Ich bin gerade über Zahlen von Dezember 2020 gestolpert, die etwas sichtbar machen, das mir so nicht klar war: in welchem Ausmaß Menschen – hier US-Amerikaner – ihre persönliche Gefährdung durch Sars-CoV‑2 überschätzen.
41 % der Demokraten- und 28 % der Republikaner-Anhänger glauben, das Risiko, im Fall einer Infektion mit dem Virus ins Krankenhaus zu müssen, betrage mehr als 50 %. In Wirklichkeit liegt es zwischen 1 und 5 %. Ich sehe keinen Grund anzunehmen, dass die Zahlen in anderen Ländern viel besser aussehen oder die Einschätzungen seit Dezember realistischer geworden sind.
Unfassbar, dass die Öffentlichkeit bei einem Thema, das seit anderthalb Jahren so stark das ganze Geschehen dominiert, so falsch informiert sein kann. Ein großer Teil der Bevölkerung lebt in einem völlig anderen Film. Menschen schließen sich zu Hause ein wegen solcher Informationen, entwickeln eine generalisierte Angst vor Menschen und einen Hass auf die, die entspannter sind, maskieren sich doppelt und dreifach, isolieren ihre Kinder und Ähnliches mehr.
Soll man das Medien- und Politikversagen nennen oder ist das zu einfach? Aus der Medienwirkungsforschung wissen wir seit Langem, dass häufige Erwähnung eines Themas in den Köpfen den Eindruck hinterlässt, das Thema sei entsprechend wichtig, und wenn es dabei um eine Gefahr geht, diese sei entsprechend groß. Da es keine Option ist, nicht zu berichten, können die Medien es kaum vermeiden, das Thema Covid-19 derart aufzubauen.
Aber könnten und müssten sie nicht häufiger die Zahlen ins Verhältnis setzen, um solchen unbewussten, verzerrenden Prozessen entgegenzuwirken? Und Politiker ebenso? Hier liegt der Verdacht nahe, dass sie das mehr oder weniger bewusst nicht tun, weil sie wollen, dass die Leute den Regeln gehorchen und – ab Jahreswechsel 2020/21 – sich impfen lassen. Jede Teilentwarnung würde den Handlungsdruck senken, und das ist nicht gewünscht. Aus dem Bundesinnenministerium ist bekanntlich im Frühjahr 2020 ein Papier geleakt, aus dem hervorging, dass die Bevölkerung gezielt geängstigt werden sollte, um Gehorsam gegenüber der Pandemiepolitik zu befördern. Von einer »gewünschten Schockwirkung« der Krisenkommunikation war die Rede. Angst als Mittel zur Kontrolle, wenn auch zu einem der Absicht nach gutem Zweck.
Ein gefährliches Spiel, vorsichtig ausgedrückt. Vielleicht rettet man damit ein paar Leben. Aber was sind die Kollateralschäden? Kann das irgendjemand realistisch einschätzen und gegeneinander abwägen? Versucht das überhaupt jemand?
Es ist reichlich ironisch, dass offizielle Stellen über Desinformation und Panikmache im Zusammenhang mit der Pandemie klagen – durchaus zu recht, es zirkuliert viel Unsinn -, aber selbst für eine in gigantischem Umfang desinformierte Öffentlichkeit verantwortlich sind, wie sich an obiger Grafik ablesen lässt. Für diese übertriebene Furcht sind keine Querdenker verantwortlich.
Die Zahlen potenzieren die gesellschaftliche Spaltung, die vom Ausspielen Geimpfter und Ungeimpfter gegeneinander zu erwarten ist. Und je größer die Angst, desto stärker die Drift in den Autoritarismus. Es ist ein Unterschied, ob ich glaube, dass ein Ungeimpfter, der mich ansteckt, mich mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit ins Krankenhaus bringt, oder ob ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit nur bis zu 5 % beträgt und eher bei oder unter 1 % liegt, wenn ich jung und gesund bin. Zu ignorieren ist die Gefahr auch dann nicht, aber es ist eine andere Größenordnung, die in einer Abwägung mit den Kosten der Maßnahmen auch zu einem entsprechend anderen Ergebnis führen würde. Viele Menschen handeln und urteilen in Bezug auf eines der bedeutendsten öffentlichen Themen der zurückliegenden anderthalb Jahre auf Basis völlig falscher Prämissen.
Joe Bidens »unsere Geduld ist am Ende« ist mit Blick auf diese Zahlen ähnlich verantwortungslos wie seine von den Medien übernommene Wahlkampflüge, Trump habe Neonazis als »fine people« bezeichnet. Mehr Spaltung geht nicht. Nebenbei bemerkt erfährt das Klischee der dummen, uninformierten, von rechten Agitatoren aufgehetzten Republikaner-Wähler durch diese Erhebung keine Bestätigung.