Vor einigen Tagen führte ein Professor Tarik Abou-Chadi (he/him) auf Twitter aus, dass »gender-kritische Einstellungen« Bestandteil »rechter Ideologie« seien. Konkret geht es dabei um die Auffassung, dass es »nur Frau und Mann« und »nichts dazwischen« gebe. Die Tweet-Kette zeigt in kompakter Form, was in den ideologisch voreingenommenen Sozialwissenschaften und im von ihnen inspirierten »Kampf gegen rechts« schiefläuft.
Die Argumentation stützt sich auf Umfragedaten und theoretische Überlegungen. Beide Teile treffen Aussagen, die an sich nicht zu beanstanden sind. Doch beide dienen auch einem ideologischen Ziel, das dem Bemühen um Erkenntnis übergeordnet ist und seine Parameter und Grenzen bestimmt.
Ich wurde neulich gefragt, ob ich glaube, dass die Sozialwissenschaften überhaupt etwas Wertvolles zu bieten hätten. Die Antwort ist ja – ich halte sie für größtenteils korrupt, aber das heißt nicht, dass sie nur Unsinn veranstalten würden. Auch abgesehen von wertvollen Klassikern folgt die Forschung über weite Strecken validen Methoden und stellt valide Fragen. Doch alles dient einem ideologischen Ziel, das schon vorher feststeht, oder darf ihm zumindest nicht zuwiderlaufen. Wo dieses Ziel berührt ist, schlägt das Streben nach Wissen in ein Streben nach Selbstbestätigung um, was auch die an sich validen Teile kompromittiert. Das Ziel ist, linke Politik- und Gesellschaftsentwürfe als die richtigen auszuweisen. Dies geschieht nicht durch irgendwelche verschwörerischen Absprachen, sondern ist Ausdruck einer tief verinnerlichten Gruppenmoral, die ein anderes Ergebnis schon im Fühlen und Denken gar nicht zulässt.
Abou-Chadi verweist anhand von Umfragedaten auf eine Korrelation zwischen der Auffassung, dass es nur zwei Geschlechter gebe, und der Selbsteinordnung als »rechts«. Gut, interessant. Wobei auch festzuhalten ist, dass die Wahrscheinlichkeit, sich rechts einzuordnen, dem oben verlinkten ersten Tweet zufolge selbst bei Personen mit stark gender-kritischer Haltung nur knapp über .4 liegt, also 40 Prozent. Dass sie bei ihnen signifikant erhöht ist, ist ein Befund. Doch es gibt immer noch eine »gender-kritische« Mehrheit, die sich nicht »rechts« einordnet. Dazu gehören unter anderem die von Transaktivisten als »TERFs« bezeichneten Feministinnen wie Joanne K. Rowling.
Nach ein paar weiteren Daten, die etwa aufs Gleiche hinauslaufen, folgt der theoretische Teil. Natürlich sei »empirische Selbsteinstufung nur eine Art, über rechte Ideologie nachzudenken.« Norberto Bobbio habe »die Unterscheidung zwischen links und rechts am Bezug zu Gleichheit und Ungleichheit« festgemacht.
Vereinfacht gesagt: wer rechts ist, sieht Ungleichheiten als natürlich gegeben und notwendig für soziale Ordnung an. Wer links ist, sieht Ungleichheiten als Produkt sozialer Interaktion.
Grob, aber durchaus brauchbar. Und nun kommt’s.
Gender-kritische Einstellungen und deren biopolitische Untermauerung gehören also eindeutig in die rechte Ideologie. Zweigeschlechtlichkeit wird als natürlich gegebene Kategorie mit politischer Relevanz gesehen. Fluidität stellt einen Angriff auf bestehende Ordnungen dar.
Hier passiert der Zaubertrick.
Der Begriff »rechte Ideologie« kommt ins Spiel und ersetzt »rechts sein«. Alles, was Menschen glauben, die irgendwelche Ungleichheiten als natürlich gegeben ansehen, ist demnach »rechte Ideologie« – und »Ungleichheiten« heißt hier nicht einmal Hierarchie, sondern nur »Unterschiede«, denn es geht um Geschlecht. Der Ausdruck »rechte Ideologie« impliziert, dass die betreffende Ansicht nur Ideologie sei, also falsch und obendrein gefährlich.
Oder? Theoretisch könnte etwas auch »rechte Ideologie« und trotzdem wahr sein. Aber wer fasst den Begriff so auf? Wer befasst sich unvoreingenommen mit einem Standpunkt, der bereits als »rechte Ideologie« eingeordnet wurde, zumal in einem linken Publikum? Es wird meist nicht nur keine Bereitschaft dazu geben, sondern vielmehr ein moralisches Tabu, diesen Standpunkt ernsthaft zu erwägen, denn das wäre ein Liebäugeln mit »rechter Ideologie«. Niemand stellt ergebnisoffen die Frage, ob »rechte Ideologie« vielleicht richtig sei. Rechte Ideologie gehört bekämpft.
Demgegenüber ist nirgends in der Tweet-Kette von »linker Ideologie« die Rede. Mit dem vorangehenden Verweis auf Bobbio wurden rechts und links im Wesentlichen gleichrangig behandelt, doch an dieser Stelle wird die Parteinahme bestimmend für den Gedankengang. Die als »rechts« charakterisierten Auffassungen werden zu »rechter Ideologie« (für falsch und gefährlich) erklärt, und gleichzeitig die als links charakterisierten stillschweigend als richtig unterstellt. Damit sind dann auch die Feministinnen und Joanne K. Rowling wieder eingefangen, die sich sicher nicht rechts einordnen, aber mit ihrer Auffassung, dass es nur zwei Geschlechter gebe, »eindeutig« trotzdem rechte Ideologie verträten.
Man kann dieses Manöver als Flucht in die Psychologisierung beschreiben, eine Art von Ausweichen auf die Meta-Ebene. »… wird als natürlich gegebene Kategorie mit politischer Relevanz gesehen«, »… stellt einen Angriff auf bestehende Ordnungen dar«. Die Aussagen beziehen sich auf die Wahrnehmung von Personen mit hier als »rechts« charakterisierten Auffassungen. Aber ist die Zweigeschlechtlichkeit eine natürlich gegebene Kategorie mit politischer Relevanz? Die Frage wird weder gestellt noch beantwortet. Die Psychologisierung ersetzt die inhaltliche Auseinandersetzung. Die Gegenseite ist nicht mehr Diskussionspartner bzw. ‑gegner, sondern lebender Untersuchungsgegenstand, der darauf zu untersuchen ist, wie er zu so absonderlichen Auffassungen kommt. Von der Psychologisierung ist es nie weit zur Pathologisierung, etwa derart, dass es sich bei dem psychologisierten Standpunkt um den Ausdruck einer irrationalen Angstreaktion (-phob) handele.
Man könnte einwenden, dass es hier von vornherein um Einstellungen und deren Zusammenhang ging, was automatisch eine Psychologisierung ist. Und natürlich ist eine psychologische Untersuchung von politischen Einstellungen an sich völlig legitim, während man immer sagen kann, die inhaltliche Diskussion sei an anderer Stelle zu führen. Doch in diesem Kontext nimmt die Erörterung der psychischen Ebene die oben beschriebene Funktion an, und zwar deshalb, weil sie nur einseitig passiert.
Eine ausgewogene Betrachtung würde beide, Rechte und Linke, als menschliche Akteure auffassen, deren Ansichten sich in Teilen aus psychischen Neigungen und Präferenzen erklären und die beide bestimmte Realitäten wahrnehmen und aufgreifen, aber auch fehlbar sind, wie Menschen es nun einmal sind. Aus welchen psychischen Neigungen und Heuristiken sich ein Standpunkt herleiten und erklären mag, sagt noch nichts darüber aus, ob und wieweit er berechtigt ist. Das ist eine andere Frage. Doch hier suggeriert die Rhetorik, dass die Auffassung der einen Seite nur psychologisch zu erklären sei, nur »Ideologie« sei, also keinen ernstzunehmenden Realitätsbezug habe, während es bei dem Standpunkt der anderen anscheinend überhaupt nichts zu psychologisieren gibt, keinerlei Ideologie, nur die nackte Wahrheit.
Natürlich gegebene Ungleichheiten
Aber ist das so, und ist das so offensichtlich evident? Alle Ungleichheiten Ergebnis sozialer Interaktion? Keinerlei Ungleichheiten (Verschiedenheiten) natürlich gegeben oder notwendig für soziale Ordnung? Nicht einmal die zwei Geschlechter? Ist das so klar, dass man es einfach als selbstverständliche Wahrheit hinstellen kann?
Das sind rhetorische Fragen – natürlich nicht. Es gibt keine Gesellschaft ohne Ungleichheit und gab in der Geschichte nie eine, abgesehen von sehr einfachen, stammesförmigen Gruppierungen. Empirisch nimmt die Ungleichheit mit dem gesellschaftlichen Organisationsgrad zu. Neben dieser überwältigenden empirischen Evidenz dafür, dass gesellschaftliche Organisation mit Ungleichheit einhergeht, steht die Tatsache, dass Ordnung ohne Ungleichheit auch theoretisch unmöglich zu denken ist. Das gilt für Ungleichheit im Sinne von Hierarchie und umso mehr für Ungleichheit im Sinne von Verschiedenheit.
Wir wissen außerdem, dass zahlreiche Eigenschaften, die über den Erfolg und Werdegang einer Person mitentscheiden, teilweise erblich sind, beispielsweise IQ, Temperamente, Krankheiten und Begabungen. Auch daraus folgt Ungleichheit, die nicht »Produkt sozialer Interaktion« ist, außer wenn man den Zeugungsakt der Eltern unter diesen Begriff fassen will.
Die naturgegebene und notwendige Ungleichheit hat also zwei Aspekte. Zum einen geht soziale Ordnung mit Arbeitsteilung und Hierarchie einher. Dies sagt noch nichts darüber aus, welche Individuen wo in der Hierarchie landen und betrifft mehr die allgemeine Konstitution der menschlichen Natur als die individuelle Vererbung von Eigenschaften. Wir sind keine Ameisen oder Bienen und unsere Gesellschaften funktionieren deshalb auch anders als ihre. Das zweite ist die Erblichkeit, die tatsächlich darüber mitentscheidet, wo wir in dem hierarchischen und arbeitsteiligen Geflecht landen.
Was Geschlecht betrifft, beruht die Behauptung der Fluidität schlicht darauf, den Begriff »Geschlecht« unter der Hand mit einer neuen Bedeutung zu füllen. Gefühle und die subjektiven Anteile sozialer Identitäten mögen fluide sein, das Geschlecht ist es nicht. Noch nie hat ein Mensch spontan das andere Geschlecht angenommen, und die medizinisch-operative Angleichung ist kein natürliches Fließen, sondern ein extrem invasiver medizinischer Eingriff mit eng begrenzten Möglichkeiten und einem Ergebnis, das bestenfalls bei oberflächlicher Betrachtung als echter Wechsel des Geschlechts durchgeht.
»… stellt einen Angriff auf bestehende Ordnungen dar« – das tun auch Behauptungen wie die, ich sei ein Einhorn, der Regen falle von unten nach oben oder die Staatsgeschäfte seien am besten einem Orakel anzuvertrauen. Was sagt das aus? Ist es »rechte Ideologie«, das zurückzuweisen?
Eine Extremposition wird zum Standard
Wenn man rechts und links so konzeptualisiert wie Abou-Chadi in seinem Thread, ist die Realität klar im Team »rechte Ideologie«. Das liegt aber daran, dass die Wahrheit in der Mitte liegt und Abou-Chadi die in den Sozialwissenschaften übliche Extremposition vertritt, während er so tut, als sei diese Extremposition selbstverständlich und jede Abweichung davon zur Mitte hin »Ideologie«.
Jeder, der sich ernsthaft und evidenzbasiert mit der Frage nach der Bedeutung von Naturanlagen versus Sozialisation als bestimmende Größen für die Manifestation menschlichen Lebens auseinandersetzt, weiß, dass man es bei den meisten Fragen mit komplexen Interaktionen zwischen Genen und Erfahrung zu tun hat. Auch jedem wissenschaftlichen Laien ist im Großen und Ganzen klar, dass Menschen wandelbar und formbar sind, aber eben nicht unbegrenzt wandelbar und formbar.
Es gibt Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die von der Natur gesetzt sind. Ein Kind braucht beispielsweise Liebe, Aufmerksamkeit und eine stabile Beziehung zu seinen primären Bezugspersonen, um sich psychisch gesund zu entwickeln. Unter anderem deshalb sind Institutionen wie Monogamie und Familie nicht nur unbegründete Geschmackssachen. (In Anbetracht des heute endemischen Schwarzweißdenkens stelle ich klar, dass ich damit nicht sage, alle Menschen müssten in monogamer Ehe leben, sondern nur, dass das Muster nicht beliebig und seine Auflösung nicht kostenlos ist.) Man könnte eine lange Liste von Aspekten des Lebens erstellen, die in ähnlicher Weise vorgegeben sind. Der Körper braucht physische Aktivität. Wir müssen essen und können nur bestimmte Stoffe verdauen. Wir müssen Arbeit investieren, um die Welt bewohnbar zu machen. Wir müssen teilweise unsere individuellen Bedürfnisse und Impulse den Erfordernissen der Gruppe unterordnen, um Frieden und Kooperation zu ermöglichen. Wir müssen Werte verinnerlichen und weitergeben, um eine Orientierung für unser Handeln zu haben. Und so weiter.
Die Frage ist nicht, ob alles fluide oder alles starr ist, sondern wie fluide und wie starr die Dinge sind. Die Natur setzt einige Parameter, denen jede soziale Ordnung Rechnung tragen muss. Das steht außer Frage. Und Gesellschaften haben einen gewissen Spielraum dabei, wie sie das tun. Das steht auch außer Frage. Die Frage ist nicht, ob es einen Spielraum gibt, sondern wie groß er ist und wo seine Grenzen verlaufen. Auch an obiger Formel nach Bobbio kann man eigentlich schon ablesen, dass beide Seiten teilweise recht haben. Bestehende Ungleichheiten sind teilweise naturgegeben und notwendig und teilweise Ergebnis sozialer Interaktion (womit wohl »veränderbar« und »überwindbar« gemeint ist, was nicht das Gleiche ist, weil auch Interaktion bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt, aber das nur nebenbei).
Deshalb haben rechte und linke Standpunkte ihre Berechtigung und Gesellschaften profitieren davon, dass es beide gibt. Linke interessieren sich eher für das Wandlungspotenzial, Rechte eher für die Bewahrung dessen, was bereits vorhanden und nötig oder wertvoll ist. Es ist gut, beides auf dem Schirm zu haben. Zu welcher Seite hin kollektive Entscheidungen fallen sollten, kann von Frage zu Frage unterschiedlich sein. Im Idealfall würden Menschen intelligent darüber verhandeln, statt die eigene einseitige Sicht zur Religion zu machen und die andere zum verkörperten Bösen zu erklären.
Am Anfang seines Buches »Das unbeschriebene Blatt: Die moderne Leugnung der menschlichen Natur« beschreibt der Psychologe Steven Pinker genau dieses Phänomen: Eine moderate, differenzierte Mittelposition wird als Extremposition wahrgenommen und die Extremposition als normal und selbstverständlich.
… Weil sie Kultur und Natur als Erklärung herangezogen haben und nicht nur Kultur, wurden diese Autoren zum Gegenstand von Protesten gemacht, niedergebrüllt, in der Presse mit beißenden Beschimpfungen überzogen, sogar im Kongress denunziert. Andere, die solche Meinungen ausgedrückt haben, wurden zensiert, angegriffen oder mit Strafverfolgung bedroht.
Verändert hat sich seitdem nur, dass sich die linke Default-Position, von der ausgehend Menschen für abweichende Meinungen beschimpft und bekämpft werden, noch ein gutes Stück weiter radikalisiert hat. Selbst die bloße Feststellung, dass es nur zwei Geschlechter gebe, soll jetzt Ausdruck einer Ideologie der Ungleichheit und ein Beharren auf überholten Ordnungsvorstellungen sein. Die Behauptung jeglicher naturgegebener Verschiedenheit zwischen Menschen ist nun »rechte Ideologie« – egal, wie evident sie ist.
Der Witz ist: Vom Standpunkt der Sprecher aus gesehen stimmt das sogar. Rechts und links sind Richtungsbegriffe und als solche relativ. Wie Pinker einmal sagte: Vom Nordpol aus ist alles Süden; vom Linkspol aus ist alles rechts. Wenn man auf dem Standpunkt steht, dass Menschen als beliebig programmierbare Rohlinge zur Welt kommen und evidente Alltagswahrnehmungen ebenso wie naturwissenschaftliches Grundlagenwissen nur sozial konstruierte Fiktionen beschreiben, ist von dort aus jede Behauptung über objektiv gegebene Strukturen der Wirklichkeit »rechts«.
Wer sich nicht dem neurotischen Willen zu Wahn und Verdunkelung hingeben will, der immer mehr die öffentliche Diskussion bestimmt, kann hier nur denselben Schluss ziehen wie John McWhorter in »Woke Racism« beziehungsweise »Die Erwählten«. Wir müssen uns daran gewöhnen, schreibt McWhorter, von religiösen Antirassisten öffentlich als Rassist bezeichnet zu werden, denn das sei unvermeidlich, wenn man sich rational und somit außerhalb ihrer Orthodoxie über Rassismus äußern wolle. Das gilt analog für ein ganzes Spektrum sensibler Themen und das Label »rechts«. Die Antwort auf eine Einordnung als »rechts« sollte lauten: »Es ist völlig bedeutungslos, ob meine Aussage in deinen Augen ›rechte Ideologie‹ ist. Reden wir lieber darüber, ob sie wahr ist.«