Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.
G.W.F. Hegel
Wenn Ferda Ataman verbal gegen die Bevölkerung austeilt und Politiker jubeln, sie sei für die Stelle der Antidiskriminierungsbeauftragten »genau die Richtige«, liegt der Schluss nahe, dass diese Politiker die Bevölkerung verachten. Aber ich glaube, bei Ataman und in vergleichbaren Fällen ist ein anderes Motiv entscheidend: eine bestimmte magisch-mystische Strategie von einflussreichen Teilen der Linken zur Vervollkommnung der Gesellschaft.
Die entscheidende Anregung hierzu stammt von James Lindsay, der seit einiger Zeit darauf hinweist, dass die Linke seit Marx auf einem hegelianischen Fundament stehe und die Dialektik ihr »Betriebssystem« sei. Ich habe das letztes Jahr hier erwähnt und später einen längeren Text dazu wieder offline genommen, weil ich damit nicht zufrieden war – das Thema ist sperrig. Aber man kommt nicht darum herum, wenn man die Sorte Utopismus genauer verstehen will, zu der auch die heute virulente Wokeness gehört. Ich nehme deshalb hier den Faden wieder auf.
Maßgebliche Teile der Linken (»not all« usw.) sehen die Menschheit in einem Prozess der Vervollkommnung und unsere moralische Pflicht darin, zu dieser Vervollkommnung beizutragen oder ihr zumindest nicht im Weg zu stehen. Das ist soweit noch nichts allzu Besonderes – jeder sollte den Wunsch haben, dass die Dinge besser werden, und eine gewisse soziale Entwicklung vollzieht sich ja auch eindeutig. Doch die Idee von Vervollkommnung, um die es hier geht, ist spezifischer. Sie hat eine folgenreiche magisch-religiöse Komponente, die in der Annahme besteht, dass die angestrebte Vollkommenheit den Dingen gewissermaßen als ihre Bestimmung oder ihre wahre Form, ihre voll verwirklichte Essenz, bereits innewohne und sozusagen darauf warte, freigelegt zu werden. Zum Ende der Geschichte hin gilt es dies nach und nach zu tun. Die Utopisten dieser Art dienen dem Ziel, den vollkommenen Endzustand mit seinen perfektionierten neuen Menschen herzustellen, wie einem Gott. Die vollkommene Gesellschaft der vollkommenen Menschen ist ihr Gott am Ende der Geschichte.
Folgenreich ist diese Vorstellung von Fortschritt deswegen, weil sie bedeutet, dass die unvollkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben, als »falsche« Verhältnisse erscheinen und sämtlich überwunden gehören. Alle unvollkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse, also alle realen, erscheinen aus dieser Sicht als falsch (gottlos), weil sie nur am Maßstab der (fiktiven) Vollkommenheit gemessen werden, die sie eigentlich auszeichnen sollte. Das Framing lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was man für falsch hält, und weg von dem, was an den gesellschaftlichen Verhältnissen gut und erhaltenswert ist, sowie von der Frage, wie man überhaupt Gutes schaffen und erhalten kann. Mit dem reinen Ideal als Maßstab werden rationale Abwägungen von Kosten und Nutzen im Hinblick auf bestehende Verhältnisse und politisch-gesellschaftliches Handeln unmöglich. Wenn es nicht perfekt ist, ist es schlecht und muss überwunden werden.
Im Marxismus ist der vervollkommnete Endzustand der Kommunismus. Erst im Kommunismus ist die Entfremdung überwunden, erst dort findet der Mensch zu sich selbst und ist als Mensch voll verwirklicht. Wie das konkret aussehen und funktionieren soll, steht in den Sternen. Das Ganze wird von einem Glauben getragen, dass es irgendwie funktionieren werde. In der Realität haben verschiedene Kommunismusversuche aufgrund der Einsetzung eines abstrakten Ideals als Maßstab zu gesellschaftlicher Selbstzerfleischung geführt, während die Gläubigen (und ihre Mitläufer) in hohem Maß bereit waren, die Würde, die Menschenrechte und das Leben ihrer Zeitgenossen im Namen der Menschlichkeit dem Ziel zu opfern, den vollkommeneren Menschen der Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen. Auch heute gilt die Loyalität und das Mitgefühl der radikalen Linken, die sich nach wie vor als die größten Menschenfreunde verstehen, im Zweifel eher den hypothetisch vervollkommneten Menschen der besseren Zukunft als den gegenwärtig lebenden. Letztere mögen sie meist nicht besonders und es braucht wenig, um ihre beteuerte Menschenliebe in Hass und Verachtung umschlagen zu lassen.
Die Ausrichtung auf historische Bestimmung und Vervollkommnung zeigt sich in Ausdrücken wie »progressiv«, »gestrig«, »auf der richtigen Seite der Geschichte«, »wir haben schließlich das Jahr [aktuelles Jahr]« sowie in der Annahme, man könne alles Tradierte nach Belieben verwerfen oder müsse es sogar umfassend bekämpfen, um sich aus den Beschränkungen zu befreien, die es einem auferlegt – so wie Maos Rote Garden in einer Terrorkampagne durch China gezogen sind, um alles Alte zu zerstören. Die Überhöhung der Jugend bei komplementärer Verachtung der Alten ist ein Ausdruck des magischen Denkens, das ich hier beschreibe. Die Alten sind die vorrangigen Träger von Wissen und Lebenserfahrung. Die Strategie, politische Macht von den Alten auf die Jungen umzuschichten, beruht auf der Annahme, dass die Jungen ganz ohne Wissen und Lebenserfahrung nicht nur alles genau so gut können, sondern sogar eine bessere Gesellschaft schaffen würden. Dies entspricht dem Glauben, dass die Vollkommenheit den Dingen und Menschen bereits innewohne und sich spontan irgendwie von selbst verwirklichen werde, wenn man nur das Überlieferte zerstört, das diese Verwirklichung bisher bremst und verhindert. Man braucht kein Wissen und keine Erfahrung, um eine gute Gesellschaft zu errichten; man braucht im Gegenteil ein möglichst unbeschriebenes Blatt, damit sich möglichst ungestört und unbeeinflusst die perfekte wahre Natur der Dinge verwirklichen kann.
Dialektik als Mechanismus der Vervollkommnung
Die Dialektik ist in diesem Zusammenhang der Mechanismus, durch den sich die Vervollkommnung vollzieht und die Dinge »zu sich selbst finden«, wie Hegel sagen würde, also ihre eigentliche, wahrste Form verwirklichen. In vereinfachter Darstellung ist die Dialektik der Dreischritt: These, Antithese, Synthese. Angewandt auf die Vervollkommnung der Gesellschaft würde man sich das etwa so vorstellen: Immer wieder wird ein Aspekt der gesellschaftlichen Wirklichkeit – ein Begriff, eine Praxis oder eine Institution – mit einem Widerspruch konfrontiert, also einer Antithese oder Negation. Der offene Widerspruch wirkt im nächsten Schritt als Antrieb zur Bildung einer Synthese. Dies ist eine neue Entwicklungsstufe der Sache, auf der die erhaltenswerten Aspekte der ursprünglichen Sache und der Negation aufgehoben und zu einer neuen Einheit gekommen sind. Dann taucht in dieser neuen Einheit wieder ein Widerspruch auf und so weiter, bis die Vollkommenheit erreicht ist.
Mir geht es hier nicht darum, das alles philosophisch aufzuarbeiten, sondern um einen Versuch, bestimmte Phänomene unserer Zeit zu erklären. Doch um zumindest zu zeigen, dass ich mir das nicht aus den Fingern sauge oder nur einen verrückt gewordenen James Lindsay nachplappere, hier ein paar Zitate im Schnelldurchlauf.
Zunächst zur Annahme, dass der vollkommene Endzustand den Dingen bereits innewohne, bei Hegel. Hier müssen wir an seinem merkwürdigen Vernunftbegriff (bei Hegel sind alle tragenden Begriffe merkwürdig) ansetzen. Dina Emundts und Rolf-Peter Horstmann schreiben in G.W.F. Hegel – eine Einführung:
Das von Hegel zugrunde gelegte Erklärungsprinzip aller Wirklichkeit ist die Vernunft. Vernunft, wie Hegel sie versteht, ist nicht irgendeine Eigenschaft, die irgend einem Subjekt zukommt, sondern sie ist die Summe aller Realität. Gemäß dieser Auffassung gilt für Hegel die strikte Identität von Vernunft und Wirklichkeit: Nur die Vernunft ist wirklich und nur die Wirklichkeit ist vernünftig. … Die seine Konzeption leitende Grundvorstellung ist die, dass man die Vernunft nach dem Vorbild eines lebendigen Organismus aufzufassen hat. Ein lebendiger Organismus wird von Hegel gedacht als ein Wesen, das die gelungene Realisierung eines Planes darstellt, in dem alle individuellen Merkmale dieses Wesens enthalten sind. Diesen Plan nennt Hegel den Begriff eines Wesens, und die gelungene Realisierung stellt er sich als das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses vor, in dessen Verlauf jedes der individuellen Merkmale Realität gewinnt.
Diese und nachfolgende Hervorhebungen von mir.
Die Dialektik ist der Mechanismus dieses Entwicklungsprozesses, und sein Treibstoff sind Widersprüche. Hegel meinte, dass jedes Ding und jeder Gedanke sein eigenes Gegenteil enthalte, seine eigene Negation, also einen Widerspruch darstelle. Hegel war hier sehr radikal, er schrieb: »Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend«. Die Losungen der Partei in »1984«, »Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke«, sind Ausdruck dialektischen Denkens in diesem Sinn (oder eine Perversion davon, wenn man so will). Alles enthält sein eigenes Gegenteil beziehungsweise schlägt um in sein Gegenteil. Das öffnet viele Türen für kreative Umdeutungen der Wirklichkeit. Eine perfekte Illustration ist Herbert Marcuses Begriff der »repressiven Toleranz«. Was gemeinhin unter Toleranz verstanden wird, schlägt um in Intoleranz; daher müssen wir intolerant sein, um wahre Toleranz zu ermöglichen.
Durch den Widerspruch jedenfalls wächst das Ding/der Gedanke in der Synthese über sich selbst hinaus und erreicht die nächste Stufe. Alle Dinge enthalten also neben ihrer eigenen Verneinung auch den Keim ihrer eigenen Vervollkommnung. Dies erklärt Lindsays Verweise auf »Alchemie« in diesem Zusammenhang; er spielt auf die alchemische Idee an, dass im Stein Gold enthalten sei, das man durch das richtige Verfahren herausholen könne. Bei Hegel ist, vereinfacht gesagt, in allem die »Vernunft« als »Summe aller Realität« enthalten, und man kann sie hervorkitzeln, indem man Widersprüche gegeneinanderschlägt.
[Hegel vertrat die Überzeugung,] dass die Gesamtheit dessen, was in irgendeinem Sinne wirklich ist, als Ausdifferenzierung und partielle Realisierung einer Primärstruktur aufzufassen ist, die allen in irgendeinem Sinne wirklichen Sachverhalten zugrunde liegt. Diese Primärstruktur nennt Hegel ›das Absolute‹ oder ›die Vernunft‹ (S. 33).
Hegels Stil ist schwierig, aber in folgender Stelle aus erwähnter Einführung kann man den Zusammenhang zwischen Widerspruch, Dialektik und Vervollkommnung erahnen:
»Die Dialektik dagegen ist dies immanente Hinausgehen [über eine Bestimmtheit], worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation, darstellt« … (S. 59). Die zweite Voraussetzung charakterisiert Hegel so, dass in dieser Negation etwas Positives sei und zwar »die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf das Affirmative, das in ihrer Auflösung und in ihrem Übergehen enthalten ist« … . Da dasjenige, was sich entgegengesetzt wurde, bestimmt war, ist, so Hegel weiter, auch die Einheit der sich negierenden Bestimmungen bestimmt und insofern ein reichhaltigerer Begriff: »Dies Vernünftige ist daher obwohl ein Gedachtes auch Abstraktes, zugleich ein Konkretes, weil es nicht einfache, formelle Einheit, sondern Einheit unterschiedener Bestimmungen ist« … (S. 60).
Beide Seiten des Widerspruchs hatten sozusagen einen Informationswert, und beide Informationswerte sind in der Synthese weiter enthalten, mit Hegels Wort »aufgehoben«. Sie ist deshalb höherwertig und einen Schritt näher an der Perfektion. Die Perfektion ist erreicht, wenn ein Begriff alles enthält und mit der beschriebenen Wirklichkeit deckungsgleich ist (was unmöglich ist, aber dazu später).
Sebastian Ostrisch beschreibt es in »Hegel – der Weltphilosoph« so (Hervorhebungen im Original):
Mit Dialektik haben wir es also zu tun, wenn das Denken eines Gedankens über sich hinaus führt auf sein Gegenteil (S. 18). … Man denke etwa an das römische »summum ius, summa iniuria« – »Wo Recht alles ist, herrscht höchstes Unrecht«. Wo bis zum Äußersten auf dem bestehenden Recht, der von einem Gesetzgeber gesetzten und daher positiven Gesetzgebung, beharrt wird, ohne mögliche Ausnahmen, Härtefälle oder den Gnadenakt zu berücksichtigen, dort schlägt das Recht in Unrecht um (S. 19).
Interessant ist hier der nahtlose Übergang von einer Aussage darüber, was mit Gedanken passiert, zu einer Aussage darüber, was in der sozialen Praxis passiert, als könnte man das eine umstandslos auf das andere übertragen. Dies ist charakteristisch für das ganze Projekt Hegels – die Annahme, dass man an Begriffen und Gedanken introspektiv die Struktur der Wirklichkeit ablesen könne. Ostritsch weiter:
Der negative, gegensatzproduzierende Aspekt der Dialektik ist eigentlich nur ein Vorspiel. Worauf es letztlich ankommt, ist der positive, die Gegensätze versöhnende Aspekt der Dialektik: »das Spekulative«. Es fasst das »Entgegengesetzte in seiner Einheit«, überwindet die dialektisch hervorgebrachten Gegensätze, hebt sie auf (S. 20).
Das ist das, was ich oben als »Synthese« bezeichnet habe.
Marx ist stark von Hegel beeinflusst. Er nimmt dessen Modell von Dialektik als Motor einer von Widersprüchen angetriebenen Entwicklung und überträgt es – jedenfalls seinem Anspruch nach – von der Sphäre des Geistigen auf die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse. Im Nachwort zur zweiten Auflage von »Das Kapital« beispielsweise kommt das klar zum Ausdruck. Marx kommentiert einen Rezensenten des Buches, der geschrieben hatte (Hervorhebungen von mir):
Der wissenschaftliche Wert solcher Forschung liegt in der Aufklärung der besondren Gesetze, welche Entstehung, Existenz, Entwicklung, Tod eines gegebenen gesellschaftlichen Organismus und seinen Ersatz durch einen andren, höheren regeln. Und diesen Wert hat in der Tat das Buch von Marx.
Marx dazu:
Indem der Herr Verfasser das, was er meine wirkliche Methode nennt, so treffend und, soweit meine persönliche Anwendung derselben in Betracht kommt, so wohlwollend schildert, was andres hat er geschildert als die dialektische Methode?
Und weiter:
In ihrer rationellen Gestalt ist [die Dialektik] dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.
Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt – die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heilige, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken.
Apropos Dialektik einpauken. Lenin schrieb in seinem Fragment »Zur Frage der Dialektik« (Hervorhebungen von mir):
Entwicklung ist „Kampf« der Gegensätze. Die beiden grundlegenden (oder möglichen? oder in der Geschichte zu beobachtenden) Auffassungen der Entwicklung (Evolution) sind: Entwicklung als Verkleinerung und Vergrößerung, als Wiederholung; und Entwicklung als Einheit der Gegensätze (Spaltung des Einheitlichen in einander ausschließende Gegensätze und deren gegenseitige Beziehung).
… Nur die zweite liefert den Schlüssel zum Verständnis der „Selbstbewegung« alles Seienden; nur sie liefert den Schlüssel zum Verständnis der „Sprünge«, der „Unterbrechung im Aufeinander«, der „Verwandlung in das Gegenteil«, der Vernichtung des Alten und Entstehung des Neuen.
Stalin in »Über dialektischen und historischen Materialismus (Hervorhebungen von mir)«:
Im Gegensatz zur Metaphysik geht die Dialektik davon aus, dass den Naturdingen, den Naturerscheinungen innere Widersprüche eigen sind, denn sie alle haben ihre negative und positive Seite, ihre Vergangenheit und Zukunft, ihr Ablebendes und sich Entwickelndes, dass der Kampf dieser Gegensätze, der Kampf zwischen Altem und Neuem, zwischen Absterbendem und neu Entstehendem, zwischen Ablebendem und sich Entwickelndem, den inneren Gehalt des Entwicklungsprozesses, den inneren Gehalt des Umschlagens quantitativer Veränderungen in qualitative bildet.
Darum ergibt sich aus der dialektischen Methode, dass der Prozess der Entwicklung von Niederem zu Höherem nicht in Form einer harmonischen Entfaltung der Erscheinungen verläuft, sondern in Form eines Hervorbrechens der Widersprüche, die den Dingen und Erscheinungen eigen sind, in Form eines „Kampfes“ gegensätzlicher Tendenzen, die auf der Grundlage dieser Widersprüche wirksam sind.
… Wenn die Welt sich in ununterbrochener Bewegung und Entwicklung befindet, wenn das Absterben des Alten und das Heranwachsen des Neuen ein Entwicklungsgesetz ist, so ist es klar, dass es keine „unerschütterlichen“ gesellschaftlichen Zustände, keine „ewigen Prinzipien“ des Privateigentums und der Ausbeutung, keine „ewigen Ideen“ der Unterwerfung der Bauern unter die Gutsbesitzer, der Arbeiter unter die Kapitalisten mehr gibt.
Also kann man die kapitalistische Ordnung durch die sozialistische Ordnung ersetzen, ebenso wie die kapitalistische Ordnung seinerzeit die Feudalordnung ersetzt hat.
Und schließlich Mao Tse-Tung in seiner Schrift »Über den Widerspruch« (Hervorhebungen von mir):
Das Gesetz des den Dingen innewohnenden Widerspruchs oder das Gesetz der Einheit der Gegensätze ist das Grundgesetz der Natur und der Gesellschaft und folglich auch des Denkens. … Vom Gesichtspunkt des dialektischen Materialismus existiert der Widerspruch in allen Prozessen, die sich an objektiv existierenden Dingen sowie im subjektiven Denken abspielen, und durchläuft alle Prozesse von Anfang bis Ende.
Bis Ende, wohlgemerkt. Bis keine Widersprüche mehr übrig sind. Bis alles perfekt ist. Und wir sehen hier auch die Analogsetzung der Logik von Gedanken mit der Logik der materiellen Wirklichkeit, die, wie gesagt, ein Kernaspekt des Hegelschen Projekts ist. Wenn man sie akzeptiert, liegt es nahe, zu meinen: Wenn man es so denken kann, kann man es auch so umsetzen.
Im Westen kam es nicht zur Revolution, aber dafür wurden diese Ideen im akademischen Betrieb gepflegt und weiterentwickelt. Das folgende ist ein Zitat aus der (wohlwollenden) Erläuterung zum Aufsatz »Traditionelle und Kritische Theorie«, in dem Max Horkheimer den Grundstein für die kritische Theorie gelegt hat, in einer aktuellen Ausgabe (S. 113f.).
Andererseits darf kritische Theorie keine bloße Utopie werden, denn als ›ortloses‹ Denken müsste sie wiederum ihre soziale Bedingtheit verleugnen. Stattdessen zielt sie auf eine vernünftige Einrichtung der Gesellschaft, die Horkheimer (mit Marx) vage beschreibt als »Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist« (S. 44). Ihr Gehalt wird nicht von den kritischen Theoretiker*innen am Schreibtisch erdacht, sondern konkretisiert sich in den sozialen Kämpfen, in denen die Möglichkeit aufscheint, dass die in der bürgerlichen Gesellschaft bloß zufälligen Übereinstimmungen von »Denken und Sein, Verstand und Sinnlichkeit, menschlichen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung« (S. 45) auf vernünftige Weise zustande kommen.
Es wird also kein konkretes Bild von der angestrebten Gesellschaft vorgestellt. Ein solches Bild können wir nach dieser Auffassung gar nicht denken, weil wir immer von der bestehenden, alten Gesellschaft geprägt und in unserem Denken beschränkt sind. Der Standpunkt, es handele sich deswegen nicht um Utopismus, ist jedoch fadenscheinig, da auch oder gerade mit der abstrakteren Beschreibung der »Gemeinschaft freier Menschen« das Bild einer Utopie gezeichnet wird, das eine Projektionsfläche für Wunschdenken aller Art bietet.
Der Begriff »vernünftig« steht hier nicht zufällig. Horkheimer beobachtet durchaus richtig, dass die Gesellschaft eine Form und Struktur hat, die sich aus mehr oder weniger blinden, ungesteuerten historischen und sozialen Prozessen ergibt und im Ganzen nicht auf rationaler Überlegung beruht. Diese Selbstläufigkeit sozialer Prozesse, die teils unerfreuliche Auswirkungen hat, soll überwunden werden, um der Gesellschaft an ihrer Stelle eine »vernünftige« Struktur zu geben, was so viel heißt wie eine Struktur, die man sich wünschen würde.
Da die emanzipierte Gesellschaft weder ausgemalt werden darf noch sich an den Maßstäben der gegenwärtigen Gesellschaft orientieren kann, bleibt Horkheimers Zielbestimmung notwendigerweise unklar. Dies wurde vielfach kritisiert. Man kann darin jedoch auch eine Stärke sehen, wenn man den Emanzipationsbegriff negativistisch deutet, so dass er »die Minimierung von Herrschaftsbeziehungen und nicht eine soziale Welt ohne oder jenseits von Machtbeziehungen bezeichnet«. In dieser Lesart zielt kritische Theorie nicht auf eine fixe Gesellschaftsordnung und wäre ›fertig‹, sobald diese erreicht ist, sondern bezeichnet die unendliche Aufgabe, jeweils von neuem scharfe Herrschaftskritik zu üben.
Also: Negation. Das positive Ziel wird nicht artikuliert (du sollst dir kein Bildnis machen …). Stattdessen wird kontinuierlich das aufgezeigt und negiert, woran man sich stört; »Herrschaftsbeziehungen«. Heute sind wir im Postmodernismus angekommen, wo so ziemlich alles eine Herrschaftsbeziehung ist. Manspreading, Mikroaggressionen, Heteronormativität, Familismus, Adultismus und so weiter. In jedem Sprachakt und jedem Bröckchen Wissen macht sich aus Sicht des politisch-aktivistischen Postmodernismus die allumfassende Herrschaftsstruktur geltend. Deshalb muss folgerichtig auch so ziemlich alles kontinuierlich negiert werden, in der Erwartung, dass sich dadurch irgendwie, irgendwann spontan die nicht näher umschriebene »emanzipierte Gesellschaft« manifestiert.
»It’s not going to work this time, either« (James Lindsay).
Antirassismus als Antithese
Der neue sogenannte Antirassismus ist besonders klar als dialektische Antithese in diesem Sinn erkennbar. Es zeigt sich bereits im Namen: »Anti-Rassismus« als Antithese zum Rassismus und einziges Mittel, das gegen ihn hilft. Für den neuen Antirassismus gibt es keine neutrale Position. Man kann nicht einfach nicht rassistisch sein und dadurch den Rassismus aussterben lassen. Man kann auch nicht auf verschiedene Arten gegen Rassismus sein oder verschiedene Strategien gegen ihn für geeignet halten. Man ist entweder Rassist oder Antirassist. Nur die Antithese kann über den Istzustand hinausführen. Und wie sieht die aus, was heißt es, Antirassist zu sein? Es heißt, sich dem angenommenen allgegenwärtigen Rassismus gewissermaßen wie dessen Spiegelbild entgegenzustellen, und zwar ebenso permanent, wie sich nach antirassistischer Ansicht der Rassismus gesellschaftlich geltend macht. Sich ihm entgegenzustellen wiederum heißt, ihn überall bewusst und sichtbar zu machen und zu verurteilen. Gleichzeitig gilt es dem Privileg der Weißen entgegenzuwirken, indem man sie irgendwie erniedrigt und/oder die Nichtweißen aufwertet. Wird dem Rassismus oft und stark genug die Antithese entgegengesetzt, also der Antirassismus, heben sich beide irgendwann in einem Zustand der Gleichheit gegenseitig auf.
Ferda Ataman hat, wie ähnlich ausgerichtete Akteure, die Funktion einer Antithese oder Negation. Was bedeuten Äußerungen wie die, sie lege »den Finger in die Wunde«? Welchen Sinn hat es, den Finger in eine Wunde zu legen? Es hat den Sinn, spürbar zu machen, dass da eine Wunde ist. Es ist das dialektische Hervorkitzeln und Aneinanderschlagen der Widersprüche, die, so die Annahme, ohne jemanden wie Ataman unbemerkt blieben, so dass die Entwicklung nicht vorankäme.
Deshalb kümmert es ihre Unterstützer nicht, dass ihre Rhetorik giftig ist und bereits die Nachricht ihrer Nominierung eher Fronten verhärtet als Verständigung angebahnt hat. Verständigung, Versöhnung oder Güte bringen uns nicht weiter. Sie erscheinen als nutzloses Appeasement gegenüber dem Status Quo, in dem die Ungleichheit aus dieser Sicht so tief verwurzelt ist, dass das ganze System sein innerstes Wesen verändern muss, um ihr beizukommen. Und das geht nur durch die Magie der Dialektik, deren Treibstoff Widersprüche sind, und die generative Kraft der Widersprüche mobilisiert man, indem man den Dingen ihre Negation entgegensetzt.
Aktivisten der Negation
Das alles mag als ziemliche Überinterpretation anmuten. Aber wie erklärt man sich dann das Verhalten und vor allem die positive Resonanz von Ataman und anderen? Weitere Beispiele sind Jasmina Kuhnke, die sich auf Twitter brüstete, ein Hashtag »#whitedevil« zum Trend gemacht zu haben, Malcolm Ohanwe, der im Kino weiße Männer, Frauen und Kinder hängen sehen möchte und vor einem schwarzen Diktator kniende Weiße als seinen »feuchten Traum« bezeichnete, und Mohamed Amjahid, der Migranten aufruft, »Bibis zu machen«, um Konservative auf demographischem Weg aus der Politik zu drängen. Solche Akteure haben Zehntausende Follower und werden von großen Medien hofiert. Warum? Wie stellen sie und ihr Publikum sich den Wirkmechanismus vor, durch den diese dümmlichen Provokationen zu einer besseren Gesellschaft führen sollen?
Die Antwort ist: dialektisch. Das Modell taucht in seinen Grundzügen im Postmodernismus wieder auf, wo Mainstream-Wissen immer mit unterdrückerischer Herrschaft verwoben ist und es daher gilt, marginalisiertes Wissen und marginalisierte Perspektiven stark zu machen. Das ist die Legitimation für das verbale Um-sich-Schlagen der Genannten. Sie sind die Unterdrückten, und wenn die Unterdrückten über Unterdrückung klagen und sich Gehör verschaffen, ist das automatisch ein Schritt in die richtige Richtung. Die Idee ist, dass ihre radikalen Äußerungen als Antithese zur herrschenden rassistischen Ungleichheit funktionieren und so die Entwicklung hin zu einer Synthese antreiben, in der alle gleich sind.
Bei Amjahids denkwürdigem Beitrag über »die gefährliche weiße Frau im Park« ist diese Strategie besonders transparent. Er dreht die Vorstellung um 180 Grad um, dass arabische Männer im öffentlichen Raum eine Gefahr für weiße Frauen seien, und setzt ihr nach dem Schema »Mann beißt Hund« die Antithese entgegen, weiße Frauen als Gefahr für arabische Männer. »Counter-Narratives«, wie es im Umfeld der Critical Race Theory auch heißt, oder mit einem Ausdruck von Derrick Bell, dem Urvater der CRT, »Racism Hypos«. Das ist eine Kurzform für »Racism Hypotheticals«, erfundene (!) Geschichten über Rassismus, die die Realität (!) des Rassismus verdeutlichen sollten. Das Machtgefälle zwischen Weißen und Nichtweißen ist evident, und deshalb ist automatisch alles wahr, was dieses Machtgefälle anprangert, auch wenn es im Detail beziehungsweise im herkömmlichen Sinn nicht wahr ist. Für Hegel wie Postmodernisten ist Wahrheit historisch relativ.
Meine These ist nicht, dass diese Personen an Hegel denken, wenn sie so reden und handeln, oder überhaupt je an Hegel denken. Auch nicht, dass sie eine ausartikulierte Theorie von ihrer Strategie haben. Menschen können auch von Ideen inspiriert sein, ohne sich dessen voll bewusst zu sein, ohne diese Ideen zu verstehen und ohne zu wissen, woher sie ursprünglich kommen. Das ist sogar vielmehr die Regel als die Ausnahme. Wir übernehmen weitgehend automatisch alles Mögliche, was wir beobachten und aufschnappen, wenn es zu unseren Bedürfnissen passt, ohne bewusst darüber nachzudenken und uns darüber Rechenschaft zu geben, was genau wir da tun und warum. Deshalb können bei jungen Aktivisten problemlos Fragmente von Hegel, Marx, der kritischen Theorie oder dem Postmodernismus auftauchen, ohne dass sie irgendetwas davon gelesen haben müssen. Es wird vor allem über die Universitäten an die Massen durchgereicht. Auf den höheren Ebenen gibt es einige, die all das intensiv studieren, aber man muss es nicht intensiv studieren, um eine Ideologie zu verinnerlichen, die sich daraus entwickelt hat. Dazu ist kein tiefes, differenziertes Wissen nötig (für Aktivisten ist es generell eher hinderlich) und man kann das Nötige relativ mühelos aufschnappen. Hegel hat über Marx und die Kritische Theorie großen Einfluss auf die moderne Linke ausgeübt, der unabhängig davon wirkt, wieweit einzelne Aktivisten sich dessen bewusst sind.
Darüber hinaus können Menschen auch unabhängig voneinander auf ähnliche Ideen kommen, wenn sie unter ähnlichen Bedingungen leben und sich mit ähnlichen Problemen auseinandersetzen. Darauf komme ich weiter unten zurück.
Bei Akteuren wie den eben genannten sind sicherlich auch Narzissmus und schlicht Bereicherungsstreben – Stichwort »Geschäftsmodell« – als Antriebe in Betracht zu ziehen. Sie spielen meiner Ansicht nach auch eine tragende Rolle. Das ändert jedoch nichts daran, dass das Ganze einer legitimierenden Ideologie bedarf. Diese Leute sagen ja nicht zu ihrem Publikum »ich will Aufmerksamkeit« oder »ich will mich bereichern«. Das würde nicht funktionieren. Hier geht es um das, was sie wirklich zu tun behaupten; um das Theaterstück, das sie aufführen, mit welchen Motiven auch immer, und um die Frage, warum das so eine Zugkraft entwickelt.
Warum es nicht funktioniert
Zweifellos ist Kritik in der richtigen Dosis, an der richtigen Stelle und in der richtigen Form unverzichtbar. Es steckt auch insofern ein Körnchen Wahrheit in diesem Verfahren, als die Lösung eines Problems oft voraussetzt, sich dieses erst einmal bewusst zu machen. Doch wie man es hier nicht mit der üblichen Common-Sense-Vorstellung von Fortschritt zu tun hat, hat man es hier auch nicht mit der üblichen Common-Sense-Vorstellung von Kritik zu tun. Horkheimer in »Traditionelle und kritische Theorie«:
Wenngleich [das »kritische Verhalten«] aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewussten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, dass irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere. Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat (S. 30).
Kritik ist potenziell etwas Gutes und in der richtigen Form etwas Unverzichtbares. Doch man kann auch Probleme falsch diagnostizieren, mit Kritik falsche Prämissen in die Lösungssuche hineintragen und auf Lösungen setzen, die alles nur schlimmer machen. Ich beschreibe im Folgenden drei fundamentale Konstruktionsfehler der aktivistisch-dialektischen Strategie, die wir überall um uns herum am Werk sehen.
1. Sie misst gesellschaftliche Wirklichkeit an einer fiktiven Idealvorstellung und nicht am realistisch Möglichen im Guten wie im Schlechten.
Etwas Bestehendes wird negiert, indem man sichtbar macht, dass es unvollkommen ist. Doch der Maßstab dafür ist nie ein realistischer, sondern immer ein fiktives Ideal. Das Ideal, der vollkommene Endzustand, hat den Stellenwert einer Gottheit.
Nehmen wir die heute allgegenwärtige Negation von Geschlecht als Beispiel, die ungefähr so lautet: Unser Begriff von Geschlecht ist unvollkommen und falsch, weil er nur zwei Geschlechter vorsieht und damit abweichende Fälle ausschließt, und weil er die Geschlechter auf Stereotype festlegt, womit er die Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen einschränkt. Die Synthese, die dem abhelfen soll, ist zunächst »Gender« als Unterscheidung zwischen biologischem und »sozialem Geschlecht« und nach der nächsten dialektischen Umdrehung die vollkommene Leugnung des biologischen Geschlechts, weil die Anerkennung zweier biologischer Geschlechter immer noch Menschen »ausschließe«, »Gender« hin oder her.
Die Idealvorstellung ist hier ein Begriff von Geschlecht, der die Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht und Geschlechterrollen sowie alle Varianten und Sonderfälle im Auftreten von Geschlechtsmerkmalen und damit verbundenen Identitäten umfassend abbildet, mit dem Ziel, eine freie Entwicklung all dieser angenommenen Geschlechtsidentitäten zu ermöglichen. Die Negation setzt daran an, dass der herkömmliche Geschlechtsbegriff in dieser Hinsicht unvollkommen sei, also hinter dem Ideal zurückbleibe, was zur Folge habe, dass Menschen (mit diversen Geschlechtsidentitäten) ihr Potenzial nicht verwirklichen können – sie bekommen etwas einschränkendes Überliefertes aufgedrückt, statt frei zu sich selbst finden zu können.
Ein realistischer Blick würde hier zumindest auch in Rechnung stellen, dass die Begriffe »Geschlecht« sowie »männlich« und »weiblich«, so unzureichend sie in mancher Hinsicht sein mögen, durchaus auf evidente Realitäten verweisen, die elementar wichtig sind. Und er würde dies zum Anlass nehmen, das alles nicht einfach im Hauruck-Verfahren zu verwerfen. Doch der Fokus der Aktivisten ist immer ganz auf das gerichtet, was ein Begriff oder eine Praxis aus ihrer Sicht nicht leistet, während sie das ignorieren, was er/sie leistet. Sie messen das Bestehende an einem Ideal, in diesem Fall an einem aus ihrer Sicht perfekten Geschlechtsbegriff, der die volle Komplexität des Themas erfasst und abbildet, und zerlegen den bestehenden, weil er hinter diesem Anspruch zurückbleibt. Es gibt keine Kosten-Nutzen-Abwägung; es gibt nur den Tunnelblick auf das, was unvollkommen erscheint, und die Notwendigkeit seiner Überwindung.
Das Ergebnis ist jedoch kein »reichhaltigerer Begriff«, wie es in der Hegel-Einführung hieß, sondern ein zerfaserter, ausgehöhlter und künstlicher Geschlechtsbegriff, der tendenziell überhaupt nichts mehr erfasst. Frau ist, wer sich als Frau fühlt, während unbestimmt bleibt, was »Frau« überhaupt bedeutet. Man sieht hier deutlich die Handschrift der Negation, denn klar und den Aktivisten wichtig ist hier nur, was eine Frau nach dieser Auffassung nicht ist (das, was der allgemeine Sprachgebrauch mit dem Wort meint). Hauptsache Negation, der Rest ergibt sich.
Die Idee, dass z. B. ein Mädchen, das kurze Haare trägt und gerne Fußball spielt, ein Trans-Junge sein müsse, bringt nun zugleich die Geschlechternormen mit doppelter Wucht (und mit Skalpell bewaffnet) zurück, die das Ganze angeblich aufbrechen und überwinden sollte. Solche Widersprüchlichkeit, von denen die Trans-Ideologie überquillt, ist Folge einer tiefen ontologischen Verwirrung, die aus dem Tunnelblick auf die am Maßstab des Ideals identifizierten »Probleme« sowie aus der Weltfremdheit dieser Form der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit resultiert (siehe unten). Und die Verwirrung ist nicht unbedingt ein Unfall. Verwirrung kann uns – vorübergehend – vor dem Schmerz bewahren, den ein unverstellter Blick auf die Wirklichkeit mit sich bringen kann.
Mit Blick auf die Dialektik als »Methode« ist hier festzustellen, dass sie nicht funktioniert. Warum nicht? Weil aus der Negation nicht automatisch etwas Neues und Überlegenes folgt. Die Annahme, dass dies geschehe, ist der magische, alchemische Anteil des Ganzen. Auch die Professoren Emundts und Horstmann sind an der entscheidenden Stelle unterwältigt:
Hegel selbst hat allerdings sehr wenig dazu getan, den genauen Sinn dieser beiden Voraussetzungen [die die Dialektik beschreiben, siehe ganz oben] deutlich zu machen, obwohl er sie virtuos handhabt. Dies hat dazu geführt, dass unmittelbar nach seinem Tod eine mittlerweile längst unübersichtlich gewordene, aber keineswegs zu einem Abschluss gekommene Diskussion eingesetzt hat, die die Interpretation dieser beiden Voraussetzungen zum Gegenstand hat. … Vor allem die von Hegel oft gepriesene wahrheitsgenerierende Rolle des Widerspruchs hat sich im Zusammenhang der Diskussion um die in der Wissenschaft der Logik exponierte sogenannte ›dialektische Methode‹, die Hegel selbst eher als ’spekulative Methode‹ bezeichnet …, als ein schwer zugängliches Lehrstück erwiesen (S. 62).
Zurück zur Praxis. Das Prinzip, das Bestehende nur an einem fiktiven Ideal zu messen, führt dazu, dass man erstens alles kaputtkritisieren kann, weil in der Realität nichts ideal ist, und dass man zweitens nicht auf dem Schirm hat, wie gut oder schlecht die bestehende Lösung im Vergleich zu anderen realistisch denkbaren und machbaren Lösungen abschneidet. Der Ökonom Thomas Sowell hat einmal festgestellt, dass man den meisten linken Argumenten den Wind aus den Segeln nehmen könne, indem man drei Fragen stellt: »Im Vergleich zu was?«, »Zu welchem Preis?« und »Welche harte Evidenz hast du dafür?« Hier sind alle drei einschlägig.
Im Vergleich zu was? Der Vergleich ist immer ein fiktives Ideal, und das Nichtideale wird verurteilt. Der Vergleichsmaßstab ist immer ein fiktiver, nie ein realistischer.
Zu welchem Preis? Der Preis, den die Gesellschaft für das Kaputtkritisieren bezahlt, wird ignoriert. Was hat zum Beispiel Gendersprache eigentlich konkret gebracht und was kostet sie demgegenüber, nicht nur in Geld, sondern auch in Spaltung und Reibungsverlusten? Was kostet es, wenn künftige Generationen unseren gesamten Literaturkanon als moralisch abstoßend empfinden, weil er nicht gegendert ist? Ist es ein gutes Geschäft, das alles in die Tonne zu treten? Und noch einmal: was bekommen wir dafür genau? »Quarks« und »funk«?
Welche harte Evidenz? So gut wie keine. Es gibt Studien, die zeigen, dass Gendersprache einem für den Augenblick andere (weiblichere) Bilder in den Kopf setzt. Aber daraus zu schließen, dass ihre Benutzung langfristig zu erheblichen Veränderungen im Sozialverhalten oder in der Berufswahl führt, ist von da aus immer noch ein riesiger Sprung in den Glauben, nicht zuletzt, weil wir aus vielen Studien wissen, dass sich geschlechtstypische Interessen in Ländern mit mehr Wohlstand und Chancengleichheit stärker geltend machen und nicht weniger stark (Bspw. hier). Das widerlegt den populären Glauben, dass diese Interessenunterschiede allesamt anerzogen seien. Gleichzeitig gibt es keine Korrelation zwischen dem Stellenwert von Geschlecht in der Sprache und Gleichberechtigung oder Chancengleichheit in den entsprechenden Ländern. Die harte Evidenz für den Nutzen der Gendersprache ist, kurz, nicht besonders hart. Und auch wenn man die besagten Studien über weiblichere Bilder im Kopf großzügig als Evidenz gelten lässt, ist noch nichts über die Kosten und die Bilanz gesagt.
Doch das Ideal der vollkommenen Gesellschaft ist eine moralisch absolute Größe. Deshalb kann man es nicht gegen etwas anderes abwägen, und man kann dementsprechend auch nicht fragen, was es kostet, ihm zur Verwirklichung zu verhelfen. Es ist einfach das, was passieren und getan werden muss, Punkt.
2. Sie reduziert gesellschaftliche Probleme auf die relative Einfachheit einer Begriffsoperation und macht sich dadurch blind für Komplexität und die unweigerlich folgenden unbeabsichtigten Wirkungen ihres Bemühens.
Die postmodernistisch geprägte Linke, aber auch die Linke überhaupt, neigt dazu, sich stark auf Sprache zu fixieren und die sprachliche Beschreibung von Dingen mit den Dingen selbst zu verwechseln. Dies ist unmittelbar mit dem obigen Punkt verbunden, dass die Wirklichkeit am Ideal gemessen wird. Das Ideal findet man in der Sprache, oder man kann es zumindest in ihr konstruieren. Begriffe sind immer Idealtypen, und Wörter sind geduldig. In der Sphäre der Sprache kann man jedes Problem lösen, indem man einfach »umdenkt«. Deshalb neigen Vertreter dieser Perspektive zu der Annahme, alle Probleme ließen sich durch ein »Umdenken« lösen, oder führen umgekehrt die Tatsache, dass Probleme nicht verschwinden, auf die verbreitete Verweigerung eines »Umdenkens« aus Trägheit oder Bösartigkeit zurück. Das schlagendste Beispiel ist das verbreitete Festhalten an der Idee des Kommunismus trotz des überwältigen Ausmaßes an Mord und Zerstörung, das er gebracht hat – dies ist den Worten, mit denen er beschrieben wird, ja nicht anzumerken.
Man kann ihn schön (wenngleich vage) beschreiben, also muss man ihn irgendwie auch umsetzen können. Zu diesem unwillkürlichen Schließen von der Sprache auf die Wirklichkeit liefert der Postmodernismus die passende Philosophie, die bestätigt, das alle Wirklichkeit nur sprachliche Konstruktion sei. Das macht Sprachspezialisten (vor allem Geisteswissenschaftler, Künstler und linguistisch begabte Hochstapler) zu Spezialisten für Wirklichkeitsformung, und deshalb setzt das alles an der Sprache an.
Nehmen wir noch einmal das Beispiel Geschlecht. »Männlich« und »weiblich«, als Wörter betrachtet, sind zwei getrennte Kategorien, die sich nicht überschneiden. Allein die Wörter »Mann« und »Frau« bilden auch nicht ab, dass es unter den Männern wie den Frauen Variation gibt. Die Wörter »Mann« und »männlich« sowie »Frau« und »weiblich« sind immer exakt gleich. Aber alle Männer und Frauen sind doch in Hinblick auf ihre Männlichkeit und Weiblichkeit nicht exakt gleich! Von hier aus gelangt man unmittelbar zur oben erwähnten Kritik, die behauptet, die zwei bestehenden Geschlechterkategorien seien für die Wirklichkeit der Geschlechter zu eng und zu starr.
Was dieser Sichtweise fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, dass es eine materielle Wirklichkeit gibt, die der Sprache vorgeordnet und breiter, tiefer und komplexer ist als sie. Heute ist die Annahme populär, dass die Realität überhaupt nur in Form sprachlicher Begriffe in unser Bewusstsein gelange. Das ist ein schwerer Irrtum und ein fundamentales Missverständnis des Verhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit. Wir können schon im Kleinkindalter vieles elementar Wichtiges wahrnehmen und unterscheiden, bevor wir über Sprache verfügen. Ein Gesicht, eine menschliche Stimme, ein menschlicher Körper ist schon für einen Säugling hochgradig bedeutungsvoll. Tiere deuten ihre Umwelt ganz ohne Sprache. Wir tun es auf vielfältige Weise ebenfalls. Wir bringen einen großen Reichtum des Erlebens mit, den wir durch Sprache ordnen, kommunizieren und reflektieren, der aber nicht durch Sprache erst entsteht und auch nicht mit ihren Bedeutungen deckungsgleich ist.
Wie kann ein Begriff wie »Mann« oder »Frau« überhaupt Informationen übermitteln? Er kann es nur, weil der Adressat ein Ensemble von eigenen Vorstellungen und Erfahrungen damit verbindet. Diese werden nicht auf magische Weise mit dem Wort übertragen, sondern stecken in seinem Erleben, seinen Instinkten, seiner Vorstellung und Erinnerung und werden durch das Wort nur aufgerufen. Gleichzeitig übermittelt der Sprecher durch Kontext und Ausdruck Informationen darüber, wie er den Begriff versteht. Dadurch kann man sich aufeinander einstellen und es bleibt gewährleistet, dass die Begriffsverständnisse der Beteiligten grob übereinstimmen. Sie müssen aber nicht exakt zu 100 Prozent übereinstimmen und können das streng genommen auch gar nicht. Damit jedes Individuum seine individuelle Sicht in gemeinsamen Begriffen ausdrücken kann, müssen die Begriffe in ihrer herkömmlichen Form weitaus mehr Variabilität zulassen, als man vermuten würde, wenn man sich auf die Wörter und allgemeinen Definitionen fixiert, die in jedem Anwendungsfall identisch sind. Es sind allgemeine (objektive) Kategorien, in denen viele unterschiedliche Spezialfälle (und Subjektivitäten) Platz finden. So funktioniert Sprache.
Die Fixierung auf Sprache und das (sehr hegelianische) Missverständnis der Sprache als Abbildung der Form und Funktionsweise der Wirklichkeit trägt eine gefährliche Seelenblindheit in die Auseinandersetzung mit der Welt hinein. Die Annahme, dass ich glauben müsse, alle Frauen seien im Hinblick auf ihre Geschlechtlichkeit gleich, weil ich denselben Begriff »Frau« für sie verwende, ist erstaunlich weltfremd. Die Fixierung auf Sprache schreibt Menschen eine traurige geistige und emotionale Armut zu, indem sie unterstellt, dass ihr Denken und Erleben nicht tiefer, differenzierter und komplexer sei als die Wörter, die sie benutzen. Und sie geht von einer nahezu beliebigen Umerziehbarkeit der Menschen aus, denn wenn deren Denken und Erleben ganz aus Wörtern besteht, kann man sie folglich entsprechend weitgehend umprogrammieren, indem man sie mit anderen Wörtern füttert oder vorhandene Wörter mit anderen Bedeutungen auflädt.
Wer unwillkürlich davon ausgeht, die ganze Wirklichkeit sei in der Sprache aufgehoben, ist dazu verdammt, immer wieder gut klingende Lösungen mit funktionierenden Lösungen zu verwechseln, denn er muss glauben, über ein Phänomen umfassend Bescheid zu wissen, wenn er es mit Worten beschreiben kann. Nicht zuletzt die Komplexität und Eigengesetzlichkeit der Psyche lässt sich bei Weitem nicht auf die Logik von Wörtern reduzieren. Umerziehungsversuche auf Basis dieser Annahme – zu denen auch die Gendersprache gehört – werden deshalb immer wieder scheitern und unvorhergesehene Wirkungen hervorbringen. Das atemberaubend krude Vorgehen des »Antirassismus« zur Abschaffung des Rassismus – Menschen penetrant des Rassismus beschuldigen in der Erwartung, dass sie davon weniger rassistisch werden – ist das beste Beispiel dafür. Auf sprachlicher Ebene mag das, was die Antirassisten tun, als Antithese durchgehen. Aber die Annahme, dass es in der Praxis auch in der gewünschten Richtung wirkt, beruht auf einem geistigen Kurzschluss, in dem diese Logik der Begriffe eins zu eins als Auskunft über das Funktionieren der Psyche und der Gesellschaft genommen wird, während unzählige soziale und psychische Kräfte und Variablen ausgeblendet werden.
Und wenn es schiefgeht und sich dies nicht ignorieren lässt, sind die entstandenen Probleme und Konflikte eben »Widersprüche«, die im Zuge des Verlaufs des dialektischen Prozesses auftreten und die Tür für neue Synthesen öffnen. Das ist normal und zeigt nur, dass der Prozess vorangeht. Horkheimer:
Die Theorie dagegen, die zur Transformation des gesellschaftlichen Ganzen treibt, hat zunächst zur Folge, daß sich der Kampf verschärft, mit dem sie verknüpft ist (S. 46f.).
3. Sie behandelt den Prozess der Entstehung von Kultur als Selbstläufer und untergräbt auf lange Sicht seine Bedingungen.
Wer sich auf Negation als Mechanismus gesellschaftlichen Fortschritts fokussiert, setzt als selbstverständlich voraus, dass überhaupt etwas da ist und immer wieder Neues entsteht, das man negieren und vervollkommnen kann. Doch wenn alle nur negieren würden, entstünde nichts. Neben denen, die negieren, muss es andere geben, die erschaffen. Doch wie in Punkt eins beschrieben, misst der negierende Ansatz die Wirklichkeit nur am Ideal und nicht etwa an einer Vergangenheit, die weitaus ärmer, brutaler und tödlicher war, oder an anderen Regionen, die es noch heute sind. Er weiß infolgedessen das Bestehende nicht zu schätzen und verkennt die gesellschaftliche Wirklichkeit. Das zeigt sich am deutlichsten in der verbreiteten Haltung, die Wirtschaft als Feind erscheinen lässt.
Dahinter steht nicht die Absicht, durch Zerstörung der Wirtschaft die Bevölkerung in Armut zu stürzen. Vielmehr nimmt man irgendwie an, dass man nach Herzenslust Wirtschaft bekämpfen könne, ohne damit den Prozess der Schaffung von Wohlstand zu beeinträchtigen. Hier liegt das eigentlich magische Element des Ganzen, das James Lindsay auch als Alchemie charakterisiert. Die magische Vorstellung ist die, dass die Perfektion den Dingen bereits innewohne, gewissermaßen als DNA und eingeschriebener Fluchtpunkt ihrer Entwicklung, so dass sich das Vollkommene irgendwie spontan von selbst manifestiert, wenn man nur das als schlecht Identifizierte wegklöppelt. Doch es ist kein magisch-mystisches Zu-sich-selbst-Finden der absoluten Idee, das Zivilisation entstehen und sich entwickeln lässt, sondern es sind Menschen, die kooperativ zusammenleben und arbeiten. Dass sie dies tun und dabei produktiv sind, ist nicht selbstverständlich, sondern an viele Bedingungen geknüpft; darunter bestimmte gemeinsame Normen und Wertvorstellungen. Sich nicht um diese Bedingungen zu scheren und sich aufs Wegklöppeln zu beschränken ist das sprichwörtliche Absägen des Astes, auf dem man sitzt (in dem Glauben, dadurch das spontane und rechtzeitige Nachwachsen eines besseren Astes auszulösen).
Nun kann man sagen, im Sinne einer Arbeitsteilung könne es doch sinnvoll sein, wenn die meisten Menschen aktiv an der Erschaffung von gesellschaftlichen Gütern beteiligt sind und einige wenige hauptberuflich Kritik üben und so auf eine weitere Verbesserung des Geschaffenen hinwirken. Als »kritischer« Sozialwissenschaftler hat man kaum eine andere Wahl, als diesen Standpunkt einzunehmen, um die eigene Tätigkeit zu legitimieren. Doch dies funktioniert aus zwei Gründen nicht.
Erstens geht ein Blick auf die Gesellschaft, der diese grundsätzlich nur am Ideal misst, mit der oben erwähnten Weltfremdheit und Seelenblindheit einher. Wer beispielsweise meint, es gebe einen bunten Kessel voller Geschlechter und die Kategorien »männlich« und »weiblich« seien irrelevant, der hat keine Ahnung, welche Rolle Geschlecht und insbesondere die spezifische Dynamik zwischen Männern und Frauen für die Identitäten und Motivationen von Menschen spielt (zu schweigen von Fortpflanzung). Entsprechend gering ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Jemand eine Geschlechterpolitik macht, die mehr nutzt als schadet. Wer meint, dass Fußballerinnen genauso viel verdienen müssten wie Fußballer, der hat (unter anderem) keine Ahnung, wie Märkte funktionieren. Und wer meint, man könne die Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen heilen, indem man eine im Namen der anderen beschimpft, schlägt alles in den Wind, was man über Psychologie und Geschichte weiß.
Diese Art von Kritik ist weder sinnvoll noch hilfreich, weil sie von weltfremden Positionen kommt und die Wirklichkeit, die sie kritisiert, nicht ansatzweise versteht. Zu viel Theorie, zu wenig frische Luft. Das wird umso mehr zum Problem – und das ist der zweite Grund -, je mehr die Politik der Negation in einer Kultur bestimmend wird, wie wir es derzeit erleben. Je mehr sich das Bemühen und die Aufmerksamkeit der Menschen auf Negation richten, desto weniger Bemühen und Aufmerksamkeit richten sich auf Produktion, Reproduktion und Kreativität, während die Negation selbst nicht nur sinnlos, sondern destruktiv ist, da sie alle Werte entwertet, die produktives Handeln motivieren könnten. Du willst eine Firma gründen? Kapitalistische Ausbeutung! Du willst in die Politik gehen? Machtstreben, toxische Männlichkeit! Du willst eine Familie gründen? Patriarchat, heteronormativ, rückwärtsgerichtet, Kinder sind Klimakiller!
Verloren geht nicht nur das Wissen, wie das gesellschaftliche Leben funktioniert und wie man es am Laufen hält, sondern schließlich auch jeder Wunsch, es am Laufen zu halten, weil man daran nichts Gutes mehr sieht. Seinen Gipfel erreicht dieser Prozess, wenn es zur Revolution oder zumindest zum Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung kommt. Dies wäre in der Theorie der Punkt, an dem die Negation des Ganzen zur Synthese hinführen sollte, also zur nächsten, vollkommeneren Entwicklungsstufe. Doch niemand weiß auch nur ansatzweise, wie diese nächste Entwicklungsstufe konkret aussieht und praktisch funktionieren soll. Die Vorstellung von ihr beruht nur auf Negation der alten, Wunschdenken und Wortakrobatik. An dieser Stelle kann immer wieder nur eine ruinöse Diktatur entstehen, die, soweit sie überhaupt lebt, von der Substanz lebt; von dem, was nicht dank ihr, sondern ihr zum Trotz noch irgendwie funktioniert.
Überlegungen zu den Wurzeln
Woher kommt die Politik der Negation? Lindsay würde sagen: von Hegel, und es ist zweifellos erhellend, die Linie von Hegel über Marx zur kritischen Theorie und schließlich Wokeness nachzuvollziehen. Aber ich glaube, das Ganze hat noch tiefere Wurzeln, die man sich vergegenwärtigen muss. Der reine Fokus auf Literatur hat etwas von Blank-Slate-Denken: Menschen denken so, weil das mal jemand so geschrieben hat. Aber das ist kein hinreichender Grund. Alles Mögliche ist mal irgendwo geschrieben worden. Warum wird nur manches davon aufgegriffen, und dies noch hochgradig selektiv? Warum sind manche Ideen so viral und beständig, wie sie sind?
Die allgemeine Antwort ist, weil diese Ideen mit Bedürfnissen derjenigen korrespondieren, die sie aufgreifen. Sie liefern den Menschen etwas, das sie brauchen; eine Orientierung, eine Perspektive oder eine Artikulation und Klärung von etwas, das sie selbst wahrnehmen. Das heißt nicht, dass die betreffenden Thesen richtig sein müssen – auch Verschwörungstheorien liefern Orientierung, Perspektive und (scheinbare) Klärung von etwas, das Menschen wahrnehmen. Aber wenn sie auch in wesentlichen Punkten unwahr sein sollten, geben sie doch insofern Auskunft über die Wirklichkeit, als sie Bedürfnisse und Wahrnehmungen aufzeigen, die die Menschen in einer bestimmten Epoche umtreiben. Sie sind Antworten auf Fragen und Probleme der Zeit, und auch wenn es katastrophal falsche Antworten sind – wie die Wokeness eine ist, da sie Beziehungen, Institutionen und seelische Gesundheit zerstört, ohne irgendein Problem zu lösen -, oder gerade wenn es falsche Antworten sind, müssen wir die Fragen ernst nehmen.
Im Folgenden beschreibe ich zwei Wurzeln der Politik der Negation, die ich zu erkennen glaube und die mir maßgeblich erscheinen.
1. Negation liegt intuitiv nahe. Zunächst einmal ist es nicht weiter erklärungsbedürftig, dass wir mit einem Nein auf Umstände reagieren, die uns missfallen, oder mit einem »das ist schlecht, weil«. Das ist einfach eine natürliche und spontane Reaktion auf Unlust, Missfallen oder Leiden.
Erklärungsbedürftig ist erst die Erwartung, dass dieses Nein oder diese Antithese automatisch zu einer Vervollkommnung der Sache führen werde. Doch sie hat eine reale Basis in der Position eines Kindes gegenüber den Eltern. Ein Kind muss nicht bessere Lösungen anbieten oder sich klarmachen, wie schwer die Eltern oder vorangehende Generationen gearbeitet haben, um ihm sein relativ komfortables Leben zu ermöglichen. Das alles liegt jenseits seines Horizonts, und das ist zunächst auch in Ordnung so. Das Kind bringt einfach zum Ausdruck, dass ihm etwas nicht gefällt, und auf scheinbar magische Weise bekommt es mit etwas Glück eine bessere Version dieses Etwas serviert. Insofern mag die beschriebene magische Denkfigur zum Teil Ausdruck einer kindlichen Denkweise sein.
In gewisser Hinsicht ist der Staatsbürger in einer analogen Situation, denn für manche Dinge ist der Staat zuständig und der Bürger kann nicht viel mehr tun, als sich zu beschweren, auf dass andere für Abhilfe sorgen.
»Vater Staat« ist trotz dieses Namens allerdings im Unterschied zu den Eltern ein unpersönliches, mitunter auch brutales Gebilde und kein liebendes, sorgendes, persönlich vertrautes Gegenüber. Ich vermute, dass ein wesentlicher Teil der woken Wut auf Staat, Gesellschaft und »alte weiße Männer« daher rührt, dass man in dieser Weise immer wieder mit kalten, unpersönlichen Strukturen konfrontiert ist, wo man sich nach warmer menschlicher Gemeinschaft und Obhut sehnt (die Anregung verdanke ich dem Buch »Autorität« von Richard Sennett). Das leitet über zur zweiten, interessanteren Wurzel.
2. Wir sehnen uns nach dem Erleben von Kohärenz und wissen, dass es möglich ist. Der Übergang in die Moderne hat die Menschen Europas in vieler Hinsicht entwurzelt. Er hat sie herausgelöst aus dem Kontext ihres angestammten Landes, aus ihren lokalen Familienverbänden und Gemeinschaften und im Zuge des Niedergangs der Religion auch aus einer ganzen Kosmologie, die bis dahin die Welt geordnet und den Menschen einen bestimmten, sinnhaften Platz in ihr zugewiesen hatte. Diese Entwurzelung hat eine Wunde und Sehnsucht bei den modernen Menschen hinterlassen, die sie danach streben lässt, die verlorene soziale Kohärenz zurückzugewinnen. Sie wissen aber nicht, wie das gehen könnte, und meistens wahrscheinlich nicht einmal, dass sie diese Sehnsucht haben und warum. Ich glaube, Wokeness ist ein – katastrophal fehlgeleiteter – Ausdruck dieser Sehnsucht und dieses Strebens.
Seit Urzeiten haben Menschen den Großteil ihres Lebens im Kreis ihrer Familie und eines überschaubaren Stammesverbandes verbracht, in dem sie jeden Anderen persönlich kannten. In solchen Gesellschaften war der Einzelne kontinuierlich in ein dicht geknüpftes Netz sozialer Beziehungen eingebunden, wobei diese Gruppen auch moralische Gemeinschaften waren, also Glaubensgemeinschaften im weitesten Sinn. Sie teilten ein Weltbild, ein Wertesystem und darauf abgestimmte Rituale und Verhaltensweisen.
Wir sind evolutionär auf eine Kontinuität und Einbindung dieser Art eingestellt, doch sie ist uns weitgehend verlorengegangen. Emotionale und spirituelle Bedürfnisse nach Beziehungen, Gemeinschaft und Sinn bleiben mehr oder weniger unbefriedigt. Zu den Folgen gehören die moderne Einsamkeit, die epidemische Ausbreitung von psychischer Krankheit und Sucht (vgl. »The Globalization of Addiction«) und der Sog in den Totalitarismus, der eine Überwindung der Vereinzelung und eine neue Verschmelzung mit der Gemeinschaft unter einer sich sorgenden, starken Autorität verspricht (vgl. »Die Furcht vor der Freiheit«).
Das Beste, was einem Menschen unter modernen Bedingungen passieren kann, ist das Aufwachsen in einer gesunden Familie. In jungen Jahren hat er dort ein Mindestmaß dieser sozialen Einbindung und Geborgenheit und kann sich beim Heranwachsen nach und nach auf die individualistische Gesellschaft einstellen und die Sozialkompetenzen lernen, die es ihm ermöglichen, in dieser Gesellschaft ein gutes Beziehungsnetz um sich herum zu kultivieren.
Es dürften primär diejenigen sein, die das nicht haben, also diejenigen aus verkrachten und dysfunktionalen Familien, die die moderne Gesellschaft als kalt und feindlich erleben, in ihr keinen erträglichen Platz finden und deshalb den Kampf gegen sie aufnehmen. (Die Korrelation zwischen politisch linken Einstellungen und psychischer Krankheit würde dies stützen.) Ihr Leiden ist real und nachvollziehbar. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft ist Teil unserer Natur. Die moderne Gesellschaft insgesamt ist aber keine »Gemeinschaft« in diesem Sinn. Sie ist zu groß, unübersichtlich und unpersönlich. Sie besteht aus lauter Fremden mit unterschiedlichsten Weltbildern und ist vielfach durch unpersönliche selbstläufige Mechanismen geformt. Die offizielle Stimme dieser Gesellschaft ist der Staat, ein wiederum relativ kaltes und fernes Gebilde von Institutionen, Regeln und Funktionären. Der Staat erfüllt wichtige Funktionen für das gesellschaftliche Leben, aber er bietet keine Gemeinschaft, kein menschliches Gesicht, keine bedeutungsvolle soziale Zugehörigkeit und Geborgenheit. (Und wenn er es versucht, wird es gefährlich.)
Wenn man sich sein Leben lang nach einer essentiellen Dosis sozialer Wärme und Zugehörigkeit sehnt, weil man sie in der Familie nicht erlebt hat, und dann notgedrungen versucht, sie in der individualisierten Massengesellschaft und ihren Institutionen zu finden, muss einem diese Gesellschaft als katastrophal unzureichend, wenn nicht als Monstrosität erscheinen. Es ist kein Wunder, dass man dann auch nicht auf der anderen Seite in Rechnung stellt, was diese Gesellschaft in Sachen Wohlstand, Sicherheit und Frieden leistet. Wenn elementare Bedürfnisse unbefriedigt sind, fixiert sich die Aufmerksamkeit auf diese Bedürfnisse und alles andere rückt in den Hintergrund.
Diese Grunderfahrung der Entfremdung und Vereinzelung in der westlichen Moderne könnte erklären, dass man heute Gedankengängen begegnet, die Ähnlichkeit mit denjenigen Hegels haben, ohne dass die heutigen Akteure direkt oder indirekt von Hegel informiert sein müssen. Beide könnten schlicht in ähnlicher Weise auf ähnliche gesellschaftliche Verhältnisse reagieren.
Bei Hegel geht es sehr explizit darum, eine verloren gegangene soziale Kohärenz wiederherzustellen. Seine Philosophie wird auch als sein »System« bezeichnet, weil sie immer dem Anspruch folgt, alles, wirklich alles miteinander in Zusammenhang zu bringen, wobei Hegel annahm, dass auch die Realität eine solche umfassende Kohärenz haben sollte und eines Tages werde. Dies ist der eingangs erwähnte perfekte Endzustand, bei Hegel die Verwirklichung der »absoluten Idee«. Dem Anspruch nach sollte Hegels System zugleich der würdige Nachfolger der christlichen Religion für das aufgeklärte Zeitalter sein, also eine neue Einbettung von Mensch und Gesellschaft in ein Sinnsystem ermöglichen, wie sie zuvor das Christentum geboten hatte:
Zu den Formen der Wirklichkeit zählen für Hegel nicht zur Sonnensysteme, physikalische Körper und die verschiedenen Erscheinungsweisen organischen Lebens wie z. B. Pflanzen, Tiere und Menschen, sondern auch psychische Phänomene, gesellschaftliche und staatliche Organisationsformen sowie die Produkte der schönen Künste und kulturelle Errungenschaften wie etwa Religionen und Philosophie. Alle diese Formen aus einem einzigen Prinzip auf systematische Weise zu erklären – und d. h., eine einheitliche Theorie der Wirklichkeit aufzustellen -, ist für Hegel deshalb eine unabweisbare Aufgabe der Philosophie, weil nur eine solche Theorie in der Lage ist, an die Stelle des Glaubens das Wissen treten zu lassen.
Emundts/Horstmann, S. 9f.
Die Wahrnehmung von Entwurzelung, Vereinzelung, Fragmentierung und Widersprüchlichkeit und das Bestreben, diese zu überwinden, sind Leitmotive seiner Philosophie:
Reflexionsphilosophie ist für Hegel zunächst als Ausdruck einer Zeit, einer geschichtlichen Situation bestimmt. Eine solche Zeit ist den Entzweiungen der Bildung, die das Produkt des als trennend und isolierend aufgefassten Verstandes ist, in der Weise verfallen, dass ihr die Überwindung der Entzweiung, die Wiederherstellung der durch den Verstand ›zerrissenen Harmonie‹ unmöglich ist.
Ebd., S. 25
Die Wiederherstellung der Harmonie kann der Verstand nicht leisten, dazu braucht es die »Vernunft« und das, was Hegel »Spekulation« nennt – die Dialektik. Ostritsch:
Spekulation ist die ureigene Aufgabe der Vernunft. Die spekulative Vernunft eint und harmonisiert. Sie geht wortwörtlich aufs Ganze. Darin unterscheidet sich die Vernunft vom Verstand. Dieser löst Gedanken und Begriffe in Einzelteile auf. Er abstrahiert und isoliert, er trennt und fixiert (S. 22).
Wir alle kennen aus eigener Erfahrung ein mehr oder weniger breites Spektrum von Zuständen zwischen weitgehender Harmonie und schmerzlicher Disharmonie. Vielleicht spielt hier wiederum das kindliche Erleben eine Rolle. Als Kind kann man in verschiedenen Situationen eine vorübergehend unbeschwerte Vollkommenheit erleben, die nahe an perfektes Glück heranreicht und für Erwachsene weniger zum Alltag gehört. Doch auch Letztere erleben Momente, in denen alles zu stimmen scheint. Ein Hinweis darauf, dass die Vorstellung der herzustellenden Harmonie und die Gewissheit ihrer Möglichkeit in Gefühlen der Erfüllung wurzelt, findet sich bei Hegel (bzw. Emundts und Horstmann, S. 24):
… Dieser frühen Konzeption zufolge verweist das Gefühl der Liebe eindringlich – und hier kommt Metaphysik ins Spiel – auf die wahre Verfassung der Wirklichkeit, die darin besteht, Einheit zu sein, die alle Trennungen und Entgegensetzungen zugrunde liegt und diese erst ermöglicht.
Was auch immer die Wurzel genau ist – sofern wir das Erleben von Harmonie kennen, wissen wir, dass es möglich ist, und haben einen inneren Antrieb, nach solcher Harmonie zu streben. Wenn wir ihr ein Stück näherkommen, spüren wir unmittelbar, dass dies gut ist. Auf der anderen Seite haben wir die ausgeführte moderne Vereinzelung und Entfremdung als Quelle von Disharmonie. Aus dem inneren Erleben der Möglichkeit von Harmonie rührt die Gewissheit, dass diese möglich ist, und aus dem permanenten Erleben von bestimmten Formen der Disharmonie rührt die Gewissheit, dass die gegebenen Verhältnisse »falsch« seien.
Dieses Erleben ist so tief und evident, dass alles, was der daraus abgeleiteten Programmatik widerspricht, unwillkürlich als falsch erscheint und für falsch erklärt werden kann, unabhängig vom argumentativen Gehalt. Die Erhebung des Gefühls über die Rationalität findet man heute im Konzept der »lived experience« wieder, das den Anspruch erhebt, dass jemandes Erfahrung unbedingte Beweiskraft haben soll. Er fühlt sich unterdrückt, also ist er unterdrückt. Ich bin Opfer, also bin ich.
Und nun?
Was macht man nun mit diesen Überlegungen? Leider bietet sich keine offensichtliche oder einfache Lösung an. So etwas wie die Heterodox Academy von Jonathan Haidt wäre wichtig und sollte Schule machen. Die Organisation setzt sich dafür ein, im Wissenschaftsbetrieb mehr Perspektiven- und Meinungsvielfalt zu schaffen. So etwas bräuchten wir auch für andere Institutionen – wie Schulen, Verwaltung und Medien -, um dem Sektendenken entgegenzuwirken, das sich dort immer mehr ausbreitet und festsetzt, seit wir das Konzept »Pluralismus« abgeschafft und durch »Diversity« ersetzt haben, womit eine Mischung von Vertretern verschiedener intersektionaler Identitätsgruppen mit demselben politischen Standpunkt gemeint ist.
Es wäre wichtig, etwas gegen seelische Krankheit zu tun, umso mehr, da diese von Generation Z an noch einmal drastisch zuzunehmen scheint. Leider ist das leichter gesagt als getan. Das Buch »The Coddling of the American Mind« geht den Ursachen des negativen Trends nach und unterbreitet einige praktische Vorschläge zur Abhilfe.
Auch Vernachlässigung und Misshandlung in Familien sind vertrackte Probleme. Häufig ist klar genug, dass man eigentlich eingreifen müsste, aber wer ist »man«? Niemand kann garantieren, dass aus entsprechend offensivem Eingreifen des Staates in Familien nicht im gleichen oder größeren Umfang neues Elend entstünde. Auch staatliche Akteure können inkompetent und Missbraucher sein oder trotz bester Bemühungen eine schlimme Situation noch verschlimmern.
Wir müssten uns jedenfalls den Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit und pathologischen politischen Systemen klarer vor Augen führen. Wir ordnen das eine in die Kategorie »Politik« oder »Geschichte« und das andere in »Psychologie« ein – völlig unterschiedliche Fächer. Aber wenn man sich Gestalten wie Hitler, Lenin, Stalin und Mao anschaut, hat man ein Gruselkabinett von verkrachten Existenzen und Psychopathen vor sich. Und wenn man die Massen unter ihnen mit in den Blick nimmt, wird das Gruselkabinett noch um einiges größer. Davon müssen wir uns alle angesprochen fühlen. Es gibt extrem gestörte Individuen und relativ gesunde, aber wir alle tragen eine dunkle Seite mit uns herum, wenn wir nicht gerade Jesus Christus oder der Buddha sind, und damit entsprechende Impulse und Potenziale.
Leider scheinen besonders die Gestörten eine Kombination von Entschlossenheit und Charisma mitzubringen, die mehr oder weniger normale Menschen dazu verführt, sich ihnen anzuschließen. Sie laden die Massen ein, der Wirklichkeit ins Gesicht zu spucken, sich ihren dunklen und irrationalen Impulsen hinzugeben und ihnen in einen Fiebertraum zu folgen. Sie werden zu Flying Monkeys. Für viele ist das reizvoll. Sie ahnen vielleicht, dass es ein Spiel mit dem Feuer ist, aber sie nehmen das hin oder haben sogar Lust darauf. In der heutigen Postmoderne ist es eher ein Netzwerk vieler kleiner und mittelgroßer Akteure als ein charismatischer Führer, das uns in Fieberträume teils lockt und teils treibt. Gleichwohl bleibt es ein Spiel mit dem Feuer, der Verlockung zu folgen, und wir nehmen das hin oder haben sogar Lust darauf.
Man kann leicht auch den Eindruck gewinnen, dass jede Hochkultur irgendwann ausgebrannt ist und wir gerade an diesen Punkt kommen. Douglas Murrays aktuelles Buch »The War on the West« beschreibt detailliert, wie der Westen an vielen Fronten gegen sich selbst Krieg führt. Insofern ist Wokeness nur die Spitze des Eisbergs. Es ist dringend nötig, ihren Griff nach der Macht abzuwehren, aber es ist keine Lösung des tieferen Problems, aus dem sie erwächst. Wir müssen den Brand löschen, aber danach ist das Haus immer noch morsch und brandgefährdet. Was machen wir mit dem tieferen Problem, unserer kollektiven Sinn- und Identitätskrise? Manche glauben, man könne nur noch dem Niedergang zusehen und/oder auswandern. Wer optimistisch bleiben will, muss darauf setzen, dass irgendwie eine kulturelle Erneuerung des Liberalismus möglich ist, die uns von dieser neurotischen Sucht nach Selbstzerstörung befreit und befähigt, uns in einer positiven und realistischen Weise zu uns selbst in Beziehung zu setzen.
Ich stand am Schluss von »Der rassistische Antirassismus« schon mal an diesem Punkt, vor dieser Frage, was man angesichts dieses Großschlamassels tun kann und soll. Dort habe ich die Philosophie von Jordan Peterson angeführt, die auf so etwas wie das Erwachsenwerden des Individuums als Immunisierung gegen kollektive Wahnsysteme und Quelle der kontinuierlichen kulturellen Erneuerung zielt. Natürlich ist Peterson nicht der erste oder einzige, der in diese Richtung denkt, nur aktuell wohl der bekannteste und einflussreichste. Ich habe dies dort als ambitioniertes Projekt und relativ schwache Hoffnung eingestuft, aber auch als die realistischste, die ich sehe.
In der Mitte bliebe als eine Art Strategie der spirituellen Selbstrettung, mit Alexander Solschenizyn gesprochen, »der einfache Schritt eines einfachen tapferen Mannes: sich nicht an der Lüge zu beteiligen, keine verlogenen Handlungen zu unterstützen! ›Mag dies alles sich in der Welt ausbreiten, etwa gar die Welt beherrschen – aber nicht durch mich.‹ « Das allein ist schwer genug.