Am 25. November 2020 hat der »Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus« im Auftrag der deutschen Bundesregierung eine Liste von 89 Maßnahmen vorgelegt, die dieser Bekämpfung dienen sollen. Eine davon sieht die »Ersetzung des Begriffs ›Rasse‹« in Artikel 3 des Grundgesetzes vor, der veraltet und unwissenschaftlich sei. Der betreffende Satz ist dieser:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
Es geht um einen Kernbestandteil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung – das Verbot der Diskriminierung von Individuen aufgrund (zugeschriebener) Gruppenzugehörigkeiten und das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz.
Der Kabinettsausschuss hat zunächst nicht spezifiziert, wodurch der Begriff »Rasse« ersetzt werden soll. Doch es besteht die reale Möglichkeit, dass die geänderte Variante in irgendeiner Form den Begriff »Rassismus« oder »rassistisch« verwenden wird. Die Grünen etwa schlagen in ihrem Gesetzentwurf diese sprachliche Verrenkung vor:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder rassistisch benachteiligt oder bevorzugt werden.
Wenn eine solche Änderung umgesetzt und gleichzeitig der neue Rassismusbegriff immer mehr bestimmend wird, wäre eine logische Folge, dass Weiße künftig nicht mehr unter Artikel 3 vor Diskriminierung aufgrund ihres Weißseins geschützt sind, da ihnen nach dann herrschender Definition etwas Rassistisches definitionsgemäß gar nicht widerfahren könne. Eine solche Aufhebung des Diskriminierungsschutzes für Weiße entspräche der Formel des einflussreichen »antirassistischen« Autors und Redners Ibram X. Kendi: »The only remedy to racist discrimination is anti-racist discrimination« – die einzige Abhilfe gegen rassistische Diskriminierung ist antirassistische Diskriminierung.
Kendi macht es sich leicht und sagt, jede Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weißen oder anderen entsprechenden Gruppen sei Rassismus. Er bemisst das allein am Ergebnis. Es braucht keinen Nachweis rassistischer Einstellungen, Taten, Gesetze, Ungleichbehandlungen etc. Die Ungleichheit ist Rassismus. Jede Politik, die die Ungleichheit reduziert, ist antirassistisch; jede Politik, die sie nicht reduziert, ist rassistisch. In dieser Begrifflichkeit nimmt die Formel »Bekämpfung von Rassismus« eine andere Bedeutung an.
»Strukturelle Benachteiligung« und die Umdeutung von Artikel 3
Kendi ist als Einzelstimme nicht maßgeblich, doch er artikuliert Denkweisen, die weiter verbreitet sind. Konkret und hierzulande etwa in dem Ausdruck »struktureller Rassismus« (die Anglophonen bevorzugen »systemic«), der mit dem neuen Rassismusbegriff an Prominenz gewinnt. Er besagt im Wesentlichen das Gleiche wie Kendi mit seinem Prinzip, dass unabhängig von konkreten Mechanismen und Nachweisbarkeiten jede Ungleichheit zwischen »rassifizierten« (oder wie immer man es nennt) Gruppen Rassismus sei und jeder rassistisch handle, der sich nicht um den Abbau dieser Ungleichheit bemüht.
Der »strukturelle Rassismus« ist zugleich allgegenwärtig und nicht konkret greifbar. Der Begriff schreibt fest, dass es keine Beweise geben mag und der Angeklagte trotzdem schuldig ist. Die Unschuldsvermutung ist dahin. Aber es ist nicht »nur« eine Beweislastumkehr, denn das würde bedeuten, dass ein Beweis der eigenen Unschuld möglich wäre. Dies ist nicht der Fall. Auch wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass Sie rassistisch handeln oder denken, sind Sie als Weißer in jedem Fall »rassistisch sozialisiert« und »profitieren vom System des Rassismus/der White Supremacy« etc. Sie sind auch ohne nachweisbare rassistische Einstellungen oder Handlungen schuldig und denen, die das feststellen, etwas schuldig.
Dies bildet die Grundlage für eine neue Interpretation von Artikel 3, die mit der Verwendung von »rassistisch« im Wortlaut gestärkt würde, aber im Prinzip nicht einmal darauf angewiesen ist. Menschen dürfen nicht nach den aufgezählten Merkmalen »benachteiligt oder bevorzugt« werden. Nun kann man sagen: Da wir strukturellen Rassismus haben, sind alle nichtweißen Menschen permanent »benachteiligt«. Es wäre daher kein Verfassungsbruch, Weiße aktiv zu benachteiligen, sondern es wäre ein Verfassungsbruch, es nicht zu tun.
Nach derselben Logik verfährt bereits die feministische Umdeutung der verfassungsmäßigen Gleichberechtigung der Geschlechter in einen staatlichen Gleichstellungsauftrag, der sich nicht nur auf das Rechtliche und Politische, sondern auch das Soziale und Ökonomische erstrecke und somit Diskriminierung von Männern durch Frauenförderung und ‑quoten, eisernes Ignorieren der Probleme von Männern und Jungen sowie einen Wasserfall monotonen Männerbashings aus Politik und Medien rechtfertige. Gemäß dem Denken Kendis wird die Unterrepräsentation von Frauen in manchen gesellschaftlichen Bereichen und Berufen ungeachtet der Gründe als »Benachteiligung« im Sinne von Artikel 3 gedeutet.
Gewissermaßen ist das Verfassungsrecht hier auf den Kopf gestellt. Ursprünglich bedeutete das Diskriminierungsverbot, dass der Staat niemanden aufgrund der aufgezählten Merkmale benachteiligen (oder bevorzugen) durfte. Die heutige Denkweise ist dagegen: Bestimmte Gruppen sind entlang dieser Merkmale gesellschaftlich benachteiligt, und das verfassungsmäßige Verbot solcher Benachteiligung verpflichtet den Staat, die jeweils »privilegierten« Gruppen entlang solcher Merkmale zu benachteiligen, um der gesellschaftlich gegebenen Benachteiligung der anderen entgegenzuwirken.
Es zählt von dieser Warte aus auch nicht, wenn man einwendet, dass Zuwanderer im Durchschnitt automatisch einfach dadurch benachteiligt sind, dass einige von ihnen die Landessprache nicht sprechen, in der Kultur nicht heimisch sind, keine Kontakte haben und sich nicht auskennen. Das alles sind Steine, die Einwanderern in jedem Land im Weg liegen, ganz unabhängig von etwaigem Rassismus der Einheimischen. Diese können zusätzlich noch rassistisch sein, aber das ist eine separate Frage. Mit dem neuen Rassismusbegriff ist es keine separate Frage mehr. Wenn Angehörige einer nichtweißen ethnischen Minderheit im Durchschnitt weniger haben, ist das Rassismus, Punkt. Rassismus gibt es demnach erst dann nicht mehr, wenn es entweder keine kulturellen Unterschiede zwischen Ländern mehr gibt (oder keine Länder, denn konsequent gedacht ist bereits die Staatsbürgerschaft ein rassistisches Privileg) oder Mechanismen geschaffen wurden, um Zuwanderer und ethnische Minderheiten in einem Umfang staatlich zu begünstigen, der ihre soziale Benachteiligung aufwiegt.
Der politische Hebel
Die Beliebtheit des neuen Rassismusbegriffs in progressiven Bevölkerungsgruppen erklärt sich daraus, dass er eine einfache Lösung für komplexe Probleme zu bieten scheint. Er ordnet die soziale Welt übersichtlich nach Gut und Böse, Tätern und Opfern, und vermittelt denen, die sich ihn zu eigen machen, das wohltuende Gefühl, sich moralisch von der Masse abzuheben und Teil der Lösung zu sein.
Unter dieser Oberfläche dient der neue Rassismusbegriff Aktivisten als Hebel, um auf eine Umverteilung von Macht und Ressourcen und einen entsprechenden Umbau des Staates hinzuwirken: weg von Chancengleichheit für Individuen (Individualrechte), hin zu Ergebnisgleichheit für Identitätsgruppen (Gruppenrechte). Dies ist aus mehreren Gründen schlecht für alle, abgesehen von einigen wenigen Politfunktionären, wie sie bekanntlich noch im ruinösesten Kommunismus komfortabel leben, während andere hungern und bespitzelt, verfolgt und eingesperrt werden. Ich will hier drei wesentliche nennen.
Erstens ist Umverteilung in einem Maßstab, der zu Ergebnisgleichheit führen würde, nicht möglich, ohne gleichzeitig Freiheit und Wohlstand zu zerstören. Es wäre bald nichts mehr zum Umverteilen da, und die Menschen wären nur gleich in Armut und Unterdrückung.
Zweitens entwerten Gruppenrechte die Rechte aller Individuen, nicht nur die der Angehörigen der privilegierten Gruppen, von denen man vielleicht meint, dass sie es verdient haben, was selbst ein menschenfeindlicher Gedanke ist. Diese Entwertung ist in den intersektionalen Theorien längst ausartikuliert. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit zu Protokoll gibt, dass ihm das liberale System gefalle, dass er darin erfolgreich sei und glaube, dass andere das auch sein könnten, wird er zum Komplizen der Unterdrücker erklärt. Der Minderheitenstatus schützt nicht vor Ächtung aufgrund ideologischer Abweichung. Auch kümmert es in diesen Kreisen niemanden, dass man der gesamten Minderheitengruppe einen Bärendienst erweist, indem man die Idee, ihre Mitglieder hätten Kontrolle über ihr Leben und könnten etwas aus sich machen, erbittert bekämpft.
Drittens wird ein ideologisches System, das fundamental auf dem Prinzip beruht, wahrgenommene soziale Missstände auf Gruppen von Schuldigen zurückzuführen, immer neue Gruppen von Schuldigen finden, wenn die zuvor identifizierten »zur Rechenschaft gezogen« wurden. Auch das ist keine Spekulation, sondern historische Erfahrung, und auf ideologisch-theoretischer Ebene ist dieser Prozess unter heutigen Aktivisten bereits weit vorangeschritten. Die Inflation der Opfergruppen bringt eine Inflation der Tätergruppen mit sich, und wenn sich Intersektionalisten auch darüber einig sein mögen, dass der weiße, heterosexuelle Mann der Hauptfeind ist, hält sie das nicht davon ab, eine prinzipiell unbegrenzte Zahl von Unterfeinden (und Komplizen) zu identifizieren.
All dies ist kein bewusster Plan oder Vorsatz von irgendjemandem, sondern der Fluchtpunkt der Mechanismen, die in Gang gesetzt werden. Wie erschütternd wenig die maßgeblichen Akteure überblicken, was sie tun, macht nichts eindrücklicher deutlich als die Tatsache, dass offenbar viele Politiker meinen, man könne gleichzeitig »Rasse« zum Schlüssel einer gigantischen Umverteilung machen und das Konzept »Rasse« aus dem Bewusstsein verschwinden lassen, indem man ein Wort aus dem Grundgesetz streicht, das im Deutschen ohnehin niemand benutzt.
Dies ist ein Auszug aus dem Text »Der neue Rassismusbegriff«, der in dem Buch »Im Schatten guter Absichten: Die postmoderne Wiederkehr des Rassendenkens« vollständig zu lesen ist.