Dass unter anderem der öffentlich-rechtliche Rundfunk inzwischen wie selbstverständlich die Vorstellung für überholt oder ungültig erklärt, dass es zwei Geschlechter gibt, geht auf die Jahrzehnte alte Praxis der Sozialwissenschaften zurück, nicht auf dem gesicherten Wissen der Naturwissenschaften aufzubauen, sondern es weitgehend zu ignorieren und eine unverbundene Parallelstruktur daneben hochzuziehen. Dadurch können Sozialwissenschaftler recht großzügig behaupten, was sie wollen, ohne sich mit anspruchsvollen Fächern wie Biologie, Physik, Mathematik oder selbst einer empirisch arbeitenden Psychologie auseinandersetzen zu müssen.
Und Sozialwissenschaftler sind bestimmend für die Art und Weise, wie die Gesellschaft sich selbst interpretiert. Sie sind die Sachverständigen, die von der Politik beauftragt werden, um gesellschaftliche Fragen zu beantworten, und sie gehen selbst in Politik, Medien, Bildung und Verwaltung.
Es ist also kein Wunder, dass die dominante Interpretation der Gesellschaft eine ist, die nahelegt, dass man tatsächlich nur die Sozialwissenschaften brauche, um Mensch und Gesellschaft zu verstehen. Diese Auffassung bedeutet Arbeitsplätze, Legitimation und Selbstwertgefühl für Sozialwissenschaftler.
Die Vorstellung vom Menschen als »unbeschriebenes Blatt«, wie der Psychologe Steven Pinker sie nannte, hat ältere Wurzeln. In vormodernen Zeiten waren die sozialen Kontraste groß und man dachte, dass etwa die unterschiedlichen Verhaltensformen von Adligen und Bauern irgendwie erblich bedingt seien. Ähnlich glaubt man »Rassenunterschiede« wahrzunehmen, die tatsächlich nur Kulturunterschiede waren. In der Moderne wurde klar, dass Erziehung und Sozialisation eine größere Rolle spielten als früher gedacht. Doch man hat auf den Irrtum überreagiert und nahm nun an, dass Biologie überhaupt keine Rolle spiele; dass wir von Natur aus gewissermaßen austauschbare, identische Rohlinge seien, die sich mit einer beliebigen kulturellen Software beschreiben ließen. Deshalb ist heute der Zeitgeist so besessen von Sprache, Symbolik und Umerziehung.
Das Problem geht also auf tiefere und ältere Erfahrungen unserer Gesellschaften zurück; es ist das verfluchte Pendel, das immer zu weit schwingt. Doch die Sozialwissenschaften haben die Vorstellung vom unbeschriebenen Blatt in den letzten Jahrzehnten immer weiter radikalisiert. Heute so weit, dass wir die körperliche Realität einfach als ungültig betrachten sollen, weil nur die Software zählt. Transfrauen sind Frauen.
1992 erschien der brillante Aufsatz »The Psychological Foundations of Culture« (hier als PDF verfügbar) der Psychologen John Tooby und Leda Cosmides, in dem dieser Aufbau einer Parallelstruktur des unbeschriebenen Blattes in den Sozialwissenschaften nachgezeichnet und messerscharf kritisiert wird. Sie nennen sie das Standard Social Science Model (SSSM). Der Text wurde zum Gründungsdokument der evolutionären Psychologie und vermutlich zur Inspiration für das Buch »Das unbeschriebene Blatt«, das rund 10 Jahre später erschien und Tooby und Cosmides gewidmet ist.
Das unbeschriebene Blatt und die korrespondierende Vorstellung einer Entstehung der Gesellschaft aus sich selbst heraus ist auch die logische Basis für die Theologie des Marxismus, in der der Mensch sein eigener Schöpfer ist, beziehungsweise dazu wird.
»Rasse« und Geschlecht sind deswegen die zwei vorrangigen Schlachtfelder der heutigen Linken, weil an ihnen für jeden klar zu sehen ist, dass Menschen von Natur aus nicht völlig gleich sind. Die Linke muss die Interpretation von Ethnizität und Geschlecht unter ihre Kontrolle bringen, um den Glauben an das unbeschriebene Blatt und die totale Gleichheit als Natur und Ideal des Menschen aufrechterhalten zu können. Da ethnische und Geschlechterunterschiede evident sind, wird diese Kontrolle immer prekär sein und muss mit ständigem Aufwand erneuert werden.
»Rasse« und Geschlecht sind nicht analog. Zwischen den Geschlechtern gibt es eine essentielle Komplementarität, während die Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen vergleichsweise geringfügig und oberflächlich sind. Dennoch machen Ethnizität und Geschlecht in ähnlicher Weise evident, dass Menschen eine Natur haben, die sich nicht in Beliebigkeit erschöpft. Deswegen wird an ihnen der Sozialkonstruktivismus besonders aggressiv durchgesetzt, und deshalb nimmt das dort so irre Formen an.