Es ist ein Muster, das sich seit Jahren in unregelmäßigen Abständen wiederholt. Eine streitbare linke Medienfigur wird im Internet angefeindet, beschimpft und in Extremfällen bedroht. Sie skandalisiert dies und Medien stellen sich geschlossen auf ihre Seite, wobei journalistische Sorgfaltspflichten mehr oder weniger auf der Strecke bleiben. Es wird heruntergespielt oder völlig verschwiegen, wie die betroffene Person für gewöhnlich austeilt und damit feindselige Reaktionen provoziert. Wenn man hier einhakt und die Einseitigkeit der Berichterstattung kritisiert, wird einem das schnell so ausgelegt, als verteidige man die Beschimpfungen und Drohungen, die die Person erhält, beziehungsweise die Täter, oder als wolle man sie als angemessene Reaktion auf die Provokationen rechtfertigen.
»Warum berichtet ihr nicht über die Provokationen?«
»Widerliche Frage, solche Drohungen sind durch NICHTS zu rechtfertigen!«
Diese Reaktion ist nachvollziehbar, aber wenn ich in der Rolle desjenigen bin, der die Medien kritisiert, dann will ich damit keine Drohungen rechtfertigen, und soweit ich in dieser Situation die Menschen um mich herum im Blick habe, will es von ihnen auch niemand. Natürlich sind Drohungen nicht zu rechtfertigen. (Bei Beschimpfungen würde ich weniger absolut formulieren. Wenn man beschimpft wird, ist es unter Umständen gerechtfertigt, zurück zu schimpfen. Es kommt auf den Kontext und den Schweregrad an.) Die Provokationen sind aber dennoch Teil der Geschichte.
Nehmen wir ein extremes Beispiel zur Veranschaulichung, einen Mord. Ein Mensch bringt einen anderen um. Vorangegangen ist dem ein Streit. Der Ermordete hat den Mörder über einen längeren Zeitraum immer wieder beleidigt. Rechtfertigt das den Mord? Natürlich nicht. Aber ist es Teil der Geschichte, des Geschehensablaufs? Natürlich. Die Provokationen sind zentraler Bestandteil der unmittelbareren Kausalkette, die zur Tat geführt hat. Wenn man sie auslässt, entsteht nicht nur ein ins Irreale verzerrtes Bild vom Täter, sondern darüber hinaus vielleicht auch eines von einer Gruppe, der er angehört, oder sogar von der Gesellschaft oder der Menschheit im Allgemeinen. Er kam einfach des Weges daher und hat den anderen umgebracht? Einfach so? Wie soll man das in den Kopf bekommen?
Wenn wir die Provokation mit ins Bild nehmen, rechtfertigt das nicht den Mord, macht ihn aber als Ergebnis der Eskalation eines Konfliktgeschehens begreifbar. Der Großteil gewaltsamer Konflikte zwischen Einzelpersonen entsteht aus eskalierenden Konflikten. Die Tat so zu deuten ist schlüssig, entspricht der Wahrheit und rechtfertigt gar nichts. Die andere Deutung, in dem die Tat einfach aus dem Nichts kam, ist nicht wahr und verzerrt unser Welt- und Menschenbild ins Unwahre und Paranoide.
Noch komplizierter ist es, wenn sich im fraglichen Konflikt nicht Individuen gegenüberstehen, sondern widerstreitende politische Lager. Hier dämonisiert das Auslassen der Provokation in der Berichterstattung nicht nur eine Einzelperson, sondern das ganze andere Lager. Man malt damit einen Teufel an die Wand, den es so nicht gibt, und erweckt den Eindruck, dass Millionen solcher Teufel das Land bevölkerten. Es ist ein Mechanismus, der von Sekten bekannt ist: Die Verleugnung des Bösen bei sich selbst geht einher mit der Verabsolutierung des Bösen beim Feind. Das Böse bei sich selbst sind im Rahmen des beschriebenen Mechanismus die verschwiegene Provokation sowie die Beschimpfungen und Drohungen, die vom Bodensatz des eigenen Lagers ausgehen und in der narrativen Darstellung des Geschehens stets verschwiegen werden. Das verabsolutierte Böse beim Gegner sind die scheinbar aus dem Nichts kommenden Ausfälligkeiten, die als repräsentativ für die ganze Gruppe ausgegeben werden, indem man vernünftige Stimmen und Argumente aus ihren Reihen unterschlägt.
Mir scheint, hinter diesem Mechanismus der Dämonisierung steht ein archaischer Impuls, Verbündete vor einem gefährlichen Feind zu warnen. »Schaut alle hin und seht, wie böse und zahlreich die sind!« Dies zu vermitteln ist das Anliegen. Es soll mobilisieren, diesen gefährlichen Feind zu bekämpfen – irgendwie. Dieser Impuls war in Zeiten konkurrierender vorhistorischer Stämme, die den längsten Zeitabschnitt der Evolution bildeten und für unsere Psychologie daher prägend waren, das Wesentliche. Erst einmal darauf aufmerksam machen, dass ein Feind vor den Toren (die es noch nicht gab) stand, und die Reihen schließen. Das Übrige ergab sich.
Aber wie so viele archaische Anpassungen verfehlt dieses Verhaltensmuster unter modernen Bedingungen seine intendierte Wirkung und kann zum Bumerang werden. Es ist ein Mechanismus für den Krieg, nicht für den Frieden. Wenn es nicht separate Stämme sind, bei denen sich dieser Impuls geltend macht, sondern Teilgruppen einer hochgradig integrierten Gesellschaft, die ständig in Kommunikation und Abhängigkeit miteinander stehen, stellt sich die Frage, ob er überhaupt irgendetwas Böses zurückdrängen kann und nicht nur zu weiterer Spaltung und Eskalation führt. Rational ist daran nur die Idee, durch das Verschweigen der Provokation die betreffende Person vor weiterer Anfeindung zu schützen. Aber das ist nicht die Hauptmotivation. Die Hauptmotivation ist die Mobilisierung zum Kampf gegen das Böse.
Je größer die Gruppe ist, die man zu »bekämpfen« gedenkt, desto dringender muss man sich fragen, erstens, wie man diesen Kampf führen will, zweitens, welches Ergebnis man sich davon erhofft (den Gegner vernichten? Überzeugen? Einhegen?), drittens, wie wahrscheinlich es ist, dass man dieses Ergebnis tatsächlich erzielt, und viertens, welche Kollateralschäden der Kampf bringen mag. Wie viel Zwietracht stiftet die Formatierung kultureller Konflikte als Endkampf zwischen Gut und Böse? Wie viel Vertrauensverlust gegenüber den Medien resultiert daraus bei denen, die wissen, dass die bereinigte Geschichte nicht die ganze ist? Wieviel Entfremdung von Land und Leuten entsteht bei denen, die es nicht wissen? Wie viel Angst vor den behaupteten wilden Horden, die im Netz und auf den Straßen ihr Unwesen treiben? Leider ist es wohl Bestandteil des Kampfmodus, dass man solche Fragen nach Kausalitäten und Komplexitäten gerade nicht stellt, wenn man von ihm ergriffen ist.