und trockenzulegen.
Zunächst einmal könnte man gegen die ganze Konzeption einwenden, dass jeder Mensch an Pseudo-Realitäten glaube. Jeder bildet sich Vorstellungen, die für ihn mehr oder weniger funktionieren, aber keine originalgetreuen Abbilder der Realität sind, sondern Lücken und Fantasieanteile enthalten. Wie weit unser normales Denken und Wahrnehmen von einer Erfassung objektiver Wirklichkeit entfernt ist, sieht man beispielsweise daran, wie spät in der Geschichte Wissenschaft entstanden und wie schwierig und unbequem der wissenschaftliche Prozess ist.
Normale menschliche Weltbilder haben mit Pseudo-Realitäten nicht nur gemein, dass sie fantasiegeladen und lückenhaft sind, sondern auch, dass ihre Fantasieanteile und Lücken mit psychischen Bedürfnissen korrespondieren. Sie sind so geformt, dass sie unser praktisches Handeln anleiten können und uns Vorstellungen liefern, in deren Licht wir uns selbst als gut und kompetent sehen können. Gemeinsame Vorstellungen und Glaubenssätze erfüllen außerdem wichtige Funktionen der Gruppenbildung. In der Regel ist der menschliche Wunsch, etwas über die Welt zu wissen, kein Selbstzweck. Vielmehr interessieren wir uns spezifisch für solches Wissen, das uns zu helfen scheint, in der Praxis erfolgreich zu existieren, ob es wahr ist oder nicht.
Wenn wir also alle die Realität verzerren, weil unsere Vorstellungen primär dazu da sind, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, muss man fragen, ob wir nicht alle Pseudo-Realisten sind. Die Antwort hängt natürlich davon ab, wie weit oder eng man den Begriff fasst. Doch wenn man ihn so weit fasst, dass die Antwort ja ist, gehen wichtige Unterscheidungen verloren. Im schlimmsten Fall rutscht man in einen Relativismus hinein, der dem postmodernistischen ähnelt und dem eigentlichen Anliegen des Begriffs der Pseudo-Realität direkt entgegengesetzt wäre.
Pauschal zu sagen, dass wir alle Pseudo-Realisten seien, würde den Begriff zur Nutzlosigkeit verwässern. Man kann es allerdings in dem Sinn sagen, in dem man auch sagen kann, dass wir alle geisteskrank seien. Wenn wir den Begriff im Einklang mit dem allgemeinen Sprachgebrauch verwenden, ist diese Aussage zurückzuweisen, und doch enthält sie ein Körnchen Wahrheit. Wir alle haben den einen oder anderen kleinen Knacks, der punktuelle Irrationalitäten und blinde Flecken erzeugt. Wo das der Fall ist, geht es nicht nur darum, dass wir etwas nicht wissen oder falsch informiert sind. Vielmehr wollen oder können wir in diesen Fällen etwas nicht akkurat erfassen, weil das weh täte und unsere Orientierung in der Welt destabilisieren würde. Wir leugnen ein Stück der Wirklichkeit, um die Stabilität unserer Psyche in einem bestimmten Zustand zu wahren und uns vor einem Hereinbrechen von Angst, Schmerz, Schuldgefühl, Scham, Desorientierung etc. zu schützen.
Im Normalfall, also wenn ein Mensch im Wesentlichen gesund ist, sind diese Realitätsverzerrungen keine dominante Kraft – obwohl sie durchaus beispielsweise zu Streit führen können. Vielleicht erscheint es dann jedem der Streitpartner offensichtlich, dass der andere in dem betreffenden Punkt irrational sei, und je angespannter es wird, desto weniger sind beide bereit, sich für die Sichtweise des Gegenübers zu öffnen, da dies erfordern würde, in einer ohnehin krisenhaften Situation eine weitere (vorübergehende) Destabilisierung der eigenen Orientierung bietenden Annahmen über sich und die Welt zuzulassen.
In solchen Situationen haben wir die Wahl, die Proto-Pseudo-Realität trockenzulegen, um die es gerade geht, oder sie zu nähren. Wir legen sie trocken, indem wir die Möglichkeit zulassen, dass wir uns irren, die entsprechenden Informationen an uns heranlassen und unser Bild von uns selbst und der Welt an der betreffenden Stelle korrigieren. Wir nähren sie, indem wir die Tür zuknallen, einen Schnaps trinken und uns sagen: »Mein Partner ist einfach ein Arschloch«, woraufhin wir im Selbstgespräch Beweise dafür aufhäufen, dass dies der Fall sei, während wir selbst unschuldig seien und ständig ungerecht behandelt würden. In ein paar Jahren kann dieses Reaktionsmuster mit oder ohne Unterstützung einiger Tausend Schnäpse zu einer Lebenslüge heranwachsen, die groß genug ist, um das Leben der Person zu dominieren und zu zerstören, und das der Angehörigen gleich mit. Zwischen Selbstwahrnehmung und Wirklichkeit klafft nun ein Abgrund, der Beobachter in erschrockenes Staunen versetzt, wann immer er sich in Worten oder Taten zeigt.
Bei der Frage, ob man sich in Realitäten oder Pseudo-Realitäten aufhält, ist also entscheidend, ob man sich der Wahrheit unterordnet. Wer dies tut, öffnet sich für die Wahrnehmung der Welt, wie sie wirklich ist, ob es seinen Wünschen entspricht oder nicht. Das kann auf vielerlei Art schmerzhaft und anstrengend sein, weshalb wir mehr oder weniger ständig in Versuchung sind, es zu vermeiden. Wo wir es vermeiden, ordnen wir nicht uns der Wahrheit unter, sondern die Wahrheit unseren Wünschen und Bedürfnissen. Ich nehme nur zur Kenntnis, was mir in den Kram passt, meinem Narzissmus schmeichelt etc. Alles andere blende ich aus. Ich brauche nun eine alternative Erzählung über die Wirklichkeit, in der das Ausgeblendete gar nicht oder in neuer Interpretation vorkommt. Diese Erzählung ist meine Pseudo-Realität. Sie trägt eine Tendenz zum Wachstum und zur Selbstverstärkung in sich, denn zum einen wirken ausgeblendete Realitäten, die relevant für mich sind, weiterhin auf mich ein und erzeugen so ständig einen Bedarf nach falschen Erklärungen für diese Wirkungen. Zum anderen erzeugt die Manipulation selbst neue Wirkungen, die ausgeblendet oder uminterpretiert werden müssen, etwa, wenn ich bei einer Lüge ertappt werde. Die Konfrontation mit demjenigen zu managen, der mich ertappt hat, erfordert von mir einen Ausbau meiner Pseudo-Realität, wenn ich sie nicht zusammenbrechen lassen will.
Von hier aus ist auch nicht schwer zu sehen, wie Missbrauchsverhalten und Gewalt ins Spiel kommen. Wir leben mit anderen Menschen zusammen. Diese Menschen leben in der Realität und erinnern uns damit an das, was wir ausblenden. Dies macht sie zu einer Bedrohung und in gewissem Maß zum Feind. Wenn wir unsere Pseudo-Realität im Zusammenleben mit anderen aufrechterhalten wollen, müssen wir sie manipulieren oder zwingen, sich daran anzupassen. Im Extremfall geht es so weit, dass störende Individuen und Gruppen ganz von der Bildfläche verschwinden müssen, damit die Pseudo-Realität weiter funktionieren kann.
Wird fortgesetzt
Im Artikel vom 26. März ist die Kommentarfunktion nicht aktiv.
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