Zum ersten Mal sah ich David Lynchs Mulholland Drive vor bald 20 Jahren zusammen mit ein paar Freunden im Kino. Wir fanden den Film interessant, witzig und irgendwie hypnotisch, aber wir verstanden ihn nicht. Ich war bereit, mich einfach damit abzufinden. Einer meiner Freunde aber googelte in den nächsten Tagen herum und fand eine Interpretation, die zumindest den Großteil des Rätsels löste. Zuerst war ich misstrauisch. Das Ego hört nicht gern Lösungen für Probleme, die es selbst für unlösbar erklärt hatte. Aber es passte alles so gut zusammen, dass ich mich nicht lange dagegen wehren konnte, es zu akzeptieren. Nun begann ich mich zu fragen, warum ich nicht selbst darauf gekommen war. Wir beschlossen, den Kinobesuch zu wiederholen, und sahen nun tatsächlich alles in einem neuen Licht, so dass es endlich Sinn ergab. Danach stellte sich mir noch dringender die Frage, warum ich nicht selbst darauf gekommen war, denn es schien auf der Hand zu liegen.
Doch wir waren nicht die einzigen, die auf dem Schlauch standen, wie man schnell feststellt, wenn man sich über den Film umhört. Viele verstehen ihn nicht.
Ein faszinierendes Beispiel dafür ist der berühmte Filmkritiker Roger Ebert. Er jubelte, gab dem Film seine Höchstwertung und setzte ihn auf seine Liste »großartiger Filme«. Ohne ihn zu verstehen.
It tells the story of … well, there’s no way to finish that sentence.
Doch, das ist ganz einfach.
»Mulholland Drive« isn’t like »Memento,« where if you watch it closely enough, you can hope to explain the mystery. There is no explanation. There may not even be a mystery.
Doch, doch, doch.
Und dabei war er so nah dran:
There have been countless dream sequences in the movies, almost all of them conceived with Freudian literalism to show the characters having nightmares about the plot. »Mulholland Drive« is all dream. There is nothing that is intended to be a waking moment.
Kein wacher Moment? Pardon?
In einer Sequenz in der zweiten Hälfte des Films werden wir minutenlang mit der immer selben Botschaft bombardiert: »es ist alles nicht echt, es ist alles nur Illusion«. Dies mündet schließlich darin, dass sich unsere Protagonistinnen in Luft auflösen. Dann sehen wir eine davon schlafend im Bett liegen, »der Cowboy« steckt den Kopf zur Tür rein und sagt: »Es ist Zeit, aufzuwachen«. Darauf folgt eine lange Aufwachszene. Die Protagonistin wird von einem Klopfen an der Tür geweckt, setzt sich im Bett auf, zieht langsam den Bademantel an, geht zur Tür, lässt die Nachbarin ein, die ein paar Sachen abholen will, schlurft anschließend in die Küche und kocht Kaffee. Genau von diesem Punkt an scheinen alle Figuren ihre Identitäten ausgetauscht zu haben, und die verträumt-surreale Qualität des Bisherigen weicht einem harten, tragischen Realismus.
Es gibt nicht nur einen wachen Moment, es gibt einen klaren und ausgedehnten Aufwachmoment, von dem an alles anders ist.
Es ist eine faszinierende Frage, wie der Film einen dazu bringt, diese Szene nicht als das zu nehmen, was sie eindeutig ist. Denn wenn man sich klarmacht, dass hier ein Traum endet, der bereits am Anfang des Films begann, dann erklärt sich (fast) alles Weitere praktisch von selbst. Doch wir kommen nicht darauf, weil es uns nicht gelingt, uns von dem zu lösen, was wir bereits über die Welt zu wissen glauben.
Der Film erzählt die Geschichte von Diane Selwyn (Naomi Watts), einer jungen Schauspielerin aus Kanada, die nach Hollywood kommt und auf eine Karriere im Filmgeschäft hofft. Beruflich läuft es nicht gut, aber sie lernt die schöne Camilla Rhodes kennen, die ebenfalls Schauspielerin ist und mehr Erfolg hat. Zwischen den beiden entwickelt sich eine sexuelle Beziehung und Camilla verhilft Diane zu ein paar kleinen Rollen. Diane fixiert sich auf Camilla und gerät immer mehr in emotionale Abhängigkeit von ihr, während Camilla nicht nur beruflich erfolgreich ist, sondern auch privat und sexuell viele Optionen hat, die sie auch nutzt. Schließlich will sie die Beziehung zu Diane beenden und einen Regisseur heiraten, was ein schwerer Schlag für Diane ist. Sie ist erfolglos, einsam und tief verletzt.
Als Camilla auf einer Dinnerparty ihre Hochzeitspläne verkündet und nebenbei eine andere Frau küsst, anscheinend bewusst vor Dianes Augen, schlägt deren Liebe in Hass um. Sie heuert einen Auftragsmörder an, um Camilla zu töten. Der kündigt an, an einem vereinbarten Ort einen blauen Schlüssel zu hinterlegen, wenn der »Job« erledigt ist. Der Ort ist wahrscheinlich hinter dem Winkies-Restaurant, wo im Traum ein Monster wohnt. (Das Monster ist Dianes Wissen um das Böse in ihr, ihre unerträgliche Schuld.) In der Aufwachszene liegt der Schlüssel auf Dianes Couchtisch. Sie hat ihn also gerade erhalten und hat zu allem Überfluss nun auch noch ein Menschenleben auf dem Gewissen. Sie fühlt sich nach vollzogener Rache nicht besser, sondern nur verzweifelter.
In einem Traum unternimmt sie einen letzten Fluchtversuch aus dieser ausweglosen Situation. Sie kommt noch einmal als naive, optimistische Betty nach Hollywood. Camilla wird zu Rita. Durch den Gedächtnisschwund ist sie entwaffnet, ist ihr das Bedrohliche genommen und das Machtverhältnis umgekehrt. Nun ist Diane/Betty die Starke und Camilla/Rita abhängig. Dianes/Bettys Vorsprechen läuft hervorragend, alle (außer dem grotesk inkompetenten Regisseur) sind begeistert von ihrem Können. In der Funktion einer beruflichen Konkurrentin erhält Camilla im Traum das Gesicht der fremden Frau, die die echte Camilla auf der Dinnerparty geküsst hat. Eine dunkle Verschwörung ist dafür verantwortlich, dass diese Camilla die Rolle bekommen hat, die Diane/Betty sich so sehr gewünscht hat, nicht etwa Talent. Während die beiden der Identität von Rita nachforschen, kommt die träumende Diane der Wahrheit näher und der Traum wird entsprechend dunkler.
Nach dem Aufwachen lässt sie kurz die Ereignisse Revue passieren, die zu ihrer verzweifelten Situation geführt haben. Sie hat keine Perspektive und keine Hoffnung mehr, ihr Schuldgefühl peinigt sie und sie nimmt sich das Leben.
Das ist nur der grobe Rahmen. Man kann noch viel mehr ins Detail gehen und weitaus tiefer schürfen. Hier findet sich eine ausführliche Analyse mit vielen faszinierenden Einsichten.
Was hindert so viele von uns daran, dieses Puzzle richtig zusammenzusetzen? Wenn man sich die Gesamtheit der verfügbaren Informationen ansieht, ist es eigentlich nicht schwer. Der Film ist zweigeteilt und in den beiden Teilen haben die uns bekannten Figuren unterschiedliche Identitäten. Im ersten Teil ist alles surreal überzeichnet. Bettys optimistische Fröhlichkeit, die Verschwörung im Filmgeschäft, der Seitensprung der Frau des Regisseurs mit dem Poolboy, der Cowboy, der stümperhafte Killer. Eine richtige Traumatmosphäre entsteht dann im Theater, kurz vor dem Aufwachen. Noch vor dem Vorspann sehen wir deutlich aus Ich-Perspektive, wie ein Kopf ins Kopfkissen sinkt, welches mit derselben pinkfarbenen Bettwäsche bezogen ist, in der Diane schließlich aufwacht.
Im zweiten Teil erfahren wir, was wirklich geschah. Die surreale Überzeichnung ist weg. Aufgrund der Rückblendentechnik ist die Chronologie der Ereignisse verdreht, aber es ist trotzdem klar, wie man sie zusammensetzen muss. Die Szenen ergeben anders keinen Sinn und die Geschichte ist unkompliziert. Die beiden hatten mal eine mehr oder weniger schöne Zeit zusammen, Camilla will die Beziehung zugunsten anderer Beziehungen beenden, Diane bricht mental zusammen und heuert den Killer an.
Doch gerade dort, wo die klare Erzählung beginnt, hat man beim Ansehen den gegenteiligen Eindruck, dass alle Ordnung zusammenbreche und die Welt ins Chaos stürze, als würde man in einen Strudel von Bildern gesogen, die nicht rational verstehbar sind. Das ist ziemlich einmalig an der Komposition dieses Films. Traumsequenzen und nicht chronologische Erzählweisen sieht man häufig, aber diese Umkehrung, diese auf den Kopf gestellte Wahrnehmung, kenne ich nur von Mulholland Drive. Wir sehen endlich ein klares Bild und glauben, Chaos zu sehen.
Der Grund dafür ist, dass wir uns am ersten Teil festklammern – an dem, was wir zuerst sahen und verstanden zu haben glauben.
Um die Gesamtheit der Informationen zu verstehen, müssten wir in dem Moment, in dem wir nicht mehr mitkommen, auch unsere bisherigen Annahmen in Frage stellen und mit dem Zusammensetzen der Puzzlestücke von vorn anfangen. Doch wenn wir mit Chaos konfrontiert sind, stürzen wir nicht ausgerechnet auch noch das ins Chaos, was wohlgeordnet zu sein scheint. Im Gegenteil. Wir nehmen es als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Chaos, als scheinbar sichere Basis für die Auseinandersetzung mit dem Unsicheren. Wir kommen mit dem Verstehen nicht voran, weil der Ausgangspunkt falsch ist; weil wir genau das nicht in Frage stellen, was wir in Frage stellen müssten. Es ist kein Mangel an Wissen oder Intelligenz, der uns vom Verstehen abhält, sondern ein irrtümlicher Glaube, verstanden zu haben.
Um es noch weiter auf die Spitze zu treiben: Wir können das Gesamtbild nicht verstehen, weil wir uns an einem liebgewordenen Traum festklammern, der nur ein Teil des Gesamtbildes ist und im Kontext des Gesamtbildes eine andere Bedeutung annähme. Dies tun wir, indem wir Informationen, die sich dem Traum nicht einfügen, als chaotisch und bedeutungslos verwerfen und klare Hinweise auf unseren Traumzustand mit Hilfe erstaunlicher blinder Flecke ausblenden.
Und der Traum verbirgt meistens auch ein Monster hinter Winkies.