Ein aufgepeitschter See

Haupt­säch­lich habe ich des­halb eines Nachts ange­fan­gen, ein paar Gedan­ken über die Coro­na­si­tua­ti­on auf­zu­schrei­ben, weil Sor­ge und Angst mich am Ein­schla­fen hin­der­ten und es meist etwas Ruhe bringt, so etwas zu arti­ku­lie­ren. Nicht des­halb, weil ich ein beson­de­res Wis­sen oder Ver­ständ­nis bei­zu­tra­gen hät­te. Ich habe kei­ne Ahnung. Doch wir alle müs­sen uns ja dar­über Rechen­schaft geben, was unse­rer Mei­nung nach pas­siert, auch ohne Ahnung zu haben. Es gehört zum Wesen der Situa­ti­on, kei­ne Ahnung zu haben. Doch wer zur Angst neigt und kei­ne uner­freu­li­chen Bil­der im Kopf haben will, lässt die­sen Text viel­leicht bes­ser aus. Er ver­passt nichts Wichtiges.

Das Spek­trum der Deu­tun­gen reicht von der­je­ni­gen, das Virus sei eigent­lich eine all­täg­li­che Erschei­nung, bis zu der, mit sei­ner destruk­ti­ven Kraft bewe­ge es sich in der Grö­ßen­ord­nung des Zwei­ten Welt­kriegs. Kei­ne von bei­den wäre ein Grund, Ent­war­nung zu geben, denn han­del­te es sich um eine »nor­ma­le Grip­pe«, hät­ten wir es immer noch mit einer Mas­sen­hys­te­rie zu tun, die schwe­re Schä­den anrichtet. 

Man­che wit­tern eine Art Coup, der zu irgend­ei­ner Form von Neo­so­zia­lis­mus oder einer ande­ren auto­ri­tä­ren Regie­rungs­form füh­ren wer­de. Sol­che Über­le­gun­gen gewin­nen auf unheim­li­che Wei­se an Plau­si­bi­li­tät, wenn man die Begeis­te­rung deut­scher Intel­lek­tu­el­ler für die Mobi­li­sie­rung der Bevöl­ke­rung und das Durch­grei­fen der Regie­rung in Coro­na­zei­ten sieht, die sie sich auch für ihre »gro­ßen Trans­for­ma­tio­nen« wünschen.

Ich ver­weh­re mich dem Ver­schwö­rungs­den­ken, habe aber gro­ße Schwie­rig­kei­ten, mir das Ver­sa­gen west­li­cher Regie­run­gen ein­schließ­lich der unse­ren in die­ser Ange­le­gen­heit begreif­lich zu machen. Bereits im Janu­ar kur­sier­ten Bil­der und Vide­os aus Wuhan, die aus­sa­hen wie eine Hol­ly­wood-Dys­to­pie, und hier­zu­lan­de wie­gel­te man ab, das Virus wer­de schon nicht zu uns kom­men, und wenn, dann wer­de es nicht so schlimm, und wir sei­en gut vor­be­rei­tet. Ich ver­ste­he nicht, wie man dar­auf kam, es wer­de nicht kom­men, oder Grenz­schlie­ßun­gen bräch­ten nichts, oder wir sei­en gut vorbereitet. 

Was jetzt unter Hoch­druck geschieht – Auf­bau von Kran­ken­haus­ka­pa­zi­tä­ten, Her­stel­lung von Schutz­mas­ken und Beatmungs­ge­rä­ten, Ent­wick­lung und Her­stel­lung von Tests, For­schung an Medi­ka­men­ten, Ent­wick­lung von Stra­te­gien etc. pp. -, hät­te ab Janu­ar pas­sie­ren kön­nen und müs­sen. Mei­ne bes­te Alter­na­ti­ve zur Ver­schwö­rungs­theo­rie wäre, dass Regie­run­gen durch irgend­ei­ne Art von »Groupt­hink«, Kon­for­mi­täts­ver­hal­ten und Ver­ant­wor­tungs­dif­fu­si­on unter Rea­li­täts­ver­lust lit­ten, ähn­lich wie in klei­ne­rem Maß­stab beim Unter­gang der Tita­nic oder der Challenger-Katastrophe.

Wie dem auch sei, ich hal­te die uns ver­trau­te gesell­schaft­li­che Nor­ma­li­tät für fra­gi­ler als die meis­ten ande­ren. Unser Frie­den und Wohl­stand der letz­ten Jahr­zehn­te ist in his­to­ri­scher Per­spek­ti­ve außer­ge­wöhn­lich und unwahr­schein­lich, und es kann sehr fins­ter wer­den, wenn die Din­ge kip­pen. Die­se Ein­schät­zung beruht auf lang­jäh­ri­ger Beschäf­ti­gung mit Sozi­al­psy­cho­lo­gie und Geschich­te sowie mei­ner ängst­li­chen Natur und einer gewis­sen Fas­zi­na­ti­on für mensch­li­che Abgrün­de. Ob das der rich­ti­ge Blick auf das Pro­blem ist, weiß ich nicht. Für einen Men­schen mit Ham­mer sieht alles aus wie ein Nagel, für Femi­nis­tin­nen sieht bereits jetzt auch die Coro­na­kri­se aus wie Frau­en­un­ter­drü­ckung. Wir klam­mern uns an ver­trau­te Deu­tungs­scha­blo­nen. Wahr­schein­lich ist das im Gro­ßen und Gan­zen auch gut so, weil es die psy­chi­schen und sozia­len Struk­tu­ren sta­bi­li­siert, die vor­erst das Cha­os fernhalten.

Bei dem Ver­such, die Situa­ti­on irgend­wie ein­zu­ord­nen, erin­ne­re ich mich an die­se Pas­sa­ge aus Sebas­ti­an Haff­ners »Geschich­te eines Deutschen«:

Offen­sicht­lich hat geschicht­li­ches Gesche­hen einen ver­schie­de­nen Inten­si­täts­grad. Ein »his­to­ri­sches Ereig­nis« kann in der wirk­li­chen Wirk­lich­keit, also im eigent­lichs­ten, pri­va­tes­ten Leben der ein­zel­nen Men­schen, fast unre­gis­triert blei­ben – oder es kann dort Ver­hee­run­gen anrich­ten, die kei­nen Stein auf dem andern las­sen. In der nor­ma­len Geschichts­dar­stel­lung sieht man ihm das nicht an. »1890: Wil­helm II. ent­lässt Bis­marck.« Gewiss ein gro­ßes, fett­ge­druck­tes Datum in der deut­schen Geschich­te. Aber schwer­lich ein Datum in der Bio­gra­phie irgend­ei­nes Deut­schen, außer­halb des klei­nen Krei­ses der Betei­lig­ten. Jedes Leben ging wei­ter wie zuvor. Kei­ne Fami­lie wur­de aus­ein­an­der­ge­ris­sen, kei­ne Freund­schaft ging in die Brü­che, kei­ner ver­ließ sei­ne Hei­mat, nichts der­glei­chen. Nicht ein­mal ein Ren­dez­vous oder eine Opern­vor­stel­lung wur­de abge­sagt. Wer unglück­lich ver­liebt war, blieb es, wer glück­lich ver­liebt war, blieb es. Die Armen blie­ben arm, die Rei­chen reich … Und nun ver­glei­che man damit das Datum »1933: Hin­den­burg betraut Hit­ler.« Ein Erd­be­ben beginnt in 66 Mil­lio­nen Menschenleben!

Wie gesagt, die wis­sen­schaft­lich-prag­ma­ti­sche Geschichts­dar­stel­lung sagt über die­sen Inten­si­täts­un­ter­schied des Geschichts­ge­sche­hens nichts. Wer etwas dar­über erfah­ren will, muss Bio­gra­phien lesen, und zwar nicht die Bio­gra­phien von Staats­män­nern, son­dern die viel zu raren Bio­gra­phien der unbe­kann­ten Pri­vat­leu­te. Dort wird er sehen: Das eine »his­to­ri­sche Ereig­nis« zieht über das pri­va­te – d.h. wirk­li­che – Leben hin wie eine Wol­ke über einen See; nichts regt sich, nur ein flüch­ti­ges Bild spie­gelt sich. Das ande­re peitscht den See auf wie Sturm und Gewit­ter; man erkennt ihn kaum mehr wie­der. Das drit­te besteht viel­leicht dar­in, dass alle Seen aus­ge­trock­net werden.

Wäh­rend sich immer weni­ger Deut­sche noch an Krieg und Nach­kriegs­zeit erin­nern kön­nen, sind wir kurz davor, zu ver­ges­sen, dass Wohl­stand und Frie­den nicht selbst­ver­ständ­lich sind. Der viel­leicht prä­gnan­tes­te Aus­druck die­ses Ver­ges­sens ist die Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der die Thun­bergs und Neu­bau­ers von den älte­ren Gene­ra­tio­nen den bes­ten Lebens­stan­dard der Mensch­heits­ge­schich­te in Emp­fang neh­men, ohne irgend­et­was dafür tun zu müs­sen, und ihnen im Gegen­zug vor­wer­fen, ihnen etwas weg­ge­nom­men zu haben.

Ich hat­te auf Twit­ter kürz­lich eine Kon­ver­sa­ti­on mit einer Per­son, dem Namen nach eine Frau (im Fol­gen­den »Tweep 2«), die ganz von die­sem Glau­ben ein­ge­nom­men schien, dass der Wohl­stand und die Sicher­heit, die wir genie­ßen, selbst­ver­ständ­lich und für alle Zei­ten garan­tiert sei­en. In gro­ßen Tei­len der Gesell­schaft ist die­ser Glau­be nor­mal. Ich hat­te ihn frü­her auch, als ich noch links war. Bezeich­nen­der­wei­se geht die größ­te Feind­se­lig­keit gegen »die Wirt­schaft« mit dem stärks­ten Glau­ben ein­her, dass man sich immer auf die Ver­sor­gung durch sie ver­las­sen kön­nen werde.

Die Kon­ver­sa­ti­on ent­zün­de­te sich an mei­ner eigent­lich tri­via­len Fest­stel­lung, dass man auf­pas­sen muss, mit Lock­down-Maß­nah­men nicht noch grö­ße­ren Scha­den anzu­rich­ten als ihn das Virus allein anrich­ten wür­de, oder noch ein­fa­cher gesagt, dass auch ein wirt­schaft­li­cher Zusam­men­bruch eine Gefahr wäre. Die ers­te Ant­wort kam noch von jemand ande­rem (Tweep 1).

Ich: Es wur­de die Fra­ge nach Ver­hält­nis­mä­ßig­keit gestellt. Das Virus tötet und rich­tet schwe­re Schä­den an. Ab irgend­ei­nem Punkt tut das auch ein wirt­schaft­li­cher Zusam­men­bruch. Ist das wirk­lich so schwer?

Tweep 1: Wirt­schaft und gesun­de, arbeits­fä­hi­ge Men­schen bedin­gen sich gegen­sei­tig. Ohne stren­ge Maß­nah­men kei­ne Ver­lang­sa­mung, ergo mehr gleich­zei­tig Infi­zier­te, ergo weni­ger Arbeits­fä­hig­keit, ergo ver­stärk­ter Absturz der Wirt­schaft. Siehst du den Zusammenhang?

Ich: Ja, wenn man den durch Lock­down ver­ur­sach­ten Absturz der Wirt­schaft aus­blen­det, dann ist es so sim­pel. Es bleibt eine Abwä­gung & Sie wären welt­weit der ein­zi­ge, der mit sol­cher Gewiss­heit die wirt­schaft­li­che Dyna­mik in einer ein­zig­ar­ti­gen Kri­sen­si­tua­ti­on vor­aus­sa­gen kann.

Tweep 2: Die Wirt­schaft geht zur Zeit Welt­weit den Bach run­ter. Wirt­schaft kann man wie­der auf­bau­en. Tote kann man bis­her nicht mehr auf­we­cken. So ein­fach ist das.

Ich: Wirt­schaft pro­du­ziert Lebens­mit­tel. Men­schen brau­chen Lebens­mit­tel. Ohne Lebens­mit­tel Men­schen tot. Zu schwei­gen von Ver­tei­lungs­kämp­fen und Ähnlichem.

Tweep 2: Die Lebens­mit­tel­pro­duk­ti­on und Ver­kauf läuft doch wei­ter. Ich ver­steh jetzt nicht das Problem.

Ich: Infra­struk­tur, Staats­in­sti­tu­tio­nen, Sozi­al­staat, Poli­zei, Feu­er­wehr, Häu­ser, Strom, Was­ser, Klei­dung, Hei­zung, Hygie­ne, das alles uns vie­les mehr haben wir nur, solan­ge wir eine Wirt­schaft haben, die das finan­ziert. Auch das Gesund­heits­sys­tem. Wie kann man das nicht verstehen?

Tweep 2: Wir haben in Deutsch­land genug Reser­ven und Geld her­um­lie­gen. Es wur­de auch seit Jah­ren viel ein­ge­spart. War heu­te auch schon im TV, wenn es wirk­lich län­ger dau­ert dann müss­ten eben auch wie­der Schul­den gemacht wer­den. Wir leben hier nicht wie im Mittelalter.

Ich: Geld ist nichts wert, wenn nichts pro­du­ziert wird, was man dafür kau­fen kann. Wir leben nicht im Mit­tel­al­ter, weil Güter pro­du­ziert wer­den, die uns auf ein höhe­res Niveau heben. Damit das so bleibt, muss wei­ter pro­du­ziert wer­den. Nichts ande­res habe ich gesagt.

Tweep 2: Haaaallllll­loooo es geht um den Coro­na-Virus, der hoch­an­ste­ckend ist und es gibt noch kei­ne rich­ti­ges Medi­ka­ment dafür. Es geht dar­um, das die­ser ver­damm­te Virus nicht noch mehr ver­brei­tet wird, wir sehen in ande­ren Län­der was das Ding anrich­ten kann.

Ich: Haaaaaaaallllllllllll­looooo die schö­ne zivi­li­sier­te Welt um uns her­um wächst nicht ein­fach am nächs­ten Baum, und ohne sie kön­nen Sie sich auf vie­le zusätz­li­che Lebens­ge­fah­ren ein­stel­len und auch den Kampf gegen das Virus vergessen.

Dann kam nichts mehr. 

Unser Anein­an­der-vor­bei-Reden illus­triert die Distanz zwi­schen der Per­spek­ti­ve, dass es eine garan­tier­te Nor­ma­li­tät auf hohem Niveau gebe, und der­je­ni­gen, dass es sie nicht gibt. Letz­te­re scheint mir eher die Evi­denz der Geschich­te auf ihrer Sei­te zu haben, wäh­rend ers­te­re, wie ich fürch­te, mit jener Arro­ganz ver­wandt ist, die Hoch­kul­tu­ren seit jeher dar­an hin­dert, die Anzei­chen ihres eige­nen Nie­der­gangs zu erkennen.

Zur Nor­ma­li­tät der moder­nen Mas­sen­ge­sell­schaft gehört, dass man auf einem Pul­ver­fass hockt. Es sind im Wesent­li­chen zwei Din­ge, die zu star­ke Fun­ken­schlä­ge ver­hin­dern: der Wohl­stand und das staat­li­che Gewaltmonopol.

Mil­lio­nen hung­ri­ge Mäu­ler müs­sen gefüt­tert wer­den, und wenn Pro­duk­ti­on oder Trans­port­ket­ten zusam­men­brä­chen, wären bru­ta­le Ver­tei­lungs­kämp­fe unaus­weich­lich. Sie wären aber bei Wei­tem nicht der ein­zi­ge Kon­flikt­herd, denn die Gesell­schaft ist ohne­hin von etli­chen Kon­flikt­li­ni­en durch­zo­gen: ideo­lo­gi­schen, poli­ti­schen, eth­ni­schen, reli­giö­sen und ande­ren. Alle mög­li­chen Dämo­nen wür­den ent­fes­selt; Panik, Zorn, Hass, Rache, Sadis­mus, Macht­stre­ben, Oppor­tu­nis­men der Regel­lo­sig­keit, Tri­ba­lis­mus und wer weiß, was noch alles. Fie­le der Wohl­stand weg, fie­le auch das pri­mä­re befrie­den­de und zivi­li­sie­ren­de Ele­ment weg, und wenn dadurch auch der Staat die Kon­trol­le ver­lö­re, wäre die Gewalt ent­fes­selt, die wir kei­nes­wegs aus der Welt geschafft, son­dern nur im Gewalt­mo­no­pol gebun­den, gebün­delt und ein­ge­la­gert haben. Fie­len nur die demo­kra­ti­schen Kon­trol­len die­ser ein­ge­la­ger­ten Gewalt weg, könn­te sie auch gebün­delt ihre Zer­stö­rungs­kraft ent­fal­ten. Nichts führt einem das in moder­nen Gesell­schaf­ten ruhen­de Gewalt­po­ten­zi­al so dras­tisch vor Augen wie Deutsch­land in den Jah­ren 1933 bis 1945 – und das gespens­ti­sche Ver­schwin­den der Gewalt danach.

Mit auto­ri­tä­rer Herr­schaft wäre im Ernst­fall eher zu rech­nen als mit Anar­chie, auch begüns­tigt dadurch, dass sich Men­schen im Cha­os nach einer schüt­zen­den Auto­ri­tät seh­nen. Man sieht ja schon jetzt, wie bereit­wil­lig wir Grund­frei­hei­ten auf­ge­ben und auf demo­kra­ti­sche Kon­troll­me­cha­nis­men ver­zich­ten, weil wir Angst haben.

Über vie­le Jah­re ist mir von der Haff­ner-Stel­le das Bild mit den Wol­ken in Erin­ne­rung geblie­ben. Ist Poli­tik nur als Wol­ken­de­cke prä­sent oder im eige­nen Leben spür­bar? Im letz­ten Jahr habe ich mich für eini­ge Wochen weit­ge­hend von Social Media fern­ge­hal­ten und fast über­haupt kei­ne Nach­rich­ten ver­folgt. In der Nor­ma­li­tät, mit der wir ver­traut sind, war es prak­tisch immer mög­lich, Poli­tik und Nach­rich­ten zu igno­rie­ren. Das hat sich nun geändert.

Das Gesche­hen wirkt spür­bar in unser Leben hin­ein. Vie­le von uns legen Vor­rä­te an und sehen mehr lee­re Rega­le im Super­markt als je zuvor. Nor­ma­ler­wei­se tri­via­le Pro­duk­te sind plötz­lich schwer zu bekom­men. Wir dür­fen Sport und Hob­bys nicht mehr nach­ge­hen, Freun­de nicht mehr tref­fen, Kin­der nicht mehr zur Schu­le schi­cken oder mit ande­ren Kin­dern spie­len las­sen. Ich schre­cke davor zurück, mei­ne Schwes­ter anzu­ru­fen, weil sie ein klei­nes Geschäft führt und ich schlech­te Nach­rich­ten fürch­te. Natür­lich fürch­te ich auch für mich selbst schlech­te Nach­rich­ten die­ser Art. Und wenn man die Aus­brei­tungs­kur­ve des Virus als Ori­en­tie­rung nimmt, ist das alles erst der Anfang.

Seit gut andert­halb Jah­ren tan­ze ich Swing. Es gibt in Ber­lin eine gro­ße Sze­ne, meh­re­re Schu­len und fast jeden Abend eine Gele­gen­heit. Nor­ma­ler­wei­se. Jetzt natür­lich nicht mehr.

Seit Janu­ar hat­te ich damit gerech­net, dass Coro­na all dem ein jähes Ende set­zen wür­de. Man kommt beim Tan­zen im Lauf eines Abends einer Rei­he von Frem­den recht nahe und berührt jeden davon an den Hän­den. In einer Pan­de­mie eher nicht zu emp­feh­len. Die Schu­len haben das Unver­meid­li­che rela­tiv lan­ge hin­aus­ge­scho­ben, Hän­de­des­in­fek­ti­ons­mit­tel ange­schafft, zu häu­fi­gem Hän­de­wa­schen auf­ge­ru­fen, woll­ten Kur­se zuletzt ohne die sonst übli­chen regel­mä­ßi­gen Part­ner­wech­sel wei­ter­füh­ren. Doch dazu kam es nicht mehr.

Für Schu­len, Leh­rer und Musi­ker ist das eine Kata­stro­phe. Ihr Ein­kom­men hat sich in Luft auf­ge­löst. Der Leh­rer und Inha­ber, bei dem ich zuletzt Kur­se besucht hat­te, gab nach weni­gen Tagen bekannt, dass er die gewohn­ten Räu­me nicht mehr haben wür­de, falls es irgend­wann wei­ter­geht. Die Bands strea­men nun Kon­zer­te übers Netz und sam­meln Spen­den, die Schu­len neh­men Lek­tio­nen auf Video auf und hof­fen sich damit über Was­ser zu hal­ten. Zuletzt las ich, dass auch die Strea­ming-Kon­zer­te nicht mehr mög­lich sind, weil die Musi­ker nicht ver­wandt sind oder in einem Haus­halt leben und sich somit nicht ver­sam­meln dürfen.

Als ich über die Online­kur­se nach­dach­te, wur­de mir bewusst, dass ich nicht so recht an eine Fort­set­zung des nor­ma­len Betriebs in abseh­ba­rer Zeit glaub­te. Tan­zen?, sag­te eine Stim­me in mir. Hast du den Schuss nicht gehört? Tan­zen zur Kapel­le auf der Tita­nic, oder wie? Ja, das Tan­zen war mal eine schö­ne Sache und sinn­vol­le Beschäf­ti­gung, aber das war eine ande­re Welt. Über­leg dir lie­ber, wie du die Zei­ten über­le­ben willst, die jetzt kom­men, statt so etwas kom­plett sinn­los Idio­ti­sches zu machen wie Tan­zen zu üben für eine Welt, die es nicht mehr gibt.

Ich erle­be Ähn­li­ches mit die­sem Blog selbst. Ich hat­te zuletzt so vie­le Ideen; mein Haupt­pro­blem war man­geln­de Zeit, sie umzu­set­zen. Jetzt habe ich Zwei­fel, ob irgend­ei­ne von die­sen Ideen noch rele­vant ist.

Mein Aus­blick ist von einem merk­wür­di­gen Neben­ein­an­der geprägt, das ich auch auf Twit­ter erle­be: Der eine Tweet ist ein net­tes Witz­chen oder Kat­zen­vi­deo, der nächs­te legt nahe, dass wir am Anfang einer nie dage­we­se­nen Kata­stro­phe ste­hen. Fami­li­en ver­gnü­gen sich bei strah­len­dem Früh­lings­wet­ter im Park, die jun­ge Gene­ra­ti­on leckt an Klo­bril­len und wünscht der alten den Tod. Das unver­bun­de­ne Neben­ein­an­der von Nor­ma­li­tät und Apo­ka­lyp­se ist sur­re­al. Ich lebe in zwei Wel­ten und weiß nicht, an wel­che ich glau­ben soll.

In sei­ner Novel­le »Lan­go­liers« zeich­net Ste­phen King eine ori­gi­nel­le Varia­ti­on des Zeit­rei­se­the­mas. Ein Pas­sa­gier­flug rutscht durch einen Riss im Raum-Zeit-Gefü­ge und lan­det in einer nahen Ver­gan­gen­heit, was die ver­irr­ten Rei­sen­den erst spä­ter ver­ste­hen. Sie fin­den eine men­schen­lee­re Welt vor, die farb­los und ver­blasst ist. Spei­sen und Geträn­ke haben ihren Geschmack ver­lo­ren, auch Geräu­sche klin­gen gedämpft. Schließ­lich kom­men die Lan­go­liers, eine Art Tsu­na­mi­wel­le aus unzäh­li­gen klei­nen Mons­tern, die alles auf­fres­sen, die gan­ze Welt, und nur Lee­re zurück­las­sen. Den Hel­den gelingt es in letz­ter Minu­te, auf ihrem ursprüng­li­chen Kurs zurück durch den Zeit­schlitz zu fliegen.

Man kann die­ser Kon­zep­ti­on zufol­ge nicht in die Ver­gan­gen­heit rei­sen, weil es sie nicht mehr gibt. Es gibt nur das Jetzt, direkt hin­ter uns ver­blasst die Welt und die Res­te wer­den vernichtet.

Ich habe in die­sen Tagen manch­mal das Gefühl, in einer sol­chen ver­blas­sen­den Welt zu leben. In einer Wirk­lich­keit, die zwar noch weit­ge­hend so aus­sieht, klingt und schmeckt wie die, mit der ich ver­traut bin, aber unter der Ober­flä­che längst eine ande­re ist. Und ich war­te auf die Mons­ter, die die­se Attrap­pen­welt auf­fres­sen und die neue Wirk­lich­keit frei­le­gen, in der wir künf­tig leben. Sie sind unter­wegs und fres­sen nach Ein­schät­zung des Ifo-Insti­tuts der­zeit 25 bis 57 Mil­li­ar­den Euro pro Woche. 

Der Dil­bert-Zeich­ner, Buch­au­tor und Polit­kom­men­ta­tor Scott Adams ist ein klu­ger Kopf. Er gehör­te zu den ers­ten, die den Wahl­sieg Trumps vor­her­ge­sagt haben, und sei­ne Ein­schät­zun­gen zum Tages­ge­sche­hen erwei­sen sich im Rück­blick immer wie­der als außer­or­dent­lich treffsicher. 

Manch­mal schaue ich mir sei­ne täg­li­chen Peri­scope-Über­tra­gun­gen (»Cof­fee with Scott Adams«) an, wenn ich aus etwas nicht schlau wer­de, das mit US-Poli­tik zu tun hat. So zum Bei­spiel, als nach der Tötung des ira­ni­schen Gene­rals Sulei­ma­ni eine klei­ne Hys­te­rie aus­brach, weil Leu­te mein­ten, dass nun der Drit­te Welt­krieg bevor­ste­he. Adams stell­te eini­ge inter­es­san­te Über­le­gun­gen zu den mög­li­chen Hin­ter­grün­den an und schloss mit der Pro­gno­se, dass die Ira­ner in Kür­ze einen gesicht­wah­ren­den Gegen­schlag füh­ren wür­den, der den Ame­ri­ka­nern nicht wirk­lich weh­tun wür­de, und die Sache damit im Wesent­li­chen erle­digt wäre. Und genau­so kam es.

Letz­te Woche twit­ter­te Adams:

Dies ist sicher nicht der Beginn einer Depres­si­on. Es ist kaum als Rezes­si­on ein­zu­ord­nen, weil nichts »kaputt« ist. Sobald wir wie­der an die Arbeit gehen, wird die Erho­lung beein­dru­ckend sein.

Wenn Sie also zu ver­ste­hen ver­su­chen, womit wir es hier zu tun haben, wür­de ich es irgend­wo zwi­schen einem unge­plan­ten Urlaub für die Wirt­schaft und einer Mikro-Rezes­si­on ein­ord­nen. Mehr Ohr­fei­ge als Beinbruch.

Die nächs­ten Wochen wer­den hart. Aber nie­mand wird hun­gern. Wir alle wer­den klü­ger und die Zivi­li­sa­ti­on wird stär­ker sein. Sie wer­den ewig stolz auf das sein, was im Jahr 2020 pas­siert ist.

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4 Kommentare

  1. Bezeich­nen­der­wei­se geht die größ­te Feind­se­lig­keit gegen »die Wirt­schaft« mit dem stärks­ten Glau­ben ein­her, dass man sich immer auf die Ver­sor­gung durch sie ver­las­sen kön­nen werde.

    Sehr schö­ner Satz, bringt eini­ges auf den Punkt. Die Lin­ken ver­ste­hen nicht, dass Wohl­stand nur durch pro­duk­ti­ve Arbeit ent­steht, und nicht indem man Rei­chen ihre Fabri­ken (bzw. Akti­en) weg­nimmt. Dass die sich »immer wei­ter öff­nen­de Sche­re« ein Zei­chen all­ge­mei­nen Wohl­stands ist, dass sie dem immer stär­ke­rem Tech­ni­sie­rungs­grad unse­rer Gesell­schaft ent­spricht. Dass eine rein mone­tä­re Denk­wei­se falsch ist. Dass die reichs­ten Leu­te (Grün­der von Aldi usw.) für die Ver­sor­gung der Nied­rig­ver­dien­ter mit Gütern stehen.

    Was die dro­hen­de Wirt­schafts­kri­se betrifft: Man wür­de es wohl nicht soweit kom­men las­sen, dass die lebens­wich­ti­ge Infra­struk­tur zusam­men­bricht. Aber ein Pro­blem ist natür­lich die hohe Kom­ple­xi­tät im Sys­tem. Man kann dro­hen­de Kipp­pro­zes­se schwer vor­aus­se­hen, wenn alles mit allem ver­floch­ten ist.

    Man muss jetzt krea­tiv sein, wie man zugleich arbei­tet und sich isoliert.

    Mir gefällt der prag­ma­ti­sche Alex­an­der Kekulé viel bes­ser als der zöger­li­che Chris­ti­an Dros­ten. Hier ein Vor­schlag von Kekulé, wie man aus dem Lock­down herauskommt:
    https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020–03/coronavirus-quarantaene-lockdown-ausgangssperre-alternative-pandemie-alexander-kekule/komplettansicht

  2. Ein guter und wich­ti­ger Bei­trag! Sicher kön­nen sol­che radi­ka­len Lock-Down Maß­nah­men nicht all­zu lan­ge durch­ge­führt wer­den ohne gro­ßen wirt­schaft­li­chen Scha­den anzu­rich­ten. Das wäre fatal und gesell­schaft­lich nicht trag­bar. Dass einer­seits Leu­te gar kei­ne Rück­sicht neh­men mit z.T. dum­men und gefähr­li­chen Coro­na Chal­lenges und sich ande­rer­seits Leu­te panisch ein­bunkern und dabei mal so eben eine kom­plet­te Schlie­ßung des öffent­li­chen Lebens mit Aus­gangs­sper­ren for­dern, ist dann doch sehr bedenklich.
    Gera­de über die pro­ble­ma­ti­schen Fol­gen sol­cher Aus­gangs­sper­ren, auch ganz indi­vi­du­ell für die Psy­che vie­ler Men­schen, egal ob alt und allei­ne oder psy­chisch labil oder als Klein­fa­mi­lie in einer klei­nen Woh­nung – das ist auf lan­ge Sicht nicht trag­bar. Dar­an wer­den dann vie­le wie­der­um erkran­ken. Das Fern­hal­ten der einen Krank­heit führt dann zu neu­en Krank­hei­ten oder ver­stärkt ande­re bestehende.

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