Könnte es sein, dass in der frühen Neuzeit, als die Gesellschaftsstruktur sich zusehends verflüssigte und Menschen mit unterschiedlichen Temperamenten ein rechtes und ein linkes politisches Lager bildeten, das Rechte halbwegs am im Rückzug begriffenen Christentum festhielt, während sich das linke davon löste und das so entstehende religiöse Vakuum füllte, indem es seine linken Ideen selbst zur Religion machte?
Das würde einiges erklären.
Man müsste hier zwischen der extremen Rechten und der moderaten, also dem Konservatismus, unterscheiden. Die extreme Rechte kann man vielleicht in ähnlicher Weise als Sekte betrachten wie die extreme Linke. Beide glauben, durch autoritäre Herrschaftsakte eine Art perfekte Gesellschaft herstellen zu können, wobei sich der rechte Entwurf zu sozialen Hierarchien bekennt und der linke diese einebnen will. Dementsprechend braucht die Linke die Zauberei der Dialektik, um aus der Paradoxie herauszukommen, dass durch umfassende Herrschaftsakte ein Zustand der Herrschaftsfreiheit entstehen soll. Die linksreligiöse Dogmatik ist intellektueller, vertrackter und kontraintuitiver als die rechtsreligiöse. Dennoch haben beide den romantischen Glauben an einen Geborgenheit stiftenden gesellschaftlichen Idealzustand gemeinsam, der irgendwie, irgendwann verloren gegangen sei und wiederhergestellt werden könne, wenn die Irrwege korrigiert werden, die für beide Seiten vor allem mit Liberalismus und Individualisierung zu tun haben.
Doch zur moderaten Mitte hin besteht hinsichtlich des Religionscharakters der politischen Lager eine Asymmetrie. Die Konservativen (und Liberalen) haben nichts, was dem gesellschaftsreformerischen Furor der Linken ähneln würde. Konservative halten Linke für naiv, Linke halten Konservative für schlechte Menschen. Konservative sind mehr oder weniger leidenschaftslose Verwalter des Status Quo. Linke dagegen wollen hoch hinaus. Sie sehen die Gesellschaft in einem Prozess der sukzessiven Vervollkommnung begriffen, an dessen Ende ein Idealzustand perfekter Gleichheit perfektionierter Individuen steht. Viele rhetorische Figuren wie »wir haben schließlich das Jahr soundso«, »gestrige Ideen« oder »auf der richtigen Seite der Geschichte« offenbaren diese Prämisse. Von ihr zeugt ebenfalls die Tatsache, dass Linke annehmen, die heutigen Menschen seien alle zutiefst rassistisch, sexistisch und jedes andere ‑istisch, weil sie so sozialisiert seien, und man könne uns beziehungsweise unseren Nachfahren all diese ‑Ismen austreiben. Sie investieren ja beträchtliche Energie in diese Teufelsaustreibung; sie müssen sie also für möglich halten. Das heißt, der gute Mensch, also der Mensch, der so ist, wie Menschen eigentlich sein sollten, wurde noch gar nicht erfunden und muss noch geschaffen werden, und daran arbeiten sie.
Die moralische Asymmetrie
Sie mögen Menschen nicht besonders – wir alle sind ja voll von diesen Ismen, die sie hassen -, aber sie sehen sich dennoch als die größten Menschenfreunde. Diese Paradoxie erklärt sich zum größten Teil dadurch, dass sie vor allem Freunde ihrer Idealmenschen sind, also der werdenden perfektionierten Menschen, die es noch nicht gibt, und nicht so sehr Freunde der heute leibhaftig Lebenden. Ein leibhaftig lebender Realmensch braucht nicht allzu weit von ihren Meinungen abzuweichen, um ihre tiefe Verachtung auf sich zu ziehen, und die allermeisten Menschen weltweit sind keine Anhänger der Ideen der westlichen Linken. Sie sind aus Sicht der westlichen Linken somit schlechte Menschen. Dies können Letztere nur deshalb mit ihrer romantischen Fremdenanbetung unter einen Hut bringen, weil sie mit diesen Fremden kaum etwas zu tun haben und sie daher als Projektionsfläche für alles Mögliche benutzen können. Die Funktion der Fremden, Alliierte gegen das verhasste soziale Nahfeld der unvollkommenen Realmenschen zu sein, mit denen man nicht zurechtkommt, überwiegt den Aspekt, dass jene oft mindestens so konservativ sind wie diese, weil man ihn schlicht ausblenden kann.
Der Ökonom und Autor Thomas Sowell hat einmal beobachtet, dass in der Geschichte politischer Ideen vor allem Linke dadurch auffielen, ihre Gegner eher zu beschimpfen und abzuwerten, als auf ihre Argumente zu antworten. Auch das ist ein Aspekt der besagten Asymmetrie. Da die Linken ihre Politik weit mehr als die Konservativen religiös aufladen, nehmen sie weit mehr ihre Gegner als Ketzer und somit moralisch schlechte, bösartige, minderwertige Menschen wahr. Aus ihrer Sicht hat man als anständige, freundliche und mitfühlende Person die volle Berechtigung, wenn nicht die Pflicht, Nichtlinke wie Dreck zu behandeln, weil die sich ja selbst entscheiden, sich wie Dreck zu verhalten und die heilige Mission zu beschmutzen, zum Werden des perfektionierten Menschen am Ende der Geschichte beizutragen. Sich dem Prozess der Perfektionierung entgegenzustellen heißt, sich ihrem Gott entgegenzustellen.
Zwei Einschübe
Es gibt durchaus Raum und Potenzial für eine Linke, die nicht in dieser Weise religiös ist und sich tatsächlich um die pragmatische Lösung von Problemen in der Gegenwart bemüht. Wir können soziale Ungleichheit nicht abschaffen, aber ich sehe nicht, warum wir sie nicht reduzieren und ihre schädlichsten Auswirkungen nicht abmildern können sollten. In der Wirtschafts‑, Steuer‑, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bestehen durchaus Handlungsspielräume, und das Soziale, der Blick auf die Schwachen, muss bei diesen Diskussionen eine Rolle spielen. Es ist nur aktuell so, dass realistische, pragmatische Linke, die ihr Wirken nicht als heilige Mission und ihre politischen Gegner nicht automatisch als böse ansehen, im öffentlichen Leben kaum auftauchen. Vielleicht liegt es daran, dass die Religiösen mit ihrem Furor und ihrer ständigen pseudomoralischen Nötigung und Erpressung – »gib mir Macht oder ich nenne dich Missbraucher der Schwachen« – die Realisten leicht übertönen und unterbuttern. Außerdem fällt auf, dass häufig zwei Seelen in der Brust eines Linken schlagen. Im Bundestag kann man regelmäßig bezeugen, dass beispielsweise Grüne – zumindest manche – durchaus in der Lage sind, rational und realitätsnah zu argumentieren. Doch bei anderen Themen wieder wird es fantastisch, unlogisch und faktenfrei und man ist bereit, riesige Glaubenssprünge und Widersprüche zu akzeptieren. Letzteres sind die Themen, die heilige Werte berühren.
Haben die Linken denn nicht einfach Recht damit, dass es böse ist, sich dem Fortschritt in Richtung eines gesellschaftlichen Zustands in den Weg zu stellen, der eindeutig besser wäre? Die Antwort wäre ja, wenn es so eindeutig wäre, dass die linken Strategien zu einem besseren Zustand führen. Aber das ist eine Chimäre. Darin besteht das fundamentale Missverständnis. Linke glauben, Konservative und Rechte würden sich einer Verbesserung des Loses der Menschen in den Weg stellen, weil sie irgendwie dumm, bösartig oder voller Hass seien. Sicher gibt es Dumme, Bösartige und Hasser, aber die gibt es auf beiden Seiten zur Genüge. Das hat nichts mit der Spaltung zwischen Rechts und Links zu tun. Nein, auch Konservative wollen das Los der Menschen verbessern, aber sie haben andere Vorstellungen davon, wie das zu schaffen wäre. Sie haben eine andere Theorie – ob ausartikuliert oder nicht – des Menschen und der Gesellschaft. Kurz gefasst: Die religiöse Linke geht von der Theorie des unbeschriebenen Blattes aus, nach der Menschen beliebig programmierbar sind und wir einfach daran arbeiten müssen, die perfekte Programmierung zu finden und die schlechten Codebestandteile (wie die ‑Ismen) auszulöschen. Die Theorie des unbeschriebenen Blattes ist aber falsch, und die breite Blutspur des Kommunismus quer durch die letzten 100 Jahre zeigt, wie falsch.
Wenn also gewisse unerfreuliche und potenziell gefährliche Aspekte des Menschen nicht durch Umprogrammierung ausrottbar sind, so dass Versuche der Ausrottung fehlschlagen und gelegentlich zur Katastrophe führen, dann muss man vernünftigerweise überlegen, wie man sie bezähmen, mäßigen und in möglichst unschädlicher Form in die Lebensweise einer Gesellschaft integrieren kann. Und damit hätten wir den Kern des Unterschieds zwischen einer progressiven und einer konservativen Herangehensweise an die Verbesserung des Loses der Menschen beschrieben. Theoretisch wäre es sogar möglich, über diesen Unterschied rational und evidenzbasiert zu diskutieren. In der Praxis kommt es nur selten dazu, weil Linke nicht bereit sind, abweichende Meinungen diesbezüglich überhaupt zu dulden, und weil Konservative ihre theoretischen Standpunkte selten ausartikulieren, was, zugegeben, in diesem Fall auch nicht ganz einfach ist. Dies ist ein entscheidender strategischer Vorteil der falschen Blank-Slate-Theorie: Sie ist simpel und man kann sie auf alle menschlich-gesellschaftlichen Probleme anwenden, ohne irgendetwas Näheres über diese zu wissen.
Blasphemie
Ich habe mir neulich mal wieder den klassischen Horrorfilm »Der Exorzist« angeschaut. An einer Stelle ist darin eine geschändete Marienstatue zu sehen – siehe oben. Eine schöne, würdevolle, lebensgroße weiße Statue der heiligen Maria, der jemand grotesk hervorragende Brüste mit roten Spitzen und einen großen, spitzen Phallus aufgesetzt hat, der wie ein nach unten gedrehtes Horn aussieht. Im Schritt und an den Händen ist die Statue blutbefleckt. Etwa so, wie dieser Anblick auf einen tief gläubigen Katholiken wirken muss, so wirkt es auf Linke, wenn man ihre heiligen Werte missachtet, die um das Projekt der Menschen- und Gesellschaftsperfektionierung im Sinn linker Ideale kreisen.
Beim Anblick der geschändeten Statue erschiene es in der Tat absurd, zu fordern, den Täter als gleichberechtigten Teilnehmer am gesellschaftlichen Diskurs zu akzeptieren oder das, was er mit der Statue angestellt hat, als legitime Meinungsäußerung einzustufen. Der Anblick ist grotesk, erschreckend, abstoßend, vulgär. Eine gewollte Verunstaltung des Schönen und Erhabenen mit krimineller Energie und schmutziger Fantasie. Es schreit einem nur so ins Gesicht, dass die Tat niederträchtig und in böser Absicht geschehen ist. Hat der Täter nun ein Recht, sich darüber zu wundern oder gar moralisch zu empören, dass Katholiken wütend reagieren und ihn mitunter auch beschimpfen? Hat er ein Recht, dies als Einschränkung seiner Meinungsfreiheit zu beklagen? Nein, natürlich nicht. Etwa so wirken nichtlinke und linkenkritische Meinungen und die Forderung nach Meinungsfreiheit für sie auf Linke.
Wenn sie »Nazi«, »rechtsextrem« etc. sagen, ist das oft weniger eine sachorientierte Beschreibung von Personen und Haltungen als ein Ausdruck der reflexhaften Abscheu über Blasphemie, wie sie ein Gläubiger beim Anblick der geschändeten Marienstatue empfinden mag. Es bedeutet meist nicht, dass sich der so Beschimpfte einen Führerstaat wünscht oder Ausländer hasst, sondern es zeigt an, in welchem extremen Ausmaß der Sprecher es als anstößig empfindet, wie der andere seine heiligen Werte verletzt. Deshalb wird Donald Trump auch nach seiner vierjährigen Amtszeit, in der er nichts Hitlerartiges getan oder versucht hat, von vielen immer noch für Hitler gehalten. Das ist keine sachliche Beschreibung objektiv gegebener Eigenschaften, sondern Ausdruck einer affektiven Reaktion der Abscheu.
Und eine ähnliche Reaktion ruft nun die Twitter-Übernahme durch Elon Musk hervor. In säkularen Worten kann man es so sagen: Musk hat Twitter gekauft, um ein gefährliches Meinungskartell aus Regierung, Altmedien und Social Media aufzubrechen, und in den seither vergangenen Wochen schreit nun ebendieses Meinungskartell wie am Spieß. Logisch. All die Unkenrufe der Empörten, Twitter liege im Sterben, sind nicht zuletzt Wunschdenken: Sie würden Twitter viel lieber sterben sehen, als die Kontrolle über die Plattform zu verlieren. Aber die Beteiligten sehen sich nicht als Meinungskartell; sie sehen sich als Angehörige des richtigen Glaubens, der die Wahrheit und das Gute auf seiner Seite hat. Daran besteht für sie nicht der geringste Zweifel. Und dass sie sich alle einig waren und in der Medien- und Meinungslandschaft einigermaßen die Lufthoheit hatten, bedeutete, dass die Gesellschaft auf dem richtigen Weg war, also eine gottgefällige war oder wenigstens allmählich dazu wurde. Und jetzt kommt Musk und schändet ihre Kathedrale, die von ihnen dominierte Sphäre der öffentlichen Meinung. Dazu provoziert er noch mit Tweets wie »My pronouns are prosecute/Fauci«, eine doppelte Blasphemie gegen zwei wichtige Sakramente, die Genderidentitätstheorie und das Coronaregime sowie die (selektive) Expertengläubigkeit hinter beiden. Jeder Tweet dieser Art ist eine geschändete Marienstatue. Natürlich ist das böse, und natürlich müssen Musks Unterstützer dumm oder böse sein, was sonst?
Die Lüge wird Wahrheit
Kürzlich ging ein gefälschter Screenshot herum, auf dem ein Fake-Musk mackerhaft herumprotzt, dass er Journalisten, die ihm nicht passen, ja nur sperre und nicht erschieße, wie es in manchen Ländern geschehe:
Das spielte darauf an, dass eine Handvoll linker US-Journaktivisten für nicht einmal 24 Stunden gesperrt wurden, woraufhin Medien, Bundesregierung und EU kurz davor waren, einen Nuklearschlag anzudrohen, nachdem die vorangegangene jahrelange Praxis der Gängelung und sukzessiven Sperrung Konservativer ihnen nie einen Piep entlockt hatte. Die Fälschung erfreute sich großer Beliebtheit unter Musk-Gegnern und wurde unter anderem von prominenten Journalisten und einem Volksverpetzer, vom Deutschen Journalisten-Verband, vom Chef der grünen Böll Stiftung Jan-Philipp Albrecht und vom spät wiedergeborenen Linksaktivisten und »Twittergott der CDU« (taz) Ruprecht Polenz verbreitet. Sie spiegelt perfekt das religiös aufgeladene Wahnbild wider, das sich innerhalb der Kathedrale von Musk geformt hat. Von außerhalb dieses Wahnbildes indes ist sie in keiner Weise überzeugend. Der Urheber scheint nicht einmal versucht zu haben, Musks Schreibstil zu imitieren, der knapp und ökonomisch ist, während die Fälschung selbstgefällig, geschwätzig und prahlerisch daherkommt.
Auch inhaltlich passt sie in keiner Weise zu den Äußerungen Musks, was seine Pläne für Twitter betrifft. Er hat immer das Ziel bekundet, daraus eine offene, faire Plattform zu machen, die profitabel ist und einen produktiven öffentlichen Diskurs unterstützt. Dazu hat er in der kurzen Zeit seit Übernahme bereits mit Bots aufgeräumt, gegen Kinderpornografie durchgegriffen und das neue Verifizierungsprogramm aufgelegt, das zivile Teilnehmer gegenüber Trollen privilegieren soll. Darüber hinaus hat er viele gute Ideen für die Weiterentwicklung der Plattform kommuniziert, etwa Hosting von Videos und Texten mit Monetarisierung, algorithmische Verbesserungen zur Unterstützung zivilen Verhaltens sowie die geniale Funktion »Community Notes«, die eine Art von demokratisierten Faktenchecks ermöglicht. Das Wahnbild von Musk als Räuberbaron, der nach Laune über ein verfallendes, in eine Räuberhöhle verwandeltes Twitter herrschen wolle, ist eine Fantasie, die sich die Kathedrale früh bildete und die ganze Zeit über aufrecht erhielt, indem ihre Medien und Meinungsführer all diese positiven Signale verschwiegen und sich auf die Dramatisierung blasphemischer Memes und Äußerungen konzentrierten, die Musk twitterte.
Die konsistent wahnhafte Begleitung der Übernahme durch praktisch alle Leitmedien, die eher links positioniert sind, zeigt umso eindrücklicher, wie wichtig es ist, das Meinungskartell aufzubrechen. Man muss nur zwei und zwei zusammenzählen, um sich auszumalen, welche Schäden ein derart wahnhaftes Establishment mittelfristig anrichten muss, und etwa in Form der Energiekrise und des »Transkinder«-Trends sehen wir bereits dramatische Folgen davon.
Bei Musk und Twitter geht es um etwas Entscheidendes. Twitter ist die wichtigste Social-Media-Plattform für den öffentlichen Meinungsstreit. Die Kathedrale ist nahe dran, die öffentliche Kommunikation soweit im Griff zu haben, dass sie sich selbst glauben machen kann, ihr Verständnis der Dinge sei vollständig und ausreichend, um Politik zu machen und formend auf Mensch und Gesellschaft einzuwirken. Dies ist verheerend, denn es ist weder vollständig noch ausreichend, und es ist in wesentlichen Teilen falsch. Dies ist bereits jetzt sehr schwer zu korrigieren, weil jeder Widerspruch gegen diesen Deutungsrahmen tendenziell als Blasphemie niedergebrüllt wird. Es ist hierbei offensichtlich entscheidend, ob die großen Kommunikationsplattformen diese Abschottung der Glaubensgemeinschaft unterstützen oder ihr entgegenwirken. Letzteres hat sich Musk vorgenommen, und dafür verdient er jede Unterstützung.
Ein hervorragender Text, vielen Dank dafür. Ich habe mir über diese religiöse Aufladung des politische Diskurses auch schon viele Gedanken gemacht, Sie bringen es in allen Facetten auf den Punkt.
Zu Musks Sperrung der Journlisten ist mir direkt der Ausdruck »Thursday Night Massacre« eingefallen, mit dem die Medien (u.a. The Intercept) das Event doch tatsächlich betitelten. Daran sieht man ganz klar, wie der Diskurs einfach komplett aus dem Ruder gelaufen ist. Jemand mit oppositioneller Meinung wird zum Nazi, ein Trans-Kritiker wird zum Menschenfeind, eine eintägige Twitter-Sperre wird zum Massaker. Kann man sich nicht ausdenken.
Frohe Weihnachten in jedem Fall!
Liebe Ms. M,
ich wollte eigentlich früher antworten, aber in den Feiertagen war ich mit dem Familienbesuch beschäftigt, dann eine Weile krank … na ja, wie das so ist. Jedenfalls vielen Dank für den Kommentar und Zuspruch! Ja, »Thursday Night Massacre« passt hervorragend ins Bild. War wahrscheinlich selbst für die aufgeheizte Stimmung zu überdreht, aber trotzdem, netter Versuch, wie man sagt, diese Formel dafür zu etablieren.
Ich habe deinen Artikel über die Trans-Problematik gelesen und finde ihn sehr gut (ich hoffe, das Du ist okay). Mit meinem eigenen bin ich unzufrieden und würde gerne noch einen besseren schreiben, aber ich finde das Thema wahnsinnig schwierig, weil das ein solcher menschlicher Abgrund ist. Ich sehe es ähnlich wie du als Symptom einer noch tieferen Verirrung; es geht da nicht nur um Geschlecht, sondern auch um eine Verwirrung über und einen Krieg gegen das Menschsein und unsere Position im Kosmos überhaupt. Ich weiß nicht, wie viel du von mir gelesen hast, aber diese grundsätzliche Sinn- und Identitätskrise unserer Gesellschaft klingt bei mir auch immer wieder an. Interessant wäre in dem Zusammenhang vielleicht Die Politik der Negation. »Trans« ist ein geeignetes Beispiel dafür. Negation von Geschlecht in der Hoffnung, dadurch die Geschlechtlichkeit zu befreien. Weil man sich aber nicht von gesetzten Realitäten befreien kann, kommen die negierten, geleugneten Geschlechterunterschiede als durch Stereotype definierte Genderidentität zurück ins Bild.
Ich freue mich, dein Substack jetzt zu kennen, und denke, wir hören voneinander. Bis dahin ein frohes neues Jahr!
Lieber Sebastian,
ich finde des Thema Transgender auch extrem schwierig, besonders wenn es um Kinder geht oder den aktuellen Trend der »Selbstidenfikation«, der de facto eine echte Gefahr insbesondere für Frauen darstellt (Stichwort: Toiletten, Duschen, Umkleiden, Gefängnisse, Krankenpflege, Statistiken, usw. – mehr dazu hier: https://twoplustwo.substack.com/p/ich-identifiziere-mich-also-bin-ich). Deswegen berührt mich das Thema auch so, denn die Gehirnakrobatik, derer man fähig sein muss, um diesen Trend zu verstehen, ist einfach enorm: Einerseits findet hier eine für mich extrem schwer nachvollziehbare Leugnung der Realität statt (à la »Trans women are women«), andererseits ist da der geradezu religiöse Aktivismus, der sich dann in enormem Hass auf sämtliche Kritiker (und ganz besonders Detransitioner!) entlädt. Wie du sagst: Kritik/Hinterfragen der Ideologie (aka Religion) entspricht quasi der Blasphemie.
Dein Text »Die Politik der Negation« ist richtig gut, Chapeau! Er vereint auf beeindruckende Weise diverse Aspekte – Antirassismus, Transgenderism, Zweckentfremdung der Sprache – unter dem Hegelianischen Schirm. An die Idee, dass die vehemente Negation genau dazu führt, dass das Negierte doppelt und dreifach zurückkommt, hatte ich bislang noch nicht gedacht. Das macht für mich aber auf jeden Fall Sinn. Für mich ist der Kern des Ganzen definitiv dieser: »Das positive Ziel wird nicht artikuliert.« Das ist genau der Dekonstruktivismus, dem wir dieses ganze Dilemma zu verdanken haben. Alles niedermähen, aber nicht Neues schaffen können, keine Lösung vorbringen können.
Freue mich auf weiteren Austausch und neue Texte! In diesem Sinne: Frohes neues Jahr!