Ein zentraler Mechanismus der Wokeness-Ideologie beruht auf dem strategischen Einsatz von Begriffen mit doppelten Bedeutungen. Alle ihre tragenden Begriffe treten in mehreren Bedeutungsvarianten auf, die von unterschiedlicher theoretischer (bzw. theologischer) Tiefe und in unterschiedlichen Phasen der Indoktrinierung anschlussfähig sind. Die mehr oberflächlichen, naiven Bedeutungen sind ansprechend für Neulinge und anschlussfähig an den Liberalismus; die tieferen bilden die Gedankenwelt der fortgeschrittenen Ideologen, die sich von derjenigen normaler Menschen im Liberalismus drastisch unterscheidet. Die Doppelbegriffe tarnen diese Realitätsferne der Theorie und Forderungen und verkleiden sie zunächst als etwas Harmloses. Je tiefer man dann in die Theorie und zugehörigen Kreise eintaucht, desto mehr wird man mit den weniger harmlosen Gehalten vertraut. Dieser Mechanismus ist für das Verständnis der »Social Justice«-Ideologien und der Mechanismen ihrer Verbreitung wesentlich.
Nehmen wir den Begriff »Antirassismus« als naheliegendes Beispiel. »Antirassismus« hat eine Bedeutung, die für den Neuling verständlich und ansprechend ist, und eine andere, deutlich davon unterschiedene, weit tiefere Bedeutung für den arrivierten Gläubigen. Der Neuling denkt sich: »Antirassismus? Na, klar bin ich gegen Rassismus. Bin dabei!« In diesem Moment weiß er noch nicht, dass »Antirassismus« für fortgeschrittene Theorievertreter bedeutet, alle Weißen für Rassisten und Diskriminierung für die beste Form der Antidiskriminierung zu halten, eine authentische Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Vertretern verschiedener »Rassen« für unmöglich zu halten, sich zu einem lebenslangen Bemühen zu verpflichten, immer und überall Rassismus zu sehen, und sein liberales und humanistisches Welt- und Menschenbild zugunsten eines kollektivistischen, dystopischen und revolutionären aufzugeben. Den Worten der Theorievertreter ist dies zwar relativ leicht zu entnehmen – James Lindsay wies einmal darauf hin, dass sie sich manchmal selbst ein Bein stellen, indem sie zu früh zu viel verlangen. Doch die meisten Neulinge übersehen die Warnzeichen zunächst oder nehmen sie nicht ernst. Sie nehmen anfangs einfach das auf, was sich in ihr noch liberales Weltbild und Leben einfügen lässt, halten dies für das Wesentliche und ignorieren den Rest.
Das ist kaum überraschend, da selbst Gegner der Wokeness diese in neun von zehn Fällen so kritisieren, als hätte sie einfach die Prinzipien des Liberalismus nicht verstanden. Man wirft etwa Aktivisten vor, Männer und Frauen oder auch Weiße und Nichtweiße nicht mit gleichen Maßstäben zu messen, als wäre das eine Inkonsistenz oder Heuchelei. Es ist keine Inkonsistenz oder Heuchelei, sondern im Rahmen des woken Weltbildes völlig richtig und gewollt. Dies ist kein liberales Weltbild, sondern ein kollektivistisches, das davon ausgeht, dass sich die hierarchisch angeordneten Identitätsgruppen im Krieg befänden und sozialer Fortschritt danach verlange, die jeweils unteren zum Sieg zu führen. Die liberale Forderung nach gleichen Maßstäben ist in diesem Kontext die absurde Forderung, Alliierte und Feinde gleich zu behandeln.
Dies ist ein fundamentales Missverständnis, das sich aber aus zwei Gründen aufdrängt. Erstens weil das tatsächliche Weltbild der Wokeness recht weit von alltäglichen Denkweisen entfernt ist, so dass man sich in gewissem Umfang damit beschäftigen muss, um zu verstehen, von welchen Prämissen die Theorievertreter ausgehen. Zweitens weil die Wokeness insofern an den Liberalismus anschlussfähig ist, als sie seine Prinzipien und Mechanismen zu nutzen weiß, um sich auszubreiten und ihre eigenen Regeln durchzusetzen.
Die erwähnten Begriffe mit unterschiedlichen Tiefenebenen sind ein wichtiger Teil dieser auf Transformation zielenden Anschlussfähigkeit. Immer bildet ein naives Verständnis, das für Neulinge plausibel und moralisch ansprechend ist, nur die Spitze des Eisbergs des tieferen, breiteren und revolutionären Begriffsverständnisses der Fortgeschrittenen. Ein weiteres Beispiel wäre »Diversity«. Naiv versteht man darunter einfach Vielfalt; eine bunte Gruppe von Leuten mit verschiedenen Hintergründen. Die tiefere Bedeutung dagegen ist: Eine Gruppe von Leuten aus verschiedenen klar definierten Identitätsgruppen, welche »kritisches Bewusstsein« haben, also die Gesellschaft durch die Brille der Theorie als großes Unterdrückungssystem betrachten und das Ziel verfolgen, dieses zu Fall zu bringen. Ein paar konservative Frauen, Schwarze und Schwule zählen nicht als »Diversity«. Was ist »Inklusion«? Offenheit und Beteiligungsmöglichkeiten für alle, würde man meinen. Die tiefere Bedeutung ist: Einführung eines engen theoriekonformen Systems von Sprach- und Verhaltensregeln in einem sozialen Raum und Ausschluss aller, die sich dem nicht fügen. Ganz in diesem Sinn rechtfertigen etwa öffentlich-rechtliche Medien die Einführung von Gendersprache damit, dass sie »alle ansprechen« wollten. Eine knappe Mehrheit der Bevölkerung, Männer und Frauen zu etwa gleichen Teilen, lehnt Gendersprache jedoch ab und fühlt sich von ihr somit nicht »angesprochen«, sondern abgestoßen. Das beunruhigt Theorievertreter nicht, denn aus ihrer Sicht ist »Diversity«, »Inklusion« und alles andere Gute nur unter dem Regime der Theorie möglich. Wo die Theorie nicht ist, ist Unterdrückung. Dem Regime der Theorie widersetzen würden sich nur die, die die Unterdrückung aufrechterhalten wollen, und auf die muss man natürlich keine Rücksicht nehmen. Das Denken ist so total auf diese binäre Antithese von Unterdrückung und »Social Justice« verengt, dass von seiner Warte aus nicht vorstellbar ist, die Theorievertreter könnten selbst unterdrückerisch wirken. Wie weit das gehen kann, zeigen kommunistische Regime, die es noch nach Jahren der autoritären Herrschaft von Parteibonzen fertiggebracht haben, sich als Underdogs zu inszenieren, die sich gegen die Mächtigen der »Bourgeoisie«, »Faschisten«, »Imperialisten« etc. verteidigen müssen.
In taktischer und psychologischer Hinsicht kann man besagte Doppelbegriffe auch als trojanische Pferde beschreiben. Die naive Bedeutung ist für die meisten Menschen vollkommen einleuchtend, und sobald man dem Pferd wohlwollend und naiv die Tür geöffnet hat, beginnt die tiefe Bedeutung ihren Einfluss geltend zu machen. Von da an ist es schwer, an irgendeinem Punkt »stopp« zu sagen, denn man hatte sich selbst anfangs freudig zu dem politischen Ziel bekannt, das der Begriff ausdrückt. Es ist um ein Vielfaches schwerer, von einer Position zurückzutreten, die man bereits öffentlich eingenommen hat, als auf dem beschrittenen Weg jeden Tag ein paar Zentimeter weiterzugehen. Ersteres ist ein Kraftakt und Risiko des Gesichtsverlusts, Letzteres geschieht wie von selbst. Dafür sorgen die Aktivisten im Haus, für die es nicht schwer ist, ihre ständig wachsenden Forderungen als Notwendigkeiten der Verfolgung des Ziels auszugeben, zu dem sich Chef und Belegschaft bereits bekannt hatten. Wer A sagt, muss auch B sagen. Immer hängen moralisch die Damoklesschwerter über den Köpfen: Ihr wisst doch, wie wichtig Diversity ist. Wenn ihr wirklich Diversity wollt, müsst ihr uns auch dieses zugestehen, denn ohne dieses kann es keine Diversity geben. Seid ihr etwa nicht mehr für Diversity, war das nur ein Lippenbekenntnis? Wollt ihr etwa nichts gegen Rassismus tun? Dachtet ihr, das wird ein Spaziergang? Ihr wollt Gerechtigkeit, aber es darf nichts kosten? Stört euch die Unterdrückung der Frauen nicht?
Eine weitere wertvolle Metapher für die Funktionsweise dieser doppelbödigen Begriffe ist die von Motte und Bailey. Sie nimmt Bezug auf einen Typ mittelalterlicher Burgen. »Bailey« ist eine Art Burghof außerhalb einer kleinen Festung, in dem gewirtschaftet wird. Die Motte ist die eigentliche Festung auf einer Anhöhe. Die beiden stehen für zwei Positionen, die Theorievertreter je nach Situation in Diskussionen einnehmen. Wenn sie angegriffen werden, ziehen sie sich in die Motte-Position zurück, die leicht zu verteidigen ist, aber sonst wenig abwirft. Die Motte-Position entspricht der naiven Begriffsbedeutung, der jeder zustimmt. Zum Beispiel: Es gibt sozial konstruierte Geschlechterrollen, die den Chancen der Menschen zur Selbstentfaltung möglicherweise unnötige Grenzen auferlegen und die wir in diesem Fall verändern können und sollten. Jeder weiß das, jeder stimmt dem zu, niemand bestreitet das ernsthaft. Wenn die Gender Studies angegriffen werden, können sie daher einfach behaupten, dass es ihnen doch nur um dies gehe, und sofort ist der Angreifer entwaffnet. Ist der Angriff vorbei, beziehen sie dann wieder die Bailey-Position: Biologisches Geschlecht gibt es gar nicht, die Geschlechter per se sind sozial konstruiert und nicht angeboren, sondern zugewiesen, Geschlecht ist ein Spektrum, an der Vagina ist nichts inhärent Weibliches, Männer können gebären, an Familie und Heterosexualität ist nichts Natürliches und so weiter. Solche Positionen sind im Rahmen wissenschaftlicher Rationalität unmöglich zu verteidigen, aber man kann herrlich damit wirtschaften. Jeder Unterschied und jede Komplementarität zwischen Männern und Frauen erscheint von ihr aus gesehen als Auswirkung eines Unterdrückungssystems, das überwunden werden muss, und die Theorieanhänger sind die Experten, denen im Rahmen dieses gigantischen Überwindungsprogramms Ressourcen und Autorität zufließen.
Dies ist ein Auszug aus dem Text »Psychologische Hebel der Wokeness«, der in dem Buch »Im Schatten guter Absichten: Die postmoderne Wiederkehr des Rassendenkens« vollständig zu lesen ist.
Danke für diesen Beitrag. Es ist gut zu sehen, dass es Menschen gibt, die …
1) sich nicht leichtfertig in eine Denkrichtung schieben lassen,
2) klar strukturiert das Problem lokalisieren,
3) diese fundierte (offenbar zirkulär revidierte) Meinung auch kundtun,
… und so wirklich wertvolle Beiträge zum aktuellen Diskurs beisteuern.
Sie haben den springenden (und auch m.M.n. schmerzlichsten in der dauernden Begegnung dieser Methoden) Punkt hier sehr klar ausgerollt.
Leider gibt der Autor nur einen Teil der »Gender«-»Forschung« wider, und gibt damit (unfreiwillig) leider diesem besonders lautstarken Teil, der gerade in Deutschland diese Lehrstühle okkupiert hat, »Recht« damit, dass es sich dabei um »die« Gender- Thematik (Geschlechterrollentheorie) schlechthin handeln soll.
Sinnvoller wäre es, dieser ideologischen Richtung andere gegenüberzustellen, die zum Teil ganz andere Gedanken vertreten und z.B. nicht pseudo-»feministisch« sind und nicht ihre Misandrie oder Misandrophobie und krankhafte »Kapitalismuskritik« dafür einsetzen oder missbrauchen, vorgeblich »Geschlechterrollen« und den »Patriarchalismus« zu »kritisieren«, aber dabei gerade die Fokussierung auf Männer und einen angeblichen »Gegensatz« zwischen Männern und Frauen verstärken statt sich davon zu lösen.
Beispielsweise gibt es Richtungen, die einen grundsätzlichen Unterschied in »männlicher«/ »weiblicher« Sexualität positiv gerade als Teil der »Diversität« werten, oder die beim überwiegenden Teil der »Gender Theories« eine Theorielastigkeit und Realitätsfremdheit diagnostizieren, die zum Verständnis von Problemen wie Macht, Gewalt oder materieller Ungleichheit nichts beigetragen habe, und wo etwa vertreten und belegt wird, dass Herrschaft über Frauen kein universales Merkmal von Männern sei; vielmehr sei (männliche) Herrschaft eher eine Dynamik, die über die Geschlechterbeziehungen unter wechselnden Bedingungen – zu denen auch der Widerstand von untergeordneten Gruppen gehöre -, ständig verändert werde, und die Gewalt im Geschlechterverhältnis nicht als ein besonderes Wesensmerkmal der »Männlichkeit« sieht – so entstanden und entstehen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Milieus auch unterschiedliche Konfigurationen von Männlichkeit und Weiblichkeit (z.B. Tim Carrigan, Nikki Wedgwood, Camille Paglia, Raewyn Connell u.a.).
Statt diese durchaus unterschiedlichen Ansätze zu würdigen, werden hier leider »Gender Theories« pauschal abgelehnt oder diffamiert.
http://www.novo-argumente.com/artikel/wir_wollten_die_gleichen_freiheiten_wie_die_maenner
Es wäre mir neu, dass jegliche wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschlechterthemen »Gender Studies« hieße. Diesen Text so zu interpretieren, dass er jede wissenschaftliche oder philosophische Beschäftigung mit Geschlechterthemen ablehne, halte ich für extrem weit hergeholt und absurd. Umgekehrt: Wenn man seriöse Forschung oder hochkarätige Intellektuelle wie Camille Paglia bei den Gender Studies einordnet, dann schreibt man diesen Verdienste zu, die schlicht nicht ihre sind, und wertet sie damit unverdient auf (und beleidigt Camille Paglia). Man muss zwischen wissenschaftlichen und seriös philosophischen Ansätzen auf der einen und aktivistisch-postmodernistischen auf der anderen Seite gerade unterscheiden und sie nicht vermengen. Wenn man sie vermengt, haben die Letzteren gewonnen. Nach meiner Kenntnis heißen nur die Letzteren »Gender Studies«. Von »Gender Theories« war überhaupt nicht die Rede.