Update Januar 2021: Inzwischen ist eine leicht überarbeitete Fassung dieses Beitrags zusammen mit neuen Texten zum Thema als Buch und E‑Book erschienen.
Viele von Ihnen werden auf das, was ich zu sagen habe, eine negative Reaktion im Bauch verspüren. Ihnen wird nicht gefallen, wie es klingt. Insbesondere wird Ihnen nicht gefallen, wie es klingt, wenn es von einem Weißen kommt. Dieses Gefühl der Ablehnung, dieses Gefühl der Empörung, dieses Gefühl des Ekels, dieses Gefühl von »Sam, was zum Teufel ist dein Problem? Warum redest du überhaupt über das Thema?« – dieses Gefühl ist kein Argument. Es ist keine Basis, oder sollte keine sein, um irgendeine Aussage über die Welt für wahr oder falsch zu halten. Ihre Fähigkeit, empört zu sein, ist nichts, was ich oder sonst jemand respektieren müsste. Ihre Fähigkeit, empört zu sein, ist nicht einmal etwas, das Sie respektieren sollten. Tatsächlich ist sie etwas, wovor Sie auf der Hut sein sollten, vielleicht mehr als vor jeder anderen Eigenschaft Ihres Geistes.
Sam Harris
Wir sehen zur Zeit wieder »zwei Filme auf einer Leinwand« (Scott Adams). Verschiedene Teile der Gesellschaft starren auf dieselben Ereignisse und sehen völlig unterschiedliche Dinge, und das glasklar. Vielen ist die Sichtweise der anderen nicht nur unverständlich, sondern unerträglich.
Die vielleicht beste Veranschaulichung dafür sind die verschiedenen Bedeutungen, die ein Satz wie »all lives matter« oder gar »white lives matter« annehmen kann. Für die einen sind das Selbstverständlichkeiten eines egalitären Humanismus, für die anderen rassistische Kampfparolen.
Dieser unchristlich lange Beitrag ist ein Versuch, den allgemeinen Aufruhr nach dem Tod von George Floyd zu interpretieren und in die kulturelle Landschaft der Gegenwart einzuordnen. Er gliedert sich grob in drei Hauptteile und ‑thesen:
1.) Das Ausbleiben der Gegenprobe – Antirassismus als Religion
In den Massenprotesten und der medialen Begleitmusik drückt sich ein religiöses Bedürfnis aus. Dies macht den Beteiligten rationale Recherche und Reflexion weitgehend unmöglich. Stattdessen bestimmt religiöser Furor das Bild. Das zugrundeliegende religiöse Bedürfnis muss man als tieferliegendes gesellschaftliches Problem ernstnehmen.
2.) Im Schatten guter Absichten
In den Massenprotesten und der medialen Begleitmusik gehen destruktive Bestrebungen eine Verbindung mit guten Absichten ein. Einzelne Teilnehmergruppen sind mehr von den einen, andere mehr von den anderen beseelt, und die destruktiven können leicht mit den guten Absichten verkleidet und verwechselt werden. Aufgrund der religiösen Aufladung des Themas sind die Massenmedien weitestgehend unfähig oder nicht willens, sich diesem Problem zu stellen.
3.) Wie der postmoderne Antirassismus spaltet und Rassismus fördert
Soweit der tonangebende Antirassismus postmodernistisch verfasst ist (»Critical Race Theory«), reduziert er Rassismus und ethnisch-kulturelle Konflikte nicht, sondern vermehrt sie, indem er 1. eine wesensmäßige und bis auf Weiteres unüberbrückbare Verschiedenheit und Trennung zwischen Weißen und Nichtweißen postuliert (woran es praktisch nichts ändert, dass er diese als »sozial konstruiert« ausgibt), 2. Weiße pauschal verurteilt und anfeindet, was selbst rassistisch ist und Trotz hervorrufen muss, umso mehr, da er zugleich explizit anstrebt, dass die Weißen sich ihres Weißseins stärker bewusst werden, und 3. Nichtweiße tendenziell entmündigt, indem er sie als den Weißen unterlegen und ihrer Fürsorge bedürftig charakterisiert. Zugrunde liegt dem eine aggressive politischen Variante des Postmodernismus, die den radikalen Zweifel der Vorväter ins Gegenteil verkehrt hat: sektiererische Gewissheit über die Richtigkeit des eigenen Weltbildes.
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