»Ich möchte wissen, wer hinter solchen Kommentaren steckt«, sagte kürzlich die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer mit Blick auf höhnische Online-Kommentare zum Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Damit gab sie den Anstoß für das jüngste Wiederaufleben der Diskussion um eine Klarnamenpflicht im Internet.
Ich nehme diese zum Anlass, auf Basis einiger Überlegungen zu Anonymität, Wahrheit und Meinungsfreiheit für eine freiwillige Verwendung von Klarnamen im Internet zu plädieren.
AKK nahm das Wort »Klarnamenpflicht« nicht in den Mund. Sie könnte auch eine Registrierungspflicht gemeint haben, wie sie die österreichische ÖVP-FPÖ-Koalition vor ihrem Sturz auf den Weg gebracht hatte. Ihr »Bundesgesetz über Sorgfalt und Verantwortung im Netz« sollte Webseitenbetreiber verpflichten, Namen und Handynummern von Kommentierern zu erfassen, um Letztere bei Bedarf juristisch belangen zu können. Landläufig war diesbezüglich auch vom »digitalen Vermummungsverbot« die Rede.
Ähnlich klingt eine Forderung Manfred Webers, des CDU-Spitzenkandidaten zur Europawahl, geäußert Anfang April dieses Jahres im Spiegel: »Jeder Nutzer von Social-Media-Kanälen muss sich ordentlich registrieren«. Allerdings nannte die ÖVP-FPÖ-Vorlage ausdrücklich auch Foren, nicht nur Social Media.
Im Mai sprach sich dann Wolfgang Schäuble für eine Klarnamenpflicht aus: »Wer seine Meinung äußert, sollte auch dazu stehen können«. Weiter zitiert Spiegel Online:
»Für eine offene Gesellschaft ist es schwer erträglich, wenn sich die Menschen bei Debatten im Internet nicht offen gegenübertreten« (…). Zu oft würden »Privatleute und Personen des öffentlichen Lebens gerade unter dem Schutz der Anonymität beleidigt und bedroht«.
Laut einer repräsentativen Umfrage von Civey befürworten knapp mehr als die Hälfte der Deutschen eine solche Regelung. Unter den Parteianhängern sind diejenigen von CDU/CSU am häufigsten dafür und diejenigen der AfD am häufigsten dagegen.
Viele gute Argumente gegen eine Klarnamenpflicht wurden bereits aufgeschrieben. Anonymität eröffnet die Freiheit, sich auch über Peinliches auszutauschen. Sie ermöglicht Whistleblowertum. Sie erschwert die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen durch Internetfirmen. Sie schützt vor eventuellen Bedrohungen durch Feinde und Stalker. Sie ermöglicht die Äußerung nonkonformer Meinungen trotz der Konformitätszwänge einer bürgerlichen Existenz. Umfassende Datenspuren von allen Internetnutzern bergen ein unkalkulierbares Risiko des Missbrauchs. Und so weiter.
Aber etwas anderes kommt meiner Ansicht nach in der Debatte zu kurz. Und zwar lese ich selten kluge Argumente für eine Verwendung von Klarnamen im Internet. Ich bin gegen eine Pflicht, aber dafür, dass jeder nach seinen Möglichkeiten unter Klarnamen auftritt, wenn es um gesellschaftlich, kulturell oder politisch relevante Äußerungen geht. Es nicht zu tun gibt Terrain für die Meinungsfreiheit verloren und untergräbt die persönliche Integrität.
Social Media und die gespaltene Persönlichkeit
Ein wichtiger Teil des politischen Meinungsstreits findet heute in sozialen Netzwerken statt, vor allem auf Twitter, Facebook und YouTube. Auf Twitter ist nur ein kleiner Prozentanteil der Bevölkerung aktiv, doch darunter sind viele Menschen mit Einfluss, etwa Politiker, Publizisten, Journalisten, Aktivisten und Leute aus dem Wissenschaftsbetrieb. Donald Trump führt vor, wie man über Twitter das Nachrichtengeschehen dominieren kann.
Die gewöhnlichen Nutzer sozialer Netzwerke wiederum, für die eine Klarnamen- oder Registrierungspflicht vor allem relevant wäre, gehören der Bevölkerungsminderheit an, die aktiv politisch interessiert ist. Twitter ist bei weitem keine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung. Doch es sind auch keine repräsentativen Stichproben der Bevölkerung, die über herrschende Meinungen und Politik entscheiden. Es sind Eliten und engagierte Minderheiten. Die Bevölkerungsmehrheit handelt nach Opportunität und arrangiert sich.
Im politischen Kontext ist das offensichtlichste Argument für Anonymität, dass sie unverfälschte Meinungsäußerungen ermöglicht, indem sie die Sprecher vor eventuellen negativen Konsequenzen schützt. Jeder kann sagen, was er denkt. So kommen alle Gedanken auf den Tisch und können verhandelt werden. Ist das nicht ideal?
Jein. Das Argument vereinfacht die Mechanik, die hier am Werk ist. Ja, Menschen sollen ihre Meinungen lieber anonym einbringen als gar nicht. Ideal ist die Situation deswegen aber nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die unter diesen Umständen geäußerten Meinungen als »unverfälscht« gelten können.
Wer pseudonyme Social-Media-Profile nutzt, um Meinungen zu äußern, die er im bürgerlichen Leben nicht äußern würde, führt ein Doppelleben. Er spaltet sich auf:
- in einen bürgerlich-konformen Teil, der seine Meinungsbildung seinem realen sozialen Umfeld verschweigt und entzieht;
- und in eine pseudonyme Online-Existenz, deren Äußerungen er nicht verantwortet.
Beide Persönlichkeitsanteile haben etwas Unwirkliches. In keiner der beiden Sphären ist die Person authentisch. In keiner der beiden Sphären ist ihr Reden mit ihrem Handeln synchronisiert.
Im realen Leben ist sie konform und gehorsam, während sie innerlich rebelliert. In Social Media betätigt sie sich als Pseudo-Rebell. »Pseudo« deshalb, weil sie für ihre Äußerungen nicht geradesteht.
Über anonyme Accounts geäußerte Meinungen sind grundsätzlich weniger ernst zu nehmen. Man weiß nicht, ob überhaupt eine reale Person dahintersteckt, die wirklich meint, was sie sagt. Es könnte immer auch ein Troll sein, also jemand, der Spaß daran hat, Unfrieden zu stiften. Es könnte jemand sein, der unter falscher Flagge segelt, also etwa so tut, als wäre er links oder rechts, um Linke oder Rechte schlecht aussehen zu lassen. Putin-Bots sind inzwischen ein Running Gag, doch bei aller Hysterie über die gefühlte Allgegenwart Putins in westlichen Machtkämpfen ist nicht von der Hand zu weisen, dass Fake-Accounts gezielt eingesetzt werden können, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Aus all diesen Gründen hat das Wort eines anonymen Accounts weniger Gewicht.
In der Anonymität ist man weniger gezwungen, sich gut zu überlegen, was man sagt. Die Mechanik der sozialen Medien begünstigt Schnellschüsse und belohnt emotionale Zuspitzung. Der Ton wird dadurch schriller und die Thesen werden steiler, während gleichbleibend wenig dahinter ist, weil man das Gesagte nicht verantwortet.
Auch wenn sich jemand entgegen den Anreizen gründlich und gewissenhaft überlegt, was er anonym postet, ist für die Mitleser wenig dahinter. Er könnte im Alltag seinen hier geäußerten Ansichten auf ganzer Linie widersprechen. Welches Gewicht haben diese Äußerungen dann, welche Glaubwürdigkeit? Welches Recht hat er, das Handeln anderer zu kritisieren, während er sein eigenes jeder Kritikmöglichkeit entzieht?
Die Korruption der Persönlichkeit durch Lügen und Schweigen
»Speak the truth – or at least, don’t lie« heißt die achte von Jordan Petersons 12 Lebensregeln. Im dazugehörigen Kapitel führt er aus, wie man durch Lügen und Schweigen die eigene Integrität untergräbt und dazu beiträgt, eine korrupte Gesellschaft entstehen zu lassen, die über Leichen geht.
Der Gedanke ist nicht neu. Autoren wie Alexander Solschenizyn, Hannah Arendt und Sebastian Haffner haben sich ähnlich geäußert: Die totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts beruhten wesentlich auf der Bereitschaft zu vieler Individuen, zu lügen und zu schweigen. Neusprech, Doppeldenk und das Ministerium für Wahrheit geben dieser Beobachtung in George Orwells »1984« Ausdruck. Die Menschen wissen, dass sie belogen werden und selbst lügen, aber sie tun und leben so, als wüssten sie es nicht.
Die Tyrannei triumphiert endgültig, wenn die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit grundsätzlich keine Gültigkeit mehr besitzt. Darum geht es im dritten Teil des Romans, der die Folter und Gehirnwäsche des Protagonisten im »Ministerium für Liebe« schildert. Smith hat längst alles gestanden und ist bereit, alles zu tun, was man von ihm verlangt. Doch das genügt nicht. Dem Regime geht es nicht nur darum, was seine Untertanen in der Öffentlichkeit sagen. Es will auch ihr Denken unter Kontrolle bringen. Totale Herrschaft bedeutet auf individueller Ebene die Zerstörung der Persönlichkeit.
Was hat das mit Wahrheit zu tun?
Die Wahrheit zu sagen bedeutet, die eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit zu artikulieren. Meine Persönlichkeit ist meine Art und Weise, die Wirklichkeit wahrzunehmen, sie zu deuten und auf sie zu reagieren.
In diese Richtung wies auch das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Lüth-Urteil von 1958, worin es die Meinungsfreiheit als »unmittelbarsten Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft« beschrieb.
Wenn ich diese Freiheit nicht habe, bleiben Teile meiner Persönlichkeit Potential und ich verinnerliche die Annahme, dass meine Persönlichkeit zum Teil illegitim ist. Das lässt mir zwei Optionen, wie »1984« ausmalt: Ein Leben als Sklave in heimlicher innerer Rebellion oder die totale Unterwerfung und Preisgabe jeder persönlichen Integrität.
In Petersons Worten (eigene Übersetzung):
Wenn Sie sich nicht für andere erkennbar machen, können Sie sich nicht selbst erkennen. Das bedeutet nicht nur, dass Sie unterdrücken, wer Sie sind. Es bedeutet auch, dass vieles von dem, was Sie sein könnten, nie durch Notwendigkeit zur Verwirklichung gezwungen ist. …
Indem Sie zu Ihrem Chef, Ihrem Ehepartner oder Ihrer Mutter nein sagen, wenn es gesagt werden muss, verwandeln Sie sich in jemanden, der nein sagen kann, wenn es gesagt werden muss. Indem Sie ja sagen, wenn nein gesagt werden müsste, verwandeln Sie sich dagegen in jemanden, der nur ja sagen kann, auch wenn dringend nein gesagt werden müsste. Wenn Sie sich je gefragt haben, wie normale, anständige Leute zu den Taten der Gulag-Aufseher imstande waren, dann haben Sie jetzt die Antwort. Als es ernsthaft an der Zeit war, nein zu sagen, war niemand mehr übrig, der dazu in der Lage gewesen wäre.
Wenn Sie sich selbst verraten, wenn Sie unwahre Dinge sagen, wenn Sie eine Lüge leben, schwächen Sie Ihren Charakter. Wenn Ihr Charakter schwach ist, werden die Widrigkeiten des Lebens Sie niedermähen, sobald sie kommen, und das werden sie. Sie werden sich verstecken wollen, aber es wird dafür keinen Ort mehr geben. Und dann fangen Sie an, schreckliche Dinge zu tun.
Charakterschwäche ist nicht nur armselig und traurig. Sie ist auch gefährlich. Sie ist ein Verrat an den eigenen Bedürfnissen und verursacht so sinnloses Leiden, das wiederum Rachegelüste hervorbringt.
Man kann hier einen Bogen schlagen zum Zwei-Minuten-Hass in »1984«. Die Genossen sind aufgerufen, in diesen zwei Minuten als Mob den dämonisierten Feind des Regimes zu hassen. Anfangs ist es eine Verpflichtung, doch nach spätestens 30 Sekunden kann sich der Protagonist dem Sog des Hasses nicht mehr entziehen, und soweit er es beurteilen kann, geht das allen so.
Der Zwei-Minuten-Hass ist eine Propaganda-Maßnahme desselben Regimes, das die Beteiligten unterdrückt. Doch die Unterdrückung bringt genug Hass hervor, der sich sonst nie äußern darf, um ihn relativ mühelos auf jedes beliebige Ziel zu richten, wenn er es einmal darf.
Subjektive und objektive Voraussetzungen der Meinungsfreiheit
Schäubles Diktum »Wer seine Meinung äußert, sollte auch dazu stehen können« birgt eine interessante Doppelbödigkeit. Wer ist der Adressat des normativen »sollte«?
Schäuble zielt damit wohl auf die Person, die ihre Meinung sagt. Doch das dazu-stehen-Können hängt auch von den sozialen Bedingungen ab, jedenfalls, wenn man dem Individuum ein Selbsterhaltungsinteresse zubilligt.
Um das zu veranschaulichen, kann man sich ein Szenario A vorstellen, in dem jemand, der eine regierungskritische Meinung äußert, nachts von der Geheimpolizei abgeholt wird. In Szenario B passiert ihm nach einer vergleichbaren Äußerung gar nichts.
Die Folgen des dazu-Stehens sind unter den Bedingungen A und B verschiedene. Wenn man Schäubles Forderung geltend macht, ohne das zu berücksichtigen, fordert man vom Individuum im Szenario A eine viel höhere Opferbereitschaft – und vom Staat nichts.
Das ist als moralischer Standpunkt offenkundig Unsinn. Auch Staat und Gesellschaft haben eine Bringschuld. Dazu gehört, jemanden aufgrund einer regierungskritischen Meinung weder mit der Geheimpolizei abzuholen noch zu lynchen. Das »sollte« muss sich auch an Staat und Gesellschaft richten, nicht nur an den, der seine Meinung äußern will.
Doch die bequeme Online-Anonymität kann auf der anderen Seite dazu verführen, es sich zu leicht zu machen. Wenn man zum Beispiel einen Job ausübt, mit dem eine freie Meinungsäußerung nicht vereinbar ist, mag ein Jobwechsel eine Überlegung wert sein. Oder vielleicht sind Chef und Kollegen gar nicht so intolerant, wie man dachte. Vielleicht kann man sich outen und ein klärendes Gespräch führen. Analoges gilt für Beziehungen zu Freunden und Familie. Hier drastische Veränderungen vorzunehmen und Verluste zu riskieren ist keine Kleinigkeit. Aber dauerhaft ein Doppelleben zu führen und sich mit den Worten des Verfassungsgerichts den »unmittelbarsten Ausdruck der Persönlichkeit« zu verkneifen ist auch keine Kleinigkeit.
Die Wahrheit als langfristige Orientierung
Über die letzten zehn Jahre zerbrach Stück für Stück mein Glaube an die Dogmen der Neuen Linken, wodurch ich in einen unauflöslichen Konflikt mit der politischen Korrektheit und einigen Bestandteilen der herrschenden Meinung geriet. In dieser Zeit hat sich mein Bedürfnis, frei zu denken, in mehreren wichtigen Entscheidungen niedergeschlagen. Zu den wichtigsten gehört erstens die, den sozialwissenschaftlichen Betrieb zu verlassen, und zweitens die spätere, als Freiberufler zu arbeiten. Natürlich waren dabei auch andere Erwägungen und Einflüsse im Spiel. Aber man kann sagen, ich habe über eine längere Wegstrecke hinweg ein paar Weichen so gestellt, dass ich im Ergebnis die größtmögliche Freiheit habe, die ich erreichen konnte.
Die Fähigkeit und Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, ist somit auch etwas, das sich über längere Zeiträume und durch langfristige Weichenstellungen manifestiert. Das betrifft auch den subjektiven Aspekt. Man muss die Fähigkeit erlernen, es sich angewöhnen. Zuallererst muss man sich bemühen, ehrlich zu sich selbst zu sein, und jeder Mensch ist ständig in Versuchung, sich etwas vorzumachen. Der Wahrheit über sich selbst ins Auge zu sehen ist unangenehm und schwierig. Einzusehen, dass man vielleicht jahrelang auf dem falschen Kurs war oder verhängnisvolle Fehler begangen hat, ist schmerzhaft. Deshalb vermeiden wir es gerne. Doch die Alternative ist nicht weniger schmerzhaft. Hierzu noch einmal Peterson, selbes Kapitel:
Der stolze, rationale Geist, in seiner Gewissheit schwelgend und von seiner Brillianz entzückt, gerät leicht in Versuchung, Fehler zu ignorieren und Dreck unter den Teppich zu kehren. Literarische Existenzialisten wie Søren Kierkegaard haben diese Seinsweise als »inauthentisch« charakterisiert. Eine inauthentische Person fährt fort, in einer Weise wahrzunehmen und sich zu verhalten, die seine eigene Erfahrung bereits als falsch erwiesen hat. Sie spricht nicht mit ihrer eigenen Stimme.
»Ist das eingetreten, was ich wollte? Nein. Dann waren meine Ziele oder meine Mittel falsch. Ich habe noch viel zu lernen.« Das ist die Stimme der Authentizität.
»Ist das eingetreten, was ich wollte? Nein. Dann ist die Welt ungerecht. Die Menschen sind eifersüchtig und zu dumm, es zu verstehen. Jemand anderes ist schuld.« Das ist die Stimme der Inauthentizität.
Von hier aus ist es kein weiter Weg bis »man sollte sie aufhalten« oder »sie verdienen, verletzt zu werden« oder »sie müssen vernichtet werden«. Wann immer Sie von unbeschreiblichen Brutalitäten hören, haben sich solche Ideen manifestiert.
Über die Jahre habe ich verschiedentlich anonym gebloggt und getwittert. Und über die Jahre fand ich es immer unbefriedigender. Meine Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft in die Anonymität auszulagern bedeutete, sie zu etwas Beschämendem zu erklären. Zu etwas, das man verstecken muss. Das ist keine gute Lebens- oder Arbeitsgrundlage.
Es tut auch der Form nicht gut, die diese Auseinandersetzung annimmt. Wenn man einen Teil des eigenen Denkens ohnehin als etwas definiert, das man verstecken muss, impliziert das automatisch eine gewisse Anspruchslosigkeit in Bezug auf Äußerungen, die aus diesem Teil kommen. Besser ist ein ständiges Bemühen, seine Gedanken so zu formulieren, dass man sie nach eigenen Maßstäben nicht verstecken muss.
Die Wahrhaftigkeit in Bezug auf sich selbst, das eigene Leben, die eigenen Gefühle ist eine Voraussetzung dafür, denn man muss sich über die eigenen Motive im Klaren sein, um mit offenem Visier aufzutreten. Ist man es nicht, bleibt immer ein Zweifel, ob der eigene Standpunkt nicht wirklich ein schlechter ist, wie die politische Korrektheit oder eine andere herrschende Meinung es nahelegt.
Bei dieser Klärung hat mir wesentlich auch die Auseinandersetzung mit relevanter Literatur geholfen (z.B. von Jonathan Haidt). Sie schafft Distanz und gibt einem ein Begriffsinstrumentarium in die Hand, mit dem man sich die betreffenden Probleme auf einer Ebene neu erschließen kann, die den eigenen Verstrickungen enthoben ist und einen distanzierten Blick auf sie ermöglicht.
Der Preis der Dissidenz
Seit Kurzem benutze ich auf Twitter meinen vollen Namen. In den letzten Jahren war in meinem Profil meist mein Blog mit Impressum verlinkt, ich bin also genaugenommen schon länger nicht anonym. Doch dass mein Name direkt über jedem meiner Tweets steht, ist noch etwas anderes. Es ist eine interessante Erfahrung.
Die sprichwörtliche Schere im Kopf kann auch positiv wirken. Ich frage mich häufiger, ob es nötig oder fruchtbar ist, was ich gerade schreiben will, ob ich es dem Adressaten auch ins Gesicht sagen würde und ob ich dazu stehen und es ohne Verlegenheit erklären könnte, wenn Freunde, Verwandte oder auch entfernte Bekanntschaften mich darauf ansprächen. Das führt gelegentlich dazu, dass ich es sein lasse, und hebt die Qualität der Tweets, die ich nicht sein lasse.
Wenn ich eine teilenswerte Einsicht zu haben glaube, dann teile ich sie weitgehend ohne Rücksicht darauf, ob sie politisch korrekt ist. Aber ich gewöhne mir das unnötige Poltern ab, zu dem die Mechanik von Twitter in Kombination mit der Anonymität verführt. Das ist heilsam und ein Gewinn. Wobei allerdings meiner Ansicht nach auch Hohn und Spott, Parodie und Satire ihren Platz in der öffentlichen Auseinandersetzung haben. Es muss nicht immer alles ein Lösungsvorschlag sein. Lachen ist das Kryptonit des Fundamentalismus.
Soziale Kontrolle ist nicht grundsätzlich etwas Schlechtes. Sie ist allgegenwärtig und notwendig. Daher bieten sich immer zwei entgegengesetzte Deutungen an, wenn Mehrheiten die Meinungsfreiheit von Minderheiten oder Einzelnen einschränken. Man kann diese Mehrheiten als intolerante Mobs sehen oder als Verkörperung des gesunden Menschenverstandes, der sich bemüht, verirrte Abweichler in die Zone der Vernunft zurückzuholen.
Wie wir aus historischer Erfahrung wissen, können Mehrheiten beides sein. Die Mehrheit hat nicht immer recht. Aber von ihr wird immer Konformitätsdruck ausgehen, der Dissidenten das Leben schwer macht. Das lässt sich nicht vermeiden. Dass Minderheiten diesen Druck und diese Anfeindungen auf sich nehmen, verleiht ihren Standpunkten gerade ihre Bedeutung und ihr Gewicht. Wer sich anmaßt, sich in bestimmter Hinsicht für klüger zu halten als die Mehrheit, der bezahlt einen Preis dafür. Das ist richtig so, weil es verhindert, dass man es allzu leichtfertig tut, und weil es in gewissem Umfang sichtbar macht, wer es ernst meint.
Im schlechteren Fall ist Anonymität ein Weg, sich vor dieser Realität zu verstecken, den Preis nicht zu zahlen und sich und andere um die volle Wahrheit zu betrügen. Ein freiheitlicher Staat muss allerdings dafür sorgen, dass Konformitätsdruck nicht gewalttätig wird. Wo er das nicht kann, ermöglicht Anonymität im günstigeren Fall zumindest eine Annäherung an eine Position, in der man ohne Angst die Wahrheit sagen kann.
Ich verstehe die Gedanken, und auch, wenn jemand unter Klarnamen schreibt. Ich verstehe auch den Sinn »sozialer Kontrolle« (ein Begriff, welcher aufs Internet angewandt, m.E. total fehl geht, weil es eben keine soziale Gemeinschaft darstellt).
Was mir in der Argumentation zu kurz kommt:
1) Verantwortung: ich ziehe automatisch Frau, Kinder ggfs. sogar den Arbeitgeber etc. mit in einen Konflikt, sobald der öffentlich wird. Ich bürde DENEN die Last auf, Stellung zu beziehen bzw. sich verteidigen zu müssen, sich für oder gegen mich zu stellen. Darf ich das? Sollte ich das tun? Halte ich und sie das aus? Wiegen die Klarnamen-Vorteile das auf?
2) Juristisch: Deutschland ist ein Land, in dem Anwälte Gesetze machen, eine Abmahnhochburg. Die Zahl der juristischen Fallstricke ist endlos, die Gegenseite unterhält eigene Rechtsabteilungen, teilweise steuer- und gebührenfinanziert. Ich tue mich schon schwer, meine Steuererklärung rechtzeitig abzuschicken, die Vorstellung, meine 2 Stunden Feierabend mit Rechtsschutzversicherung, juristischer Korrespondenz und der Abwendung unverschämter Kosten zu verbringen, ist für mich ein Alptraum! Anonymität schafft da zumindest einen wichtigen Puffer.
3) Die menschliche Natur ist, wie sie ist, mit allen Schwächen! Das bedeutet auch: sie urteilt überwiegend nicht in der Sache, sondern versucht zu verschubladen, um sich Arbeit zu sparen. Je kleiner der Geist, desto stärker trifft das zu. Wenn ich unter Klarnamen auftrete, werde ich also schnell verschubladet und erreiche weite Kreise über kurz oder lang schlicht nicht mehr mit meinen Argumenten, weil sie mich sperrt oder meinen Blog auslistet. Ich leiste damit Filterblasen (unfreiwillig) Vorschub.
4) Vergisst das Internet nicht, es muss aber möglich sein, auch mal mit einem Gedanken weit daneben zu liegen und dann aus den Gegenargumenten zu lernen, ohne, dass das ein Leben lang an einem kleben bleibt. Jeder denkt mal schräg oder hat einen schlechten Tag. Allerdings stimme ich zu, dass Geplänkel und Trollerei anonym ebenfalls leichter sind, allerdings ist Twitter z.B. ohnehin kein geeignetes Medium für eine Diskussion, da es regelrecht zu solchem Verhalten verführt.
5) Ist es das Gesetz der Masse, dass die absolute Anzahl der Idioten mit der Gruppengröße ansteigt. Klarnamen ist toll bei 5 Followern, weniger toll bei 5 Millionen. Denn selbst wenn nur 0,0001% davon radikale Idioten sind, sind das immer noch über 500 und wenn man Pech hat, ist einer darunter, der seiner Morddrohung dann auch Taten folgen lässt, der dein Auto anzündet oder Farbbeutel gegen dein Haus wirft. Braucht man das? Ich nicht!
6) Man muss (als Anonymer im Internet) kein Leben in Doppelmoral führen, allerdings ist es im realen Leben ähnlich wie im Internet: man muss Konsequenzen für sich und andere abwägen, man muss den richtigen Moment und die richtigen Worte treffen usw. kommt vermutlich ohnehin selten vor, die meisten meiner Umgebung z.B. meiden politische Diskussionen und bei den anderen muss ich nicht befürchten, dass sie einen bösartigen Streit vom Zaun brechen.
Ich wollte ja gerade deshalb, weil die Gründe und Argumente für Anonymität auf der Hand liegen, ein paar Gedanken in die Diskussion einbringen, was dagegen sprechen könnte. Ist alles im wesentlichen richtig, was du schreibst, aber klingt auch sehr bequem. Wenn zwei Drittel der Bevölkerung meinen, sie müssten verdammt aufpassen, was sie sagen, dann klingt z.B. dein Punkt 6) demgegenüber schon ein bisschen schönfärberisch. Macht dir das keine Sorgen, wenn sich Mehrheiten daran gewöhnen, ihre Meinung zu Fragen des Gemeinwesens zu verheimlichen und ggf. zu lügen, sei es durch scheinbar zustimmendes Schweigen oder direkt? Was macht das mit ihrem Charakter, ihrer Integrität, ihren persönlichen Beziehungen, ihrem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft?
In Diktaturen oder entstehenden Diktaturen hatten die Menschen auch gute Gründe und Argumente dafür, still zu sein, wenn nicht noch bessere. Was machen wir mit dieser Information? Können anonyme Blogger und Twitternutzer die Diktatur aufhalten, wenn dieselben Personen im realen Leben mitgehen und still sind?