Schockwellen gingen durch die Linke, als bekannt wurde, dass die FDP bei der Bundestagswahl die größte Gruppe von Erstwählern für sich gewinnen konnte. Teresa Bücker, die ehemalige Chefredakteurin des feministischen Magazins Edition F, twitterte:
Aus dem »hört auf die Jungen!« wird unter geeigneten Umständen auch ganz schnell ein »die Jungen sind Idioten!«:
Auf der Linken herrscht eine Art Dogma, dass der einzelne Mensch in Bezug auf sein Schicksal wenig ausrichten könne und es daher autoritäre Eingriffe in welcher Form auch immer brauche, um ihm Chancen zu eröffnen. Aber dieses Dogma ist erstens nicht wahr und zweitens schädlich, da es als selbsterfüllende Prophezeiung wirkt. Dies ist ein Aspekt des tieferen Problems, dass wir in einer Kultur leben, die den Glauben an sich selbst verloren hat.
Umverteilung versus Produktion
Bückers Tweet hat ein unfreiwillig komisches Moment, wo sie sagt, Wohlstand »entstehe« durch Erbe. Das ist der große Konstruktionsfehler der Umverteilungslogik, und sie hat Recht, für die Quotenlogik gilt Ähnliches. Wenn man sie darauf anspräche, wüsste sie sicher auch, dass Wohlstand durch Erbe weitergegeben wird, aber nicht durch Erbe entsteht. Dennoch ist die Wortwahl verräterisch, denn die Blindheit und das Desinteresse vieler Linker an der Frage, wie Wohlstand entsteht, ist tatsächlich endemisch und passt nur zu gut dazu.
Die Umverteilungslogik besagt, man könne doch einfach den Reichen ein Stück ihres Reichtums wegnehmen, um ihn den Armen und dem Staat zu geben, so dass die Armen nicht mehr Arm wären und der Staat sinnvolle Dinge für die Gesellschaft tun könne, während die Reichen immer noch mehr als genug hätten. Klingt gut. Doch das Problem ist, dass dieser Gedankengang die Schaffung von Wohlstand als unabhängige Variable behandelt, als sprudelte jedes Jahr automatisch eine bestimmte Menge Wohlstand aus einer Bergquelle, den man dann nach Belieben verteilen kann. Dem ist nicht so, wie man an vielen Ländern sehen kann, in denen kein Wohlstand sprudelt. Wohlstandsproduktion ist voraussetzungsvoll. Es braucht dazu bestimmte Bedingungen, und wenn diese gesellschaftliche Maschinerie einmal kaputt ist, lässt sie sich nicht so leicht wiederherstellen. Eine wesentliche Kraft, die sie treibt, ist in bestimmten Formen organisierte menschliche Arbeit. Dazu gehören auch unternehmerische Initiative und Führung. Diejenigen, die auf Umverteilung setzen, müssten eigentlich froh sein, dass es andere gibt, die nicht auf Umverteilung setzen, denn wenn alle das täten, gäbe es nichts umzuverteilen.
Umverteilung ist immer ein Eingriff in die Bedingungen, die Wohlstand überhaupt hervorbringen. Das heißt nicht, dass überhaupt keine Umverteilung möglich oder sinnvoll wäre. Aber es gibt Grenzen. Ab irgendeinem Punkt lohnt sich ein Unternehmen betriebswirtschaftlich oder für die Unternehmerperson nicht mehr. Auch in der Rolle eines Angestellten leidet die Arbeitsmotivation unter einer hohen Steuerlast. Nebenbei: Auch die Frauenquote, die Bücker als Analogie anführt, ist ein Eingriff in die Bedingungen, die das Gut, um das es dabei geht – demokratisch legitimierte Machtpositionen -, überhaupt ermöglichen. Man will die demokratische Macht gerechter verteilen und greift dazu in demokratische Prozesse ein. An irgendeinem Punkt bewirken solche Eingriffe aber, dass man kein demokratisches System mehr hat und es somit auch keine demokratische Macht mehr zu verteilen gibt.
All das gilt in der Potenz, wenn es um den »Systemwechsel« geht, von dem viele Linke viel reden und träumen. Sie stellen sich vor, dass ihr neues System, das sie kontrollieren, wie selbstverständlich einen für alles und jeden ausreichenden Wohlstandskuchen zur Verfügung hätte, mit dem sie dann verfahren könnten, wie sie wollen, was in eine Art sozialistischem Schlaraffenland münden würde. In ihrer Vorstellung kann man den Nutzen der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft genießen, ohne die Kosten zu tragen. Das schließt neben den sozialen Kosten auch die ökologischen ein, da sie davon ausgehen, dass nach ihrem Systemwechsel auch die ökologischen Probleme gelöst seien. In Wirklichkeit würde es weder den großzügigen Kuchen noch diese wundersame Problemlösekompetenz geben, da das autoritäre Umverteilungssystem so ziemlich alle Bedingungen zerstören würde, die Menschen und Gesellschaften blühen lassen.
Die Blindheit des Umverteilungsdenkens für die Bedingungen der Wohlstandsproduktion umfasst auch den ganzen Komplex der Handlungsfähigkeit, der Akteursqualität von Menschen. Sie kommt darin praktisch nicht vor. Die radikale Linke stellt der liberalen Illusion eines absolut ungebundenen und unabhängigen Individuums das andere Extrem gegenüber, ein Weltbild, in dem Individualität vor lauter sozialer Determination überhaupt keine Rolle mehr spielt und Freiheit nur vom Staat kommen kann.
Arbeit versus Protest
Tatsächlich ist es eine absurde Vorstellung, dass Arbeit nichts bringe, wenn man einmal darüber nachdenkt. Der eine Schüler faulenzt, der andere gibt sich kontinuierlich Mühe, zu lernen, und der Faulenzer hat am Ende dieselben Chancen wie der Fleißige? Wie soll das zugehen? Losen Firmen die Bewerber aus, die sie einstellen? Losen Menschen die Anbieter aus, bei denen sie kaufen, oder die Künstler, deren Werke sie rezipieren? Hat die Wahl nicht doch etwas mit deren Leistung zu tun? Gut, wenn es darum geht, Millionen anzuhäufen, sind die Chancen eines arm Geborenen nicht sehr groß. Aber müssen es gleich Millionen sein? Ist nicht ein kleinerer Aufstieg auch viel wert, gerade wenn man unten anfängt?
Die These, harte Arbeit mache keinen Unterschied, ist absurd, aber als Teil eines Glaubenssystems weit verbreitet. Dieses Glaubenssystem verspricht, dass eines Tages (nach dem Systemwechsel) das Paradies auf Erden heraufziehen werde und es bis dahin die Aufgabe der Gläubigen sei, das System zu kritisieren und zu bekämpfen. Frieden mit dem System oder Teilen davon zu schließen ist Sünde. Ganz kann man dieser Sünde nicht entsagen, wenn man gut leben will, aber je mehr man sündigt, desto mehr muss man Buße tun, indem man kritisiert.
Die hoffnungsvolle Botschaft, dass man es durch harte Arbeit schaffen könne, käme einem Frieden mit dem System gleich. Sie legte sogar den gefährlichen Gedanken nahe, das System sei irgendwie gerecht. Dieser würde das ganze Programm vom Systemwechsel und anschließenden Paradies auf Erden in Frage stellen – und die eher Gescheiterten unter den Gläubigen dem Verdacht aussetzen, an ihrem Scheitern eventuell selbst schuld zu sein. Daher wird sie empört zurückgewiesen.
Eine puritanische Form dieser Sichtweise ist die Intersektionalitätstheorie mit all ihren Ismen, Sexismus, Rassismus und so weiter. Diese Erzählung legt Wert darauf, den von ihr identifizierten Opfergruppen keinerlei Verantwortung für ihre Situation und ihr Leben zuzuschreiben. Die Ausbeutergruppen, heute als »Privilegierte« bezeichnet, tragen die Verantwortung für das Schicksal der anderen, während diese für nichts Verantwortung tragen. Etwas anderes zu behaupten entspräche der Großsünde Victim Blaming und ließe die ganze Erzählung einer Welt zusammenbrechen, in der im Wesentlichen alles durch Unterdrückung zu erklären ist.
Dabei zeigen Zahlen und Fakten auf vielfältige Weise, dass diese simplistische Theorie die Tatsachen nicht erklären kann. Während viel Geschrei über die angeblich sexistische Reaktion der Öffentlichkeit auf die Kandidatin Annalena Baerbock laut wurde, hatten wir eine Bundeskanzlerin, die mehrfach wiedergewählt und praktisch nie für ihr Geschlecht angegriffen oder angezweifelt wurde. Die europäische Kommission und die Zentralbank werden ebenfalls von Frauen geführt, ohne dass es jemanden stört. Bei den Grünen, in der Linken, in SPD und FDP sind Frauen im Bundestag relativ zu ihren Anteilen an den Parteimitgliedschaften überrepräsentiert, nur in Union und AfD sind sie knapp unterrepräsentiert. Eine internationale Metaanalyse von Studien des Wahlverhaltens ergab, dass Wähler weibliche Kandidaten bevorzugen, was sich in einem Vorteil von durchschnittlich zwei Prozent für weibliche Kandidaten niederschlägt.
Eine Kommission der britischen Regierung stellte letztes Jahr fest, dass Rassismus nur eine untergeordnete Ursache der schlechten sozialen Stellung von ethnischen Minderheiten ist. Die Erklärung der Benachteiligung mit dem Rassismus der weißen Mehrheit scheitert schon daran, dass unterschiedliche Minderheitengruppen in sehr unterschiedlichem Maß erfolgreich sind. Ein wichtiger Quillette-Artikel zeigt dies eindrücklich für die USA auf. Solche Zahlen würden das Ende der Intersektionalitätstheorien bedeuten, wenn die heutigen westlichen Gesellschaften in diesen Fragen rational statt religiös denken und handeln würden.
Man sagt, das System sei ganz darauf zugeschnitten, Weiße und Männer zu begünstigen, so dass eine nichtweiße Frau doppelt diskriminiert sei. Wie ist es aber dann zu erklären, dass zum Beispiel taiwanesische Frauen, indische Frauen, türkische Frauen, iranische Frauen, chinesische Frauen, libanesische Frauen, japanische Frauen und koreanische Frauen in den USA im Durchschnitt mehr verdienen als weiße Männer?
Ein kniffliges Thema in den USA ist der große Bildungserfolg der Asiaten. Mit Affirmative Action wollen Universitäten die Repräsentation der Schwarzen erhöhen, wodurch andere Gruppen, die aufgrund ihrer Leistung »überrepräsentiert« sind, diskriminiert werden. Das betrifft am meisten Asiaten, die im Bildungssystem am besten abschneiden.
Diese Tabelle zeigt, wie viel Zeit Weiße, Schwarze, Hispanics und Asiaten in der Oberstufe mit Hausaufgaben verbringen:
Hier eine aktuellere Untersuchung mit in der Tendenz gleichem Ergebnis. Und hier eine Studie, die den Bildungsvorteil der Asiaten hauptsächlich auf deren größere Anstrengung zurückführt.
Ein allgemeiner Beleg dafür, dass harte Arbeit sich lohnt, ist die Tatsache, dass das Persönlichkeitsmerkmal Gewissenhaftigkeit aus dem Big-5-Konstrukt der stärkste Prädiktor für Berufserfolg auf Persönlichkeitsebene ist. Gewissenhaftigkeit setzt sich zusammen aus Fleiß und Ordnungsliebe.
Bedingungen des Aufstiegs
Auf der anderen Seite stehen die Zahlen zur sozialen Mobilität. Wie sieht es dort aus? So:
Etwa ein Drittel der Menschen in Deutschland nehmen eine höhere soziale Position ein als der Vater, steigen also aus ihrem Herkunftsmilieu auf. Etwas weniger steigen ab. In Westdeutschland stehen die Männer etwas besser da, in Ostdeutschland die Frauen, aber grob kann man sagen: ein Drittel steigt auf.
Man kann sich natürlich mehr wünschen. Aber ein Drittel ist deutlich zu viel, um zu behaupten, ein Aufstieg sei nicht möglich.
Bücker meint, das Schulsystem versuche zu vermitteln, dass es jeder schaffen könne. Das ist nicht meine Erfahrung. Meine Erfahrung ist nicht repräsentativ, aber ich würde wetten, dass sie dem Gesamtbild eher entspricht. Zumal, wenn es stimmt, dass Schulen das vermitteln, und junge Menschen es glauben, warum haben dann trotzdem die meisten links gewählt? Manche sind so schockiert darüber, dass überhaupt junge Leute FDP gewählt haben, dass sie so reden, als hätten alle jungen Leute FDP gewählt.
Ich habe so etwas wie Unternehmergeist in der Schule überhaupt nicht mitbekommen oder wahrgenommen. Und ich meine damit im weitesten Sinne die Perspektive, dass man eigene Ideen umsetzen kann, etwas auf die Beine stellen kann, auch produktiv auf die Welt einwirken kann und nicht nur mit Demonstrationen und Protest, die darauf abzielen, dass Mama und Papa Staat es richten. Unternehmertum und allgemein so etwas wie Initiative – immer abgesehen von politischem Aktivismus – kommt nach meiner Erfahrung überhaupt nicht in dem Weltbild vor, das die Schule vermittelt. Du musst lernen, damit du einen Job bekommst und nicht in Arbeitslosigkeit endest, so die Botschaft. Das ist nicht falsch, aber in diesem Zuschnitt vermittelt es eine Haltung der Abhängigkeit von Autoritäten und der Angst. Es ist ein schrecklicher Ausblick. Du musst dir all diesen Stoff reinzwingen, damit du später fünf Tage acht Stunden irgendwo schuften darfst, damit du gerade mal so leben kannst und nicht hinten runterfällst. In Kombination mit den linken Lehren, das System sei ungerecht, zerstöre die Natur und müsse überwunden werden etc. mutet dieser Ausblick geradezu höllisch an. Du musst nicht nur für ein System schuften, dem du egal bist, sondern du musst für ein böses System schuften, dem du egal bist.
Glück haben die Kinder, die von ihren Eltern eine reichere Vision für ihr Leben vermittelt bekommen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es vielen vor allem hier fehlt. Ich bin selbst jemand, der aus einem nicht idealen Elternhaus kommt und nicht aufgestiegen ist. Ein bisschen aufgestiegen vielleicht, vor allem im Hinblick aufs Bildungsniveau, aber sicher nicht so, wie ich hätte aufsteigen können, wenn ich als junger Mensch meine Energien darauf verwandt hätte.
Aber die Möglichkeit, »aufzusteigen«, existierte einfach nicht auf meinem Horizont, als ich jung war. Ich las einmal bei dem Soziologen Pierre Bourdieu, dass sozial Abgehängte durchaus so etwas wie Aufstiegsfantasien haben, diese Fantasien bei ihnen aber einen anderen Charakter haben als bei sicherer situierten Menschen aus den Mittelschichten. Es sind mehr Träumereien ohne Bezug zur Realität. Träumereien etwa davon, eines Tages »entdeckt« zu werden oder im Lotto zu gewinnen. Diese Fantasien sind vage, sie übersetzen sich nicht in Handlungspläne und sie sind psychologisch gesprochen charakterisiert durch einen externen »Kontrollort« oder »Locus of Control«. Mit diesem Konstrukt wird gemessen, ob ein Mensch eher glaubt, sein Schicksal selbst zu steuern oder von äußeren Kräften bestimmt zu sein. Misshandelte und vernachlässigte Kinder entwickeln typischerweise einen externen Kontrollort, weil sie täglich erleben, dass ihr Wohlergehen und sogar Überleben hochgradig von den Launen anderer abhängt. Sie lernen sich anzupassen, weniger, Initiative zu zeigen und ihre Lebenswelt zu formen.
In dieser Lage kann man schon deswegen kaum sozial aufsteigen, weil man das einfach nicht für möglich hält. Man glaubt zwar, dass so etwas passieren kann, aber nicht, dass man selbst es durch gezieltes Handeln bewirken kann. Wenn es passiert, dann ist es Glück oder Schicksal, geschieht jedenfalls durch äußere Kräfte. Mit umfassenden Forschungen rund um Albert Banduras Konzept der Selbstwirksamkeit haben Psychologen gezeigt, dass der Glaube, etwas erreichen zu können, zu den wichtigsten Voraussetzungen gehört, es tatsächlich erreichen zu können. Nur wer glaubt, x erreichen zu können, versucht es überhaupt und nimmt die Mühe auf sich, das Nötige dafür zu lernen und zu tun.
Daher läuft der Gedanke der Handlungsfähigkeit in diesem Zusammenhang auch nicht darauf hinaus, zu sagen, die Armen seien an ihrem Schicksal selbst schuld – aber auch nicht auf das beliebtere Gegenteil. Die Frage nach der Verantwortung ist vertrackt, weil Biographien immer mit der frühen Kindheit beginnen. Niemand ist verantwortlich dafür, dass er bei seinen Eltern nicht die Fürsorge und Führung bekommt, die ein junger Mensch für seine Reifung braucht. Aber deshalb kann man nicht ins andere Extrem gehen und Menschen mit schwerer Kindheit von aller Verantwortung freisprechen. Zugleich ist es kaum möglich, einen festen Punkt zu nennen, ab dem die Verantwortlichkeit beginnt. Aber irgendwo muss sie beginnen. Ich stelle mir diese Frage seit Jahren in Bezug auf mein eigenes Leben. Wo hatte ich keine Wahl und wo hätte ich schlauer sein können und müssen? Man gerät hier schnell in die Willensfreiheitsdebatte, die seit mehr als zweitausend Jahren keine klaren Antworten liefert.
Visionslosigkeit
Der überwältigende Erfolg von Jordan Peterson scheint mir zu bestätigen, dass es beim Heranwachsen in der modernen Gesellschaft oft an Vision und Motivation fehlt. Die Botschaft, dass man mehr aus sich machen kann, und die Vermittlung von Strategien dazu sind die tragenden Säulen seiner Selbsthilfe-Philosophie. Damit verkauft er Millionen von Büchern, erhält Hunderte Millionen von Video-Ansichten und wird mit Dankesbotschaften von Menschen überschwemmt, die durch ihn wieder Mut gefasst und ihr Leben in den Griff bekommen haben. Manchmal bricht er in Tränen aus, weil es so tragisch sei, wie wenig Ermutigung Menschen brauchen, wie wenig Ermutigung schon ausreicht, um ihre Augen aufleuchten zu lassen. Es ist tragisch, weil es im Umkehrschluss bedeutet, dass sie schon dieses Minimum an Ermutigung sonst nie bekommen.
Prekäre Lebensverhältnisse, Misshandlung und Vernachlässigung dürften hier nur Teil des Problems sein. Es ist auch nicht so, dass man mit wenig Geld zwangsläufig keine gute Erziehung gestalten könnte oder mit viel Geld keine schlechte. Ich gehe davon aus, dass Armut den Druck erhöht und psychische Probleme damit verschärft und ihre Lösung erschwert. Aber ich glaube, man hat es hier mit einem breiteren und tieferen gesellschaftlichen Problem zu tun, und zwar mit einer Art allgemeiner Visionslosigkeit. Wir sind eine Kultur, die den Glauben verloren hat. Ich meine damit nicht unbedingt religiösen Glauben, obwohl Christen sicher sagen würden, dass dessen Verlust genau das Problem ist. Was mir aber vor allem ins Auge springt, ist ein Verlust des Glaubens unserer Kultur an sich selbst. Wir glauben nicht mehr, dass unsere Kultur wertvoll, bewahrenswert und auf basaler Ebene ein positives Projekt ist. Die das Geistesleben prägenden Schichten beziehen primär Sinn daraus, immer wieder aufzuzeigen, wie böse unsere Kultur sei und wie grundlegend sie umgekrempelt werden müsse, um nicht mehr böse zu sein.
Mir scheint, dass Kinder und Jugendliche heute wenig Führung, wenig Orientierung von Erwachsenen vermittelt bekommen. Normalerweise – das ist eine Zwangsläufigkeit der Natur – erfüllen Eltern und andere Erwachsene unter anderem die Aufgabe, Kindern die Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit nahezubringen, verständlich zu machen und sie damit zu versöhnen. Das umfasst nicht nur, aber auch Kultur. Die Natur kann grausam sein, ebenso die Eigengesetzlichkeit der Gesellschaft, und beide scheren sich nicht viel um das Individuum. Doch Eltern und andere Bezugspersonen geben all dem ein menschliches Gesicht. Sie sind Vertreter der Wirklichkeit, mit denen ein Kind verhandeln kann, die Erklärungen liefern und die Mitgefühl und einen Sinn für Humor haben, im Unterschied zu den Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft selbst.
Mir scheint, heute können viele Erwachsene diese Rolle nicht mehr ausfüllen, weil sie selbst nicht an ihre Kultur glauben und sie somit auch nicht glaubhaft und kohärent vertreten können. Sie können keine Orientierung geben, weil sie selbst keine haben. Warum sollte man zu einer Kultur beitragen wollen, die böse ist, oder in ihr aufsteigen wollen? Aber was ist die Alternative? Die Alternative ist eine Ethik, die es sich zur Aufgabe macht, das Böse in dieser Kultur zu bekämpfen. Das ist an sich keine schlechte Idee, doch es entsteht ein Problem, wenn dieses Böse das einzige ist, worüber man sich überhaupt zu dieser Kultur in Beziehung setzen kann. Denn da das Individuum unausweichlich selbst eine Verkörperung seiner Kultur ist, bedeutet die Identifikation der Kultur mit dem Bösen, das man bekämpft, immer auch, sich selbst zu bekämpfen. Das Ergebnis ist eine paradoxe Identität, die auf Selbstablehnung baut. Erwachsene suchen dieser paradoxen Identität zu entkommen, indem sie Kindheit und Jugend glorifizieren – also diejenigen Gesellschaftsmitglieder zum Ideal machen, die gerade nicht die abgelehnte Kultur verkörpern. Dies disqualifiziert sie für die Aufgabe, Vorbilder für die Jungen zu sein.
Damit schließt sich der Kreis zu der dogmatischen Sichtweise, die ich eingangs diskutiert habe. Die Antwort »das System ist schuld«, woran auch immer, impliziert, dass man es nicht ändern kann, weil man »das System« – bis zum Systemwechsel – nicht ändern kann und auch nicht bekämpfen kann, ohne sich selbst zu bekämpfen. Man hilft jungen Leuten mit dieser Botschaft nicht, sondern lehrt sie nur, sich als Opfer und die Gesellschaft als feindlich wahrzunehmen, und man gewinnt zornige, emotional verletzliche und verführbare Rekruten für die Revolution. Nur mit diesem Ziel ergibt diese Erziehung einen Sinn.