Understand immediately that ALL professional organizations are captured. All of them. Accept this reality now and recalibrate accordingly.
James Lindsay
The facts don’t care about your feelings. They care about the feelings of people much more powerful than you.
Bret Weinstein
Der Film Invasion of the Body Snatchers oder Die Körperfresser kommen erzeugt eine dichte Atmosphäre der Paranoia, indem er das Erlebnis vermittelt, dass sich immer größere Teile des Vertrauten in etwas Fremdes und Bösartiges verwandeln. Die Mitmenschen werden nach und nach durch zombiehafte außerirdische Doppelgänger ersetzt. Dieser Prozess läuft zunächst im Verborgenen ab und lange Zeit ist nicht klar, wie weit er schon vorangeschritten ist, denn die Menschenattrappen sind oberflächlich betrachtet nicht von den Originalen zu unterscheiden.
So verwandelt sich die Welt um unsere Helden herum allmählich in eine kolonisierte. Immer wieder kommen sie zu der schmerzlichen Einsicht, dass ein einst vertrauter Mensch bereits ersetzt wurde. Immer weniger Orte sind sicher, immer weniger Akteure vertrauenswürdig. Als sie sich klarmachen, was vor sich geht, ist es schon zu spät, um es aufzuhalten, falls es überhaupt je eine Chance dazu gab. In der symbolträchtigen Schlussszene der Fassung von 1978 sehen wir, dass der Protagonist selbst zum Monster geworden ist und die letzte Überlebende an das Kollektiv der Monster ausliefert, man könnte auch sagen: cancelt.
Für uns Menschen bilden andere Menschen, die im Großen und Ganzen in derselben Sinnwelt leben wie wir, wesentlich die Wirklichkeit, in der wir heimisch sind, und das, was man in ökologischem Sinn »Umwelt« nennt. Zerbricht diese gemeinsame Sinnwelt, fallen wir in Fremde und Desorientierung. Treten Mitglieder der gemeinsamen Sinnwelt sogar in eine andere, feindliche Sinnwelt über, ist es nicht Chaos, das sich ausbreitet, sondern eine kohärente Anti-Wirklichkeit, die im Begriff ist, die gewohnte Wirklichkeit zu verschlingen.
Dies ist eine reiche Metaphorik. Sie reflektiert zwischenmenschliche Erfahrungen wie Wesensveränderungen und unheimliche Differenzen zwischen dem, was jemand zu sein scheint, und dem, was er wirklich ist, wie man sie zum Beispiel erlebt, wenn man erfährt, dass man belogen oder betrogen wurde. Aber auch kollektive Vorgänge klingen an, Vorgänge wie Unterwanderung, Ausbreitung sektenartiger Besessenheit und Auslöschung des Individuums im Namen eines Kollektivismus. In einer Szene beschwichtigt die von Leonard Nimoy gespielte Figur unsere Gruppe von Widerständlern, dass sie nichts zu befürchten hätten; das Leben als Attrappe sei harmonisch und schmerzfrei.
Ich hatte gestern so ein Body-Snatchers-Gefühl, als ich einen kurzen Kommentar des Deutschen Journalisten-Verbandes gelesen habe. Das Gefühl: Scheiße, das sind überhaupt keine Journalisten mehr. Das ist etwas anderes. Etwas Fremdes und Bösartiges.
Es geht um die Aktion #allesaufdentisch, die mehr oder weniger an #allesdichtmachen anknüpft. Diesmal sind es keine Kunstvideos, sondern Interviews, die Künstler mit Professoren und anderen Experten führen. Die Leitmedien sind erwartbar alarmiert und verdammen die Aktion als Verschwörungsgeschwurbel.
Ich habe ein paar der Videos gesehen. Zum Teil ist es tatsächlich Verschwörungsgeschwurbel, zum Beispiel hier, wo behauptet wird, die Pandemie sei ein großes Gehorsamsexperiment, was anscheinend nicht als Metapher gemeint ist. Zum Teil sind die Standpunkte aber auch konventionell und unspektakulär. Beim Thema Masken geht es etwa nur darum, wo Masken etwas bringen und wo nicht; ein zum Thema Impfungen befragter Arzt sagt nicht viel mehr als dass die Impfung eine Risikoabwägung ist, dass man nichts über eventuelle Langzeitfolgen weiß und dass es freiwillig sein sollte. Die Inhalte sind also durchwachsen, manches ist kritikwürdig, manches ist Quatsch, aber manches ist auch informativ und anregend.
Der Deutsche Journalisten-Verband widmet sich dem Thema in einem Kommentar mit der programmatischen Überschrift »Unappetitliches aufgetischt«. Er führt die zwei Videos als Beispiele an, die zufällig Nummer eins und zwei auf der YouTube-Playlist von #allesaufdentisch sind. Im ersten spricht der Schauspieler Volker Bruch mit dem Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen über Faktenchecker. Das zweite ist ein Gespräch des Schauspielers Wotan Wilke Möhrung mit dem Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel.
Zum Thema »Faktenchecker« interviewte Bruch für #allesaufdentisch den Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Michael Meyen von der LMU München. Der nannte den Verschwörungsideologen Ken Jebsen übrigens mal einen »professionellen Journalisten«.
»Übrigens« ist hübsch. Gleich mal als böse markiert mit der Assoziation zu Jebsen. Irgendwie hat der DJV aber wohl seinen eigenen Link nicht angeklickt, denn wenn man das tut, liest man bei der Süddeutschen Zeitung:
Ein Blog, der Unmut auslöst
Der LMU-Professor Michael Meyen bietet im Internet fragwürdigen Ansichten ein Forum. Den Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen habe er als professionellen Journalisten* kennengelernt.
*In einer vorherigen Version des Teasers wurde diese Aussage als wörtliches Zitat gekennzeichnet. Das ist nicht korrekt. Michael Meyen hat Ken Jebsen nicht wörtlich als professionellen Journalisten bezeichnet. Die im Blog von Michael Meyen veröffentlichten Äußerungen entsprechen aber dieser Einschätzung.
Das ist an dieser Stelle bereits ein Griff ins Klo, umso mehr, da es kein belangloser Flüchtigkeitsfehler ist, sondern in diskreditierender Absicht geschieht. Wenn man sich Meyens Blogartikel ansieht, von dem hier die Rede ist, wird es nicht besser. Er präsentiert Jebsen als jemanden, der eine Mediennische besetzt, die durch die blinden Flecken der Leitmedien entsteht. Ob und wieweit er mit Jebsens Arbeitsweise und inhaltlichen Standpunkten übereinstimmt, geht aus dem Text nicht hervor.
Das indirekte Nicht-Zitat bezieht sich mutmaßlich auf diese Stelle:
Bei KenFM arbeiten Profis, kein Zweifel. Terminabsprache, Empfang, Räume: perfekt. Eine Assistentin plaudert mit dem Gast, bis der Meister kommt. Der nimmt sich ein paar Minuten zum Warmwerden, dann Maske, Kamera, Ton. Das Maximum herausholen. 1A-Fernsehen liefern.
Hier geht es gar nicht direkt um Journalismus, sondern eher um so etwas wie professionelle Betriebsorganisation. Die Stelle könnte auch die Arbeit eines Comedians beschreiben. »Professioneller Journalist« wäre eine Aussage über die Qualität und Ausrichtung der inhaltlichen Arbeit des Betreffenden. Die kann ich dieser Stelle und dem Rest des Blogartikels nicht entnehmen. Was hier angeführt wird, um Meyen zu diskreditieren, ist ein substantiell reichlich dünner Knalleffekt.
Weiter:
Meyens Einlassungen sind dann auch nicht ganz das, was man von einem seriösen Experten zu dem Thema vielleicht erwarten würde. Unter anderem behauptet er, es gäbe [sic] ein internationales Netzwerk besagter Faktenchecker – ohne Belege dafür zu präsentieren.
Der DJV fackelt nicht lange, wenn es darum geht, jemanden als unseriös abzustempeln. Aber Interviews haben selten Fußnoten. Den Einwand fehlender Belege kann man bei jedem Tagesthemen-Interview zwölfmal erheben. Und wenn man ganz blöde international fact checking network googelt, findet man das besagte Netzwerk ganz oben.
Bei Facebook findet man es auch:
Weiter:
Als »Klartext« unter dem Video steht zusammengefasst: »Faktenchecker sind Propagandamaschinen, die sich als Journalismus verkleiden. Das gilt auch für den Faktenfuchs des Bayerischen Rundfunks oder den Faktenfinder der Tagesschau, die es nur gibt, weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht den Pluralismus liefert, für den wir ihn eigentlich bezahlen.«
Kleiner Faktencheck: Das ist natürlich ziemlicher Blödsinn. Gerade in der Corona-Pandemie haben die Faktenchecker von Faktenfuchs, Faktenfinder, Correctiv und anderen wichtige und großartige journalistische Arbeit geleistet.
An dieser Stelle klappte mir ungläubig die Kinnlade runter, als mir klar wurde, dass dies wirklich alles ist, was der Kommentar zur Verteidigung der Faktenchecker zu sagen hat. Dass sie voll super sind. Aha, dann bin ich ja beruhigt.
Kurz zum Faktenchecker-Video. Ich vermute, dass viele andere auch hier eingestiegen sind, weil es auf der Playlist ganz oben steht, und daraus abgeleitet haben, dass die Aktion voller Verschwörungsgeschwurbel sei. Eine Kernaussage ist nämlich, dass Faktenchecker in vielen Ländern hauptsächlich von philanthropischen Großstiftungen finanziert werden. Meyen nennt namentlich die Luminate-Stiftung des eBay-Gründers und Milliardärs Pierre Omidyar und die Open Society Foundations von George Soros. Spätestens hier schrillen die Alarmsirenen – Soros! Fernsteuerung von Faktencheckern durch mächtige Akteure im Verborgenen? Das ist doch ein Code für jüdische Verschwörung!
Ich weiß nicht, ob und in welchen Fällen Meyen oder sonst jemand insgeheim »jüdische Verschwörung« meint, wenn er Einflussnahmen von Soros‹ Stiftung erwähnt. Ich weiß ebenfalls nicht, wie viele Leute das so aufnehmen. Ich kann nicht ausschließen, dass manche es so meinen und aufnehmen. Aber ich sehe hier bei weitem nicht genug Indizien, um das einfach als gegeben zu unterstellen.
Die Soros-Stiftung existiert ja nun mal und nimmt durch finanzielle Förderungen auf gesellschaftliche Prozesse Einfluss, und das ist nicht immer für jeden transparent. Wie soll man darüber reden, ohne sich den Verdacht und Vorwurf einzuhandeln, mit Codes für jüdische Verschwörungen zu arbeiten?
Faktenchecker sind Einrichtungen, die als Autoritäten und Experten für die Entscheidung über Wahrheit und Unwahrheit auftreten. Correctiv beispielsweise ist bei Facebook, einem globalen Monopolisten mit Milliarden Nutzern, in die Entscheidung darüber eingebunden, was Wahrheit ist und was gesagt werden darf. In Anbetracht dessen halte ich den Gedanken nicht nur für berechtigt, sondern für zwingend, dass es für politische Akteure aller Art eine reizvolle Idee sein muss, diese Faktenchecker zu kontrollieren. Es führt gar kein Weg daran vorbei, dass solche Begehrlichkeiten entstehen. Und nun soll die Frage nicht erlaubt oder nicht relevant sein, wer die Faktenchecker finanziert und mit welchem Interesse?
Zudem ist es keine theoretische Spekulation, sondern Fakt, dass die Open Society Foundations und auch Omidyar progressive Anliegen fördern, also Gesellschaften in gewisser Weise nach links schieben wollen. Und sie stemmen den größten Anteil an der Finanzierung von Faktencheckern. Aber das wirft keine Fragen auf. Ach so.
Ich fand das Video interessant und informativ, weil ich nichts von diesen Hintergründen wusste. An einigen Stellen war ich auch unzufrieden und hätte Kritik. Zum Beispiel sagt Meyen, die Faktenchecker seien von diesen Stiftungen »gekapert« worden, konkretisiert das aber nicht weiter. Was heißt gekapert? Zu welchem Zweck? Lässt sich klar eine politische Schlagseite aufzeigen, Befangenheit, eine bestimmte Agenda? Was wissen wir, was wissen wir nicht? Mich hat bei mehreren Videos gestört, dass die Interviewer nicht nachhaken, sondern solche wichtigen Punkte diffus in der Luft hängen lassen. Diese inhaltliche Vagheit kann man als Projektionsfläche für Verschwörungsdenken sehen und kritisieren, und auch wenn man sie nur als handwerkliche Schwäche verbucht, ist die dadurch entstehende Unklarheit der vertretenen Standpunkte unbefriedigend.
Man hätte auch kritisieren können und müssen, dass Meyen öffentlich-rechtliche Faktenchecker in einen Topf mit den privaten Plattformen wirft. Bei ersteren ist das Problem der Stiftungsfinanzierung ja nicht gegeben.
Ich fand außerdem Meyens Kritik am Faktenbegriff zu weitgehend. Ja, der Faktenbegriff lässt leicht vergessen, dass auch die Zusammenstellung von Themen und Fakten schon eine Sichtweise abbildet und nicht neutral ist, dass also »Fakten« nicht gleichbedeutend mit »Wahrheit« ist. Aber ich finde die Idee der Faktenchecks nicht grundsätzlich falsch. Sie sind ja meistens eine Reaktion auf eine vorgetragene These. Man kann sich schon eine These vornehmen und prüfen, ob die darin erhobenen Tatsachenbehauptungen stimmen, auch wenn diese Frage nicht in jedem Einzelfall eindeutig mit ja oder nein zu beantworten ist. Mit den Fakten ist es wie mit Objektivität: Man erreicht sie nicht in Perfektion, aber in Annäherung, und die Annäherung spielt in der Praxis eine wichtige Rolle. Wenn wir uns darauf zurückziehen, dass alles subjektiv ist, können wir uns überhaupt nicht mehr über die Wirklichkeit verständigen.
Manches ist also durchaus kritikwürdig. Aber alles, was ein Journalistenverband zu dieser Thematik zu sagen hat, ist sinngemäß: Das ist natürlich Quatsch, die leisten großartige Arbeit, ohne jedes begründende Element? Was für ein Offenbarungseid ist das? Wer Faktenchecker finanziert, ist kein Thema? Dass Social-Media-Monopolisten unter dem Druck von Staaten solche obskuren, intransparenten, durch nichts demokratisch oder sonst wie legitimierten Faktenchecker für die gesamte Weltöffentlichkeit entscheiden lassen, was wahr und was unwahr ist, ist für Journalisten kein Thema, und wer es zum Thema macht, wird auf diese billige Weise in den Dreck gezogen? Was ist hier los? Man würde doch meinen, dass Journalisten die natürlichen Verbündeten für jeden sind, der sich für Aufklärung und gegen Manipulation und Desinformation einsetzt.
Aber man würde sich irren.
Noch drastischer zeigt das der Abschnitt zum Video mit Steinhöfel, der den Schluss des Kommentars bildet.
Mit der Meinungsfreiheit beschäftigt sich das Video von Schauspieler Wotan Wilke Möhring und Rechtsanwalt und Publizist Joachim Steinhöfel. Laut Text unter dem Video glaube die Mehrheit der Deutschen, die Meinungsfreiheit in Deutschland sei in Gefahr.
Nun, dazu gibt es Zahlen. Eine Allensbach-Umfrage im Juni 2021 ergab, dass 45 Prozent der Bürger meinten, man könne seine Meinung frei äußern, und 44 Prozent das Gegenteil behaupteten. »Die Mehrheit« stimmt also nicht.
Dennoch ist die Zustimmung von 45 Prozent der schlechteste Wert, der seit Beginn der Erhebungen 1953 je gemessen wurde. Laut FAZ haben seit »den sechziger Jahren bis ins vergangene Jahrzehnt hinein regelmäßig mehr als zwei Drittel der Befragten« die Ansicht vertreten, man könne seine Meinung frei äußern. Wir sehen also einen dramatischen Absturz in den letzten Jahren.
Gleichzeitig ist recht klar, woher die Verfasser der Videobeschreibung die Aussage haben, »die Mehrheit« sehe die Meinungsfreiheit in Gefahr: Manche Medien haben das fehlerhaft so berichtet.
Man kann den Machern von #allesaufdentisch also vorwerfen, dass sie glauben, was in der Zeitung steht.
Aber Spaß beiseite. Der DJV sagt nichts weiter zur Besorgnis der Deutschen über die Meinungsfreiheit, so dass der Eindruck entsteht, die Angabe hätte keine Basis und Möhrung und Steinhöfel hätten Wahnvorstellungen – und das, während sich die von den Bürgern wahrgenommene Meinungsfreiheit in einem Absturz befindet, der in der bundesrepublikanischen Geschichte beispiellos ist.
»Konformitätsdruck, soziale Ächtung, berufliche Risiken, Kontokündigungen wenn man den Mund aufmacht« [sic], heißt es da. Selbst ganz große Kaliber werden aufgefahren, wenn die »digitale Massenvernichtung freier Rede« beschworen wird.
»Massenvernichtung« mag ein zu reißerisches Wort sein. Andererseits ist nicht so leicht zu ermessen, welche Tragweite es hat, wenn Tech-Monopolisten massenhaft Inhalte entfernen und Personen von ihren Plattformen verbannen, und das ist faktisch der Fall. Und Konformitätsdruck, soziale Ächtung, berufliche Risiken, Kontokündigungen – das alles gibt es ohne Zweifel. Nicht zu vergessen Hausdurchsuchungen, wenn man einen Politiker »Pimmel« nennt, wahrscheinlich, um die geheime Kiste mit weiteren »Pimmel«-Tweets unterm Bett zu finden. Oder etwa zur Einschüchterung? So oder so – sind das alles keine Themen für den Journalismus?
Nein, sind es nicht:
Den Gegenbeweis liefern die Macher der Aktion gleich mit. Als Meinung können Meyen, Bruch, Möhring, Steinhöfel und die anderen das alles selbstverständlich verbreiten: Anders als in Ländern, in denen die Presse- und Meinungsfreiheit tatsächlich bedroht ist, verfolgt sie hierzulande niemand dafür, niemand verhaftet oder bedroht sie, niemand verbietet es – offensichtlich nicht mal der gesunde Menschenverstand. Es lebe also die Meinungsfreiheit! Die gilt aber umgekehrt ebenso für scharfe Kritik an solchen Äußerungen. Meinungsfreiheit bedeutete noch nie die Freiheit von Gegenrede – ganz im Gegenteil.
Alles für null und nichtig erklärt, durch den dummen Trick, so zu tun, als wäre Meinungsfreiheit eine binäre Angelegenheit, so dass man sie einfach entweder hat oder nicht hat. Doch in dem Video behauptet niemand, dass Deutschland die übelste Diktatur der Erde sei. Könnte es nicht etwa so sein, dass wir auf einer Meinungsfreiheits-Skala von 1 bis 10 bei meinetwegen 7 sind, wobei aber ein negativer Trend zu verzeichnen ist, der Anlass zur Besorgnis gibt? Und darf man dann wegen dieses Trends Alarm schlagen? Was ist hier eigentlich die Prämisse – über bedrohte Meinungsfreiheit darf man erst sprechen, wenn man nicht mehr darüber sprechen darf?
Das Video mit Steinhöfel als wahnhaft hinzustellen ist besonders dreist und absurd, weil der Mann einfach Rechtsanwalt ist und regelmäßig im Zusammenhang mit Profilsperrungen gegen Tech-Konzerne vorgeht. Er kennt sich mit den Vorgängen aus und das Video dreht sich um konkrete Tatsachen. Es werden weder Verschwörungs- noch sonstige Theorien gesponnen, sondern es geht einfach um evidente reale Vorgänge zum Nachteil der Meinungsfreiheit. Das wird vom DJV alles weggelogen. Mit dem Wort »Gegenbeweis« wird sogar behauptet, es sei bewiesen, dass es kein Problem mit der Meinungsfreiheit gebe und nichts in dem Video wahr sei. Wir haben in der Wahrnehmung der Bürger einen Absturz der Meinungsfreiheit wie seit Jahrzehnten nicht und der Journalisten-Verband lacht darüber und behauptet, das sei alles nicht real.
Am Rande, dieser Tweet kam nur einen Tag später:
Ich kann das nicht mehr mit Inkompetenz erklären. Insbesondere die letzten zwei Absätze des Kommentars sind eine aktive Bekämpfung von Stimmen, die sich für Meinungsfreiheit einsetzen und eine aktive Unterdrückung des Sprechens über Tatsachen, die klar auf ein Problem hinweisen, also eine aktive Bekämpfung der Meinungsfreiheit. Die gewählten Mittel dazu sind Diskreditierung von Akteuren unter Umgehung der inhaltlichen Auseinandersetzung sowie Irreführung hart an der Grenze zur Lüge, insofern insinuiert wird, Möhring und Steinhöfel würden sich das alles nur ausdenken. Man könnte es auch Gaslighting nennen: Millionen Menschen wird erzählt, es sei nur ihre Einbildung, dass sie Angst haben müssen, ihre Meinung zu äußern. Du wirst gar nicht von uns misshandelt, das kommt dir nur so vor, weil du spinnst.
Daneben brachte der DJV gestern eine Lobhudelei auf »Funk«, die man eigentlich nur mit »Was darf Satire?« kommentieren kann.
funk macht preisgekrönten, relevanten und seriösen Journalismus für eine Zielgruppe, die ARD und ZDF mit ihren anderen Programmen kaum oder gar nicht erreichen. Die Zahlen sprechen für sich: Junge Menschen wollen und goutieren gut gemachten Journalismus, wenn er sie auf einem Weg erreicht, der ihnen entspricht. Das ist wichtig, das ist schön und das macht Mut!
Was »Funk« ist, beschreibt Alexander Kissler in der NZZ genauer, als man es wissen möchte.
Bleibt mir nur, zusammenfassend das vollständige Lindsay-Zitat nachzuliefern, aus dem das Eingangsmotto ganz oben stammt:
Vor einer Weile hat uns Bari Weiss in einem einflussreichen Essay gesagt, dass wir aufhören sollen, schockiert zu sein. Die Leute haben Schwierigkeiten damit. So kommt man einen Schritt weiter: Machen sie sich hier und jetzt klar, dass alle professionellen Organisationen gekapert sind. Alle. Akzeptieren Sie diese Tatsache und stellen Sie sich darauf ein.
Dass irgendeine professionelle Organisation heute kommuno-woke ist, hat keinen größeren Nachrichtenwert als dass Feuer heiß ist, Wasser nass macht und auf die Nacht der Morgen folgt. Hören Sie auf, schockiert zu sein. Akzeptieren Sie die Welt, wie sie ist, und tun Sie etwas dagegen.
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