Letzten Sommer habe ich etwas Zeit in den Schweizer Bergen verbracht. Im Kanton Graubünden steht nahe dem Tal Bergell ein beeindruckendes Bauwerk: Die Staumauer des in 2162 Meter Höhe gelegenen Albignasees. Sie erzeugt seit ihrer Fertigstellung im Jahr 1959 Strom für das Elektrizitätswerk Zürich, schützt die Talbewohner vor Überschwemmungen und fungiert als Brücke. Sie misst bis zu 115 Meter Höhe mal 760 Meter Länge.
Die Staumauer ist innen hohl und man kann sie besichtigen. Im Inneren ist es dunkel, klamm und kalt. Man hat sie hohl angefertigt, um Beton zu sparen. Ihr Gewicht reicht auch so. Das muss es, denn die Mauer ist nicht am Boden verankert. Sie wird nur von ihrem eigenen Gewicht an Ort und Stelle gehalten. Mit dem Wasserstand des Sees schwankt sie ein wenig vor und zurück.
Im Inneren befinden sich an mehreren Stellen Sensoren mit Sendern, die Neigung, Erschütterungen und Ähnliches messen und bei Unregelmäßigkeiten Alarm schlagen. Als die Technik noch nicht so weit war, hat in wöchentlichem Rhythmus jemand persönlich nachgesehen, ob alles in Ordnung war.
Im Jahr 1927 hatte ein Hochwasser in Graubünden schwere Schäden verursacht und zwölf Menschen das Leben gekostet. Neben ihrer Funktion als Kraftwerk ist die Mauer eines von vielen aufwendigen Projekten in der Region, die die Bewohner vor Überschwemmungen und Bergrutschen schützen.
Irgendwann hat Jordan Peterson einmal sinngemäß über die Natur gesagt, sie sei das, was Leben spendet, im Einklang mit dem üblichen romantischen Bild von der Natur.
Sie sei aber auch das, was ständig versucht, dich zu töten.
Das war wieder mal etwas, das ich wie wir alle im Prinzip natürlich schon wusste, dessen unerbittliche Realität mir aber durch Petersons Wortwahl in neuer Klarheit vor Augen trat.
Unzählige Arten von Viren und Bakterien, von denen es auf der Welt buchstäblich wimmelt, können unsere Körperfunktionen beeinträchtigen und lahmlegen. Ihre Angriffe sind so permanent, dass unsere Organismen noch vor aller Wissenschaft elaborierte und aufwendige Abwehrsysteme ausgebildet haben. Auch die Bausteine unseres Körpers selbst können versagen, von den kleinsten bis zu den größten, und uns langsam oder schnell auf einen Pfad von Leid und Tod führen, das Paradebeispiel ist die Krebskrankheit. Die Sommerhitze bringt uns um, wenn wir nichts zu trinken finden, Kälte, Wind und Niederschlag können Menschen ohne Schutz ebenfalls töten. Etliche Pflanzen und Tiere stellen Gefahren dar, sei es in Form von Giften und Stacheln oder Zähnen und Pranken; sei es, weil wir versehentlich mit ihren Abwehrmechanismen und ‑reflexen in Berührung kommen oder weil wir geeignete Beute sind. Unsere eigene psychische Natur führt uns in gefährliche Versuchungen und macht uns so untereinander immer wieder zu Todfeinden und zur akutesten aller Lebensgefahren.
Die Natur gibt, und sie nimmt, zerstört und peinigt. Ruhe ist immer fragil und von ihrer vorübergehenden Duldung abhängig. Und am Ende bringt sie uns alle um.
In den Bergen liegen die Schönheit und die Gnadenlosigkeit der Natur dicht beieinander, ähnlich wie am Ozean. Das Meer ist eine Urgewalt, die sich nur unter sehr spezifischen Bedingungen als Spaß und Erfrischung erfahren lässt. Auf einer Bergtour ist man von so viel Schönheit umgeben, dass man gar nicht weiß, wohin damit, und gleichzeitig darf man um den Preis des eigenen Lebens nicht vergessen, die Sache ernst zu nehmen.
Am Meer und in den Bergen bekommt man auch ein Gespür für die Grenze und den Unterschied zwischen bezähmter und unbezähmter Natur; zwischen der schönen Natur, die Leben spendet, und der unerbittlichen, die uns umbringen will.
Manche Bergwanderwege sind nur eine lose Reihe von Markierungen an Felsen, die einen Pfad beschreiben, auf dem ein gesunder Mensch mit etwas Mühe vorankommen kann und irgendwann wieder in die Zivilisation gelangt. Ein simples Signal schafft eine dünne Linie halbwegs sicheren erforschten Gebiets. Kommt man vom Pfad ab, geht es wahrscheinlich irgendwann nicht mehr weiter, weil es zu steil wird oder Hindernisse im Weg sind, und dann muss man zurück. Vielleicht geht aber bereits die Sonne unter und ein Gewitter zieht herauf, während es lausig kalt wird. Jetzt wird einem klar, dass man ein großes Problem hat.
Gleichzeitig ist die Bergwanderung ein Wettkampf gegen die eigene Natur. Es sind die Nerven, Muskeln und Gelenke mit ihrer begrenzten Kraft, Flexibilität und Ausdauer, die man damit herausfordert und deren Versagen den Tod bedeuten kann.
Am Strand markieren farbige Flaggen, wo man gefahrlos baden kann. Auch hier verwandelt ein optisches Signal ein Stück der gefährlichen Natur in erforschtes Gebiet. Und auch hier verirrt man sich schnell von der vergnüglichen in die tödliche Natur. Es genügt, die Flaggen für einen Moment zu vergessen, oder vielleicht sind keine da, weil der Strand nicht betreut ist. Man spielt in den Wellen und merkt plötzlich, dass man von der Strömung in eine bestimmte Richtung getrieben wird, sei es parallel zur Küste oder direkt aufs Meer hinaus, und dass man Schwierigkeiten hat, gegen diese Strömung anzuschwimmen. Man muss nicht weit draußen sein, um in eine solche Strömung zu geraten, man sieht den Strand direkt vor sich. Aber trotz aller Anstrengung bewegt man sich weiter in die falsche Richtung, und jetzt wird einem klar, dass man ein großes Problem hat.
Aus allen Richtungen und auf allen Ebenen versucht die Natur, uns zu töten, und Menschen bauen Mauern und setzen Signale die uns beschützen. Impfungen, Medikamente und Operationen, Kleidung, Schuhe und Häuser, Straßen, Brücken und Laternen, Sonnenbrillen und ‑creme, Zahnbürsten, Brillen, Heizungssysteme, Lebensmittel. Dazu kommen gesellschaftliche Institutionen gegen die zerstörerischen Kräfte unserer psychischen Natur: Wahlen und Parlamente, das Rechtswesen, die Polizei und so weiter.
Und nichts davon ist ein für alle Mal erledigt. So wie wir ständig Energie verausgaben müssen, um der Schwerkraft zu trotzen, so müssen wir auch ständig arbeiten (bzw. andere für uns), um unsere Mauern und Signale an Ort und Stelle zu halten. Von den Rückseiten drücken weiter kalte Seen aus Leid und Tod dagegen, und das wird immer so bleiben.
Bei den relativ simplen Orientierungshilfen und Befestigungen im Bergwald ist es noch leicht, sich vorzustellen, dass sie von Menschen geschaffen wurden. Vor ein paar, ich weiß nicht, Jahrzehnten, vielleicht liegt es auch länger zurück, sind Einheimische hier hochgekraxelt und haben Steinplatten verlegt, damit sie selbst, ihre Familien, ihre Landsleute und Besucher sich in der Gegend flexibler, schneller und sicherer bewegen konnten.
Kontinuierlich pflegt und wartet jemand diese Einrichtungen auf Kosten der Allgemeinheit, damit sie erhalten bleiben. Und es ist relativ leicht, dafür eine gewisse Dankbarkeit zu empfinden und sich willkommen zu fühlen. Ich bin nicht ganz auf mich allein gestellt, wenn ich hier wandere. Jemand hat dafür gesorgt, dass ich mich zurechtfinde. Jemand meinte es gut mit mir. Jemand, dem ich vertrauen kann, obwohl wir uns nicht kennen.
Es ist nur ein schwaches Echo einer wohlwollenden menschlichen Hand, und was sie mir an Hilfe bieten und an Trost spenden kann, ist begrenzt. Aber immerhin. Die höher entwickelten Technologien, die unser alltägliches Leben heute so komfortabel machen, haben dieses menschliche Gesicht ganz verloren. Sie sind zu perfekt und zu gleichförmig. Weder die, die zu ihrer Herstellung beitragen, noch die, die sie nutzen, haben das Gefühl, persönlich auf bedeutungsvolle Weise damit verbunden zu sein. Obwohl das alles faktisch eine riesiges und phänomenal erfolgreiches Produkt menschlicher Kooperation ist, verbindet die Beteiligten kein spürbares Band der Solidarität, Loyalität oder Gemeinschaft.
Mauern halten Leid und Tod fern, doch in ihrer Mitte fühlen wir uns eingemauert, und viele zücken die Spitzhacken.
Ich frage mich immer wieder, was dem modernen Hass auf die »alten weißen Männer« wirklich zugrunde liegt. Es ist das eine, auf evolutionspsychologischer Basis festzustellen, dass wir instinktiv Frauen als kostbar und schützenswert und Männer eher als entbehrlich einstufen, weil dieses Werteschema die Überlebenschancen der Gruppe maximiert. Aber das erklärt nicht den schieren Hass auf Männer, den neurotischen Übereifer bei ihrer Anklage und Dämonisierung. Auch die Beimischung des »Alten« zu diesem Hassbild ist damit nicht erklärt.
Vielleicht ist es im Kern Verbitterung über den Vater, nicht unbedingt den leibhaftigen Vater, sondern die allgemeine Vorstellung und den Archetyp des Vaters, der in unserer Zeit immer mehr und immer häufiger ein abwesender und gedemütigter ist. Der Vater ist der Erbauer und Beschützer; seine Aufgabe wäre es gewesen, dafür zu sorgen, dass wir uns auf dieser Welt wohlfühlen und dass alles gut ausgeht.
»Okay, Vater, du hast geschuftet und geopfert, deine Bedürfnisse hintangestellt, warst schlau und erfinderisch, hast uns ein schönes beheiztes Haus gebaut und dafür gesorgt, dass wir in Sicherheit leben, mit allen zeitgemäßen Technologien ausgestattet und in schicke Marken gekleidet. Aber was ist das alles wert, wenn wir verlassen und ungeliebt ziellos umherirren, weil du nie für uns da warst?«
Ich vermute der Hass auf den »alten weißen Mann« speist sich aus verschiedenen Quellen:
1) persönliche Probleme und negative Erfahrungen (mit älteren Autoritäten, den eigenen Eltern, Männern etc.)
2) Neid auf deren (finanziellen) Erfolg und Ablehnung von deren Lebensweise, die man als nicht nachhaltig, oberflächlich und unmoralisch ansieht
3) last but not least, sehe ich den größten Verstärker von Punkt 1 und 2, sowie den Hauptgrund, dass der Hass bei Linken so Fuß fassen konnte, in der Dominanz des Westens bzw. der USA
Der letzte Punkt verdient eine genauere Ausführung: in einer Leistungsgesellschaft sammeln sich automatisch überwiegend Männer an der Spitze. Leider nicht immer die Besten, sondern ein gerüttelt Maß an Psychopathen. Mittlerweile tummeln sich da auch (Quoten-)Frauen, die aber halt den Vorteil haben, dass man mit ihnen nachsichtiger ist, weil es halt Frauen sind.
Linke sind aber per Definition immer an der Seite der vermeintlich Schwachen. Wird ein System dann auch noch dominant und übergriffig, wie die USA es jahrzehntelang waren, bei gleichzeitig kaum demokratisch zu nennenden Strukturen (man kann den amerikanischen Dauerkrieg nicht abwählen, dazu ist der militärisch-industrielle Komplex zu mächtig), dann bleibt das nicht ohne Auswirkungen.
Es entsteht eine Art Auto-Immunerkrankung. Eine Müdigkeit mit dem eigenen System und den Führungsfiguren, die faktisch aber übermächtig sind. Das wiederum führt zu massiver Aggression und dem Gefühl, in einem asymmetrischen Konflikt alle Moral und alle Regeln ablegen zu können, um den internen Gegner zu zerstören.
Ein interner Konflikt, der sich von außen (islamische Länder) leicht instrumentalisieren lässt und von oben her vielleicht sogar zur Steuerung mißbraucht wird. Ein Konflikt allerdings auch, der sich zwischen pauschalisierenden Naivlingen bzw. halt Gesinnungsethikern und Verantwortungsethikern abspielt.
Letztere sind dabei in der Defensive, weil man ihr abwehrendes und relativierendes Verhalten als »Feindunterstützung« wahrnimmt, während das herrschende System die Kritik von Verantwortungsethikern auch nicht gebrauchen kann. In dieser Situation befindet sich m.E. die AfD und die »alten weißen Männer«: zwischen allen Stühlen… und mit ihnen die Vernunft.
Ich habe hier ja versucht, ein wenig das Positive hervorzuheben, was Männer beisteuern. Insofern sind die Gründe zirkulär:
1) Was ist mit den positiven Erfahrungen? Warum beklagt sich Natalie Portman über männliche Regisseure, wenn sie männlichen Regisseuren ihre Karriere verdankt?
2) Was ist mit den Männern, die nicht zu beneiden sind, Soldaten, Häftlinge, Obdachlose, Malocher? Jeder weiß, dass es die gibt.
3) Die Rebellierenden verdanken dieser Machtstruktur wahnsinnig viel. Materiell und ideell. Unter anderem auch den Universalismus, der die Grundlage ihrer Anklage bildet, aber auch die Freiheit, zu rebellieren, wie sie es tun.
Wenn diese Einseitigkeit der Wahrnehmung von Männern Ursache des Hasses ist, was ist dann Ursache der Einseitigkeit der Wahrnehmung?
Neuer Weiblichkeitskult?
Man möchte die Frauen da sehen, wo sich die Männer erfolgreich hochgearbeitet haben. Sie sind sozusagen im Weg.