Dieser Text ist ursprünglich bei bei »Der Sandwirt« erschienen.
„Die Forderung der Ideologie ist die, dass der Mensch – ein unberechenbares und spontanes Wesen – aufhört, als solcher zu existieren, und dass alle Menschen Entwicklungsgesetzen unterworfen werden, die einer ideologischen Wahrheit folgen. Deshalb verlangt die Abkehr von einer unzuverlässigen Realität hin zu einer kohärenten Fantasie eine absolute Auslöschung menschlicher Spontanität und Freiheit.“
Dies schrieb Roger Berkowitz, akademischer Direktor des Hannah Arendt Center for Politics and Humanities in einem Beitrag über die Realitätsflucht des Totalitarismus letztes Jahr für das Magazin „Quillette“. Doch es könnte sich genauso gut um eine Aufgabenbeschreibung für einen der sogenannten „Sensitivity Reader“ handeln, die neuerdings in Verlagen ihr Unwesen treiben.
Sensitivity Reader sind sozusagen die Politkommissare unter den Lektoren. Sie kümmern sich im Auftrag von Verlagen darum, dass entstehende Texte in politisch korrekten Bahnen bleiben, oder bearbeiten sogar ältere Werke entsprechend nach. In den letzten Wochen wurde beispielsweise bekannt, dass die berühmten Kinderbücher von Roald Dahl sowie die James-Bond-Romane von Ian Fleming für Neuausgaben politisch korrekt überarbeitet wurden. Immerhin folgte darauf der verdiente öffentliche Aufschrei.
Wenn Verlage rassismuskritisch lesen lassen
Ende Januar berichtete der Autor Sören Sieg in der FAZ ausführlich über das Wüten einer Sensitivity Readerin im Manuskript seines Reiseberichts über – oh je! – Afrika. Es gelang ihm schließlich nach monatelangen Verhandlungen, seinen Text mit relativ milden Änderungen durchzuboxen. Doch Widerständige und Whistleblower wie er sind immer nur die Spitze des Eisbergs.
„Sie erinnern sich, dass wir viele unserer Texte rassismuskritisch lesen lassen“, teilte ihm der Verlag PenguinRandomhouse mit. „Das ist ein wichtiges Standardverfahren, das wir seit einer Weile etabliert und schon bei mehreren Werken angewendet haben. Denn leider rutschen immer wieder Betrachtungen, Haltungen, Termini und Überlegungen durch, die beleidigend für schwarze Menschen und generell strukturell benachteiligte Personen sein können. Das geschieht unbewusst. Gerade deshalb und aus unserer Verantwortung als Verlag, Autor*innen und Kreative gegenüber People of Color heraus müssen wir uns Texte aber umso genauer ansehen.“
Natürlich geht es nicht darum, Beleidigungen zu vermeiden. Wenn hier etwas ein „wichtiges Standardverfahren“ ist, dann für Woke-Aktivisten der Einsatz von trojanischen Pferden, wie wir ihn hier beispielhaft vor uns haben: Im Bauch eines trivialen Anliegens, dem jeder zustimmen kann (niemanden unnötig beleidigen), wird ein umfassendes ideologisches Weltbild mit Anspruch auf Alleingültigkeit eingeschmuggelt. Schon durch die Formulierung „generell strukturell benachteiligte Personen“ wieselt man sich aus der Beschränkung auf die „rassismuskritische“ Sorge über „schwarze Menschen“ heraus, denn strukturell benachteiligt sind in diesem Weltbild alle außer gesunden, wohlhabenden, gutaussehenden und christlichen heterosexuellen weißen Männern. Im Ergebnis ist das Sensitivity Reading für alles zuständig. Doch mit dem Verweis auf „Rassismus“ und „schwarze Menschen“ verkauft es sich am besten.
Erzählerischer Kahlschlag
Aus den Eingriffen der Sensitivity Readerin spricht die verblüffende Selbstgewissheit eines Menschen, der genau weiß, wie die Welt wahrzunehmen und zu deuten ist. Quelle dieses Wissens ist eine Ideologie, die so schlicht und vorhersagbar ist, dass ein Bot wie ChatGPT ihre Anwendung mit etwas Training mühelos meistern würde. Übrig bleibt eine Literatur, die alles Individuelle, Überraschende und Widerständige, das die Lektüre zum Erlebnis und Erkenntnismoment machen könnte, alles Authentische und Lebendige zugunsten ideologischer Konformität verloren hat.
Dazu gehört erst einmal, alle Beschreibungen der äußeren Erscheinung von Personen zu entfernen. Ausdrücke wie „hübsch“, „schlank“, „füllig“, „dick“, „hellhäutig“, „mit ebenmäßigen Gesichtszügen“, „den Kopf glattrasiert“, „groß“, „klein“, „stämmig“, „wuchtig“ und „kräftig“ wurden aus Siegs Manuskript gestrichen. Einen schwedischen Missionar namens Daniel hatte er so beschrieben: „Er hat eine hellbraune Haut, Vollglatze und eine spitz nach vorn gebogene Nase, breite Schultern, stark wie ein Ochse, wie er selbst sagt, und ist arabischer Herkunft.“ Übrig blieb: „Daniel ist arabischer Herkunft.“ Sieg präsentiert mehrere Beispiele für solchen erzählerischen Kahlschlag. Den besonderen Zorn der Sensitivity Readerin erregt die Beschreibung des Äußeren von Frauen durch den männlichen Autor. In wunderschöner Blockwart-Diktion herrscht sie ihn an: „Sie wissen schon, dass Sie die Körper von Frauen nicht zu kommentieren haben!“ – Was erlauben Literatur?
Afrika gibt es gar nicht
Für sein Buch ist Sieg einige Monate durch Äthiopien, Uganda, Kenia, Tansania, Südafrika und Ghana gereist und hat sich als Couchsurfer unters Volk gemischt. Klingt nach besten Voraussetzungen, um einige interessante Eindrücke zu vermitteln, wie Land und Leute so sind. Doch das sensible Lektorat grätscht dazwischen: Man schreibe rassistische Stereotype fort, wenn man behaupte, dass Afrikaner irgendwie seien, zum Beispiel „lebhaft“. Ja, es gibt noch nicht einmal Afrika. Afrika ist eine kolonialistische Konstruktion. Deshalb wird das Wort „Afrika“ sensibel aus dem Reisebericht über Afrika gestrichen, während die Einheimischen es selbst benutzen.
Auch ein Zitat des US-Ökonomen Thomas Sowell fällt dem Rotstift zum Opfer, in dem das bekannte Bild des Lastentragens auf dem Kopf mit Transportproblemen in Verbindung gebracht wird, die Subsahara-Afrika in seiner Entwicklung gebremst hätten. Dies nähre das Klischee der Rückständigkeit Afrikas, tadelt die Zensorin. Eine Szene beschreibt, wie der Autor in Begleitung seines Sohnes von Soldaten mit Gewehren bedroht wird, weil er ein paar Bäume fotografiert hat. Auch das missfällt ihr: Mit der Erzählung reproduziere er „kolonial-rassistische Machtstrukturen“, unabhängig davon, ob er das intendiere, und auch wenn die Geschichte genau so passiert sei.
Allgegenwärtige Unterdrückung
In ihrem Buch „Zynische Theorien“ beschreiben Helen Pluckrose und James Lindsay detailliert die postmodern und neomarxistisch geprägte Theoriefamilie, aus der das Denken entspringt, das wir „Wokeness“ nennen und das bei den Eingriffen der Sensitivity Readerin von PenguinRandomhouse durchscheint. Sie identifizieren vier Leitmotive im postmodernistischen Denken, von denen ich hier zwei relevante herausgreife, um dem Geschehen näher auf den Grund zu gehen: die Macht der Sprache sowie der Verlust des Individuellen und des Universellen.
Die Macht der Sprache ist fast selbsterklärend, da dieses Leitmotiv sämtlichen sprachreformerischen Bemühungen entsprechend informierter Aktivisten zugrunde liegt, die wir aus dem Alltag kennen. Die Annahme ist, dass Sprache tiefgreifend Wahrnehmung und Denken forme und dadurch wesentlich für die Aufrechterhaltung der ebenso tiefgreifend unterdrückerischen Gesellschaftsstruktur verantwortlich sei. Sprache und Macht gelten als untrennbar miteinander verflochten. Daraus ergibt sich eine besonders perfide Art von Unterdrückung, die zugleich allgegenwärtig und meist unsichtbar ist.
Wir haben es nicht nur mit herrschenden und beherrschten Klassen zu tun, sondern das Herrschaftsverhältnis ist in jedem Einzelnen durch verinnerlichte Sprach- und Denkmuster präsent. Jeder, der an herrschenden „Diskursen“ teilnimmt – also irgendetwas sagt –, begeht damit sozusagen einen Herrschaftsakt, indem er diejenigen Weltdeutungen reproduziert, die Herrschende privilegieren und andere ausschließen.
Wir müssen also beim Sprechen und Schreiben wie auf Eierschalen gehen, um nicht ungewollt Herrschaft und Unterdrückung zu reproduzieren. Streng genommen bedarf es kritischen Bewusstseins, also theoretischer Schulung, um überhaupt eine Chance zu haben, dieser Falle zu entkommen. Deshalb bemühen sich die Aktivisten, möglichst viele Menschen durch das Bildungssystem, Diversity-Trainings und so weiter solcher Schulung zu unterziehen.
Die Gruppe ist alles
Der Verlust des Individuellen und des Universellen folgt aus dieser Auffassung von Sprache und Menschennatur. Menschen sind durch „Diskurse“ und vor allem durch ihre jeweilige Position in der Unterdrückungsordnung gewissermaßen programmiert, die Welt auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen. Das Individuum ist immer nur Sprachrohr seiner Identitätsgruppe, deren Identität sich ihrer spezifischen unterdrückten oder privilegierten Position verdankt. Wenn es mehr oder anderes zu sein behauptet, hat es „falsches Bewusstsein“ und macht sich etwas vor. Das heißt auch: Wer die spezifische Unterdrückung, die ein anderer erleidet, nicht aus eigener Erfahrung kennt, kann diese letztlich nicht verstehen.
Das Universelle auf der anderen Seite fällt weg, weil verschiedene Kulturen ihre je eigenen Sprachen und Diskurse haben. An etwas Universelles zu glauben hieße, der Welt quasi-kolonialistisch die eigenen Vorstellungen aufzuzwingen, die doch nur die Voreingenommenheiten der eigenen sozialen Position widerspiegeln.
Kunst und Kommunikation werden unmöglich
Dieses Weltbild macht Kunst unmöglich. In der Kunst geht es gerade darum, Begegnungen mit dem Universellen im Individuellen zu ermöglichen. Das macht ihren Zauber aus. Eine mir fremde Person auf einem anderen Kontinent schreibt einen Roman, malt ein Bild oder komponiert ein Lied. Das Werk hat für mich Neuigkeitswert, aber ich finde darin auch etwas Vertrautes. Ganz ohne Vertrautes wäre es nicht interessant. Ich habe bei der Rezeption das Gefühl, mehr über Dinge zu erfahren, von denen ich bereits wusste. Das bereits Gewusste ist das Universelle der menschlichen Erfahrung, das ich mit dem Künstler teile, und das Mehr ist sein Individuelles, das durch die Kunstrezeption mein Individuelles bereichert. Danach weiß ich mehr darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein, und habe mehr, in dem ich mich mit anderen verbunden fühlen kann.
Wokeness setzt all dem ein Ende. Sie leugnet, dass sich Angehörige verschiedener Identitätsgruppen auf einer Basis gemeinsamer Menschlichkeit begegnen können, also als Menschen, die in ihrem Menschsein etwas gemeinsam haben und sich darüber verständigen können – nicht nur trotz ihrer Differenzen, sondern gerade auch durch die Differenzen, denn sie machen den anderen interessant und einzigartig und sind zugleich Spielarten des Vertrauten.
Andere Essenssitten sind immer noch Essenssitten. Die Wahrnehmung des Gemeinsamen ist die entscheidende Kraft, um Rassismus und Vorurteile zu überwinden. Das bezeugt der schwarze US-Musiker Daryl Davis, der unter anderem für seine merkwürdige Angewohnheit bekannt ist, sich mit Mitgliedern des Ku-Klux-Klan anzufreunden, die daraufhin aus dem rassistischen Geheimbund austreten.
Atemberaubende Hybris
Man muss die politischen Postmodernisten für ihre totalitären Ambitionen fürchten – aber auch für die Armut ihres Menschenbildes bemitleiden. Und beides hängt eng zusammen. Ihre totalitären Ambitionen haben sie ja deshalb, weil sie den Menschen nichts zutrauen. Beziehungsweise nur Schlechtes. Menschen verwenden Kunst und andere Formen der Kommunikation, um auszudrücken, wie sie diese große, komplizierte, unübersichtliche Welt wahrnehmen, und helfen dadurch anderen, sich ein vollständigeres und facettenreicheres Bild von ihr zu formen. Und das muss man sich nicht harmonistisch vorstellen. Auch die Begegnung mit Differenzen ist informativ.
Dieser Prozess der Artikulation und wechselseitigen Abstimmung über die Wirklichkeit, immer ausgehend von der authentischen Wahrnehmung der Individuen, ist essenzieller Teil des Menschseins. Jeder trägt einen kleinen Teil zur Deutung der Welt bei, die täglich, stündlich, minütlich neu gedeutet werden will. Unsere Deutungen konkurrieren miteinander, korrigieren einander, knüpfen aneinander an, werden fallengelassen oder zu Teilen eines breiteren Konsenses, und der – immer begrenzte – Konsens ist eine Grundlage, auf der wir zusammenkommen und etwas aufbauen können.
In atemberaubender Hybris maßen sich Aktivisten (und Verlage) nun an, zu unterstellen, dass wir die Wirklichkeit besser in den Griff bekämen, wenn der Prozess der Auseinandersetzung mit ihr nicht mehr frei, sondern von ihnen kontrolliert wäre. Sie halten sich für qualifiziert, zentral darüber zu entscheiden, was andere sagen und hören dürfen, was andere wissen müssen und denken sollen, welche Informationen und Mitteilungen andere weiterbringen und welche nicht.
Selbstmord aus Angst vor dem Tod
Sie wollen den korrupten Soldaten aus dem Reisebericht streichen, weil sie den Menschen nicht zutrauen, dessen Auftritt gut genug einordnen zu können, um nicht anschließend ganz Afrika nach ihm zu beurteilen. Doch zum Kennenlernen eines Landes gehören auch die dunklen Seiten, ebenso wie zum Kennenlernen von Menschen. Zur Wirklichkeit gehören immer auch die sprichwörtlichen Ecken und Kanten; das Schmerzliche, das, woran man sich stößt, was man nicht versteht, was man nicht sehen und hören will.
Wokeness will all diese Ecken und Kanten abschleifen, weil sie den Menschen nicht zutraut, vernünftig mit ihnen umzugehen – und, wie man totalitarismustheoretisch mutmaßen kann, weil Wokeness häufig von Personen vorangetrieben wird, die selbst tatsächlich nicht damit umgehen können.
Doch das Sich-Einlassen auf diese Ecken und Kanten ist die einzige Möglichkeit, Begegnung und Verständigung stattfinden zu lassen. Dabei ist auch mal etwas unangenehm, ist auch mal jemand gekränkt, beleidigt, erschüttert oder auch wütend. Das gehört dazu. Das unbedingt ausschließen zu wollen wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Wenn ein Buch beleidigend ist, können Menschen es zurückweisen. Wenn es sie wütend macht, können sie ihre Wut in Worten oder eigenen Werken ausdrücken. Das ist Verständigung. Das ist Kultur. Das ist nötig. Solange wir mit Worten streiten, streiten wir nicht mit Fäusten.
Das Projekt, durch zentrale Zensur die ganze Kultur so zu bereinigen, dass niemand mehr jemals eine Äußerung als anstößig empfinden kann, ist totalitärer Wahnsinn. Selbst wenn das möglich wäre, würde es nicht zu einer besseren Welt führen, sondern zu einer Welt voller Menschen, die über nichts Bedeutungsvolles mehr miteinander kommunizieren, die nicht mehr reifen, die keinen Charakter mehr formen und die unfähig zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit sind, die ja bereits an sich schmerzhaft und anstößig ist, unabhängig davon, wie man über sie spricht.
Bereits jetzt liefern US-Universitäten einen Vorgeschmack davon, wie das aussähe: Erwachsene Kinder fordern lautstark, vor unangenehmen Wörtern, Themen und Rednern beschützt zu werden, die irgendwie ihre „Sicherheit“ bedrohen sollen, und fallen in einer Weise über Dissidenten her, dass man meint, eine Neuverfilmung von „Die Welle“ vor sich zu haben. Eine Dokumentation und Analyse dieser Entwicklung findet man in dem Buch „The Coddling of the American Mind“ von Haidt und Lukianoff.
Eine selbsterfüllende Prophezeiung
Das Projekt der Kulturbereinigung kleidet sich stets in die Sprache von Mitgefühl und „Sensibilität“. Aber es bringt Menschen hervor, die so verletzlich, neurotisch und narzisstisch sind, dass sie zu Mitgefühl und Sensibilität gar nicht mehr fähig sind, es sei denn zur Sensibilität von Sektierern, die ein feines Gespür für Verletzungen ihrer Doktrin haben. Was so geprägte Menschen am wenigsten können, ist, sich über kulturelle Differenzen hinweg mit anderen zu verständigen. Dazu braucht es eine halbwegs dicke Haut, Großzügigkeit, Toleranz, Grazie, soziale Intelligenz, Neugier, die Bereitschaft, kleine Missklänge zu übersehen und zu vergeben, eine Offenheit für das Universelle im Individuellen. Also all das, was Menschen mit der Haltung eines Sensitivity Readers nicht mitbringen, weil ihre Theorie verlangt, dass sie überall Unterdrückung sehen und anprangern.
Berkowitz schreibt mit Bezug auf Hannah Arendt: „Weil eine Ideologie ‚alle Faktizität als Erfindung betrachtet, kennt sie kein verlässliches Kriterium zur Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit mehr‘. Während die Realität zurückweicht, organisieren Ideologien die Gesellschaft für die Transformation ihrer Ideen in gelebte Wirklichkeit.“
Die Theorie wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Sie behauptet, dass über die Gruppengrenzen hinweg keine Kommunikation möglich sei, und schafft Bedingungen, unter denen sie wirklich nicht mehr möglich ist.