Die dominante Reaktion auf Hanau ist die Forderung und Ankündigung, den »Kampf gegen rechts« zu verschärfen. Das ist gut und richtig, wenn es bedeutet, Terror und Gewalt mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu verhindern und extremistische Bestrebungen so klein zu halten wie möglich. Doch sind die Strategien, die üblicherweise unter »Kampf gegen rechts« laufen, dazu geeignet, diese Anliegen voranzubringen? Sind wir sicher, dass sie mehr nützen als schaden? Ich bezweifle das und habe eher den Eindruck, dass sie zu großen Teilen nutzlos oder kontraproduktiv sind.
Die grobe Linie dieser Verschärfungsstrategie ist, den Spielraum für Diskussionen über Migration, Integration und Multikulturalismus weiter einzuengen, dem Bevölkerungsanteil rechts der Mitte mit neuer Entschiedenheit die demokratische Partizipation zu verweigern und noch nachdrücklicher die Durchsetzung progressiver Gesellschaftsideale zu betreiben.
Einschränkungen der Meinungsfreiheit geschehen um den Preis, dass Teile gesellschaftlicher Wirklichkeit unreflektiert bleiben. So gab es in den letzten Monaten beispielsweise Medienberichte über Clankriminalität in Shisha-Bars. Die AfD hat das Thema hier und da aufgegriffen. Was folgt nun konkret aus der Losung »aus Worte werden Taten« in diesem Zusammenhang? Hätten die Medien nicht berichten sollen? Hätten sie verschweigen sollen, um welche Art von Gastronomiebetrieb und Kriminalität es geht? Oder wird das Thema erst falsch, wenn eine Partei es aufgreift? Das wäre im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie ein widersinniger Standpunkt. Wenn Diskussionen nicht geführt werden, werden Probleme nicht gelöst. Manche Probleme mögen von selbst wieder verschwinden, wenn man sie totschweigt, aber andere verschärfen sich, und je mehr sie sich verschärfen, desto mehr Unterdrückung der freien Meinungsäußerung wird nötig.
Der zweite Punkt ist, der AfD und ihren Wählern die demokratische Partizipation zu verweigern. Dies ist eine auf Dauer gestellte Verletzung des ungeschriebenen Vertrages zwischen Staat und Bürgern. Es ist keine Aufkündigung des Vertrages, denn die Betroffenen zahlen weiter Steuern und Rundfunkgebühren und müssen den Staat mit seinen Gesetzen und Entscheidungen immer noch respektieren. Sie werden partiell zu Untertanen gemacht, die zu folgen, aber nichts zu sagen haben. Dies scheint kaum geeignet, sie wieder mit dem Staat zu versöhnen, da es sie selbst zum Opfer eines vom Staat ausgehenden Unrechts macht. Manche sagen ausdrücklich, hier gebe es auch nichts zu versöhnen, das seien einfach Nazis/[alternatives Schimpfwort einsetzen], die man ausgrenzen müsse. Auf diesem Standpunkt wird die Heftigkeit von Abneigungsgefühlen zur Begründung für antidemokratische und kontraproduktive Strategien. Moralisierung macht blind für Kausalität.
All dies wird die Rechte nicht schwächen, sondern stärken, und nicht befrieden, sondern weiter empören. Und je weniger die Rechte ihre Ansichten und Interessen bei Tageslicht vertreten kann, desto mehr wird sie es im Untergrund tun (müssen), wo eher Übles entsteht.
Das progressive Projekt
Hanau steht chronologisch zwischen zwei politischen Erdbeben mit Epizentrum in Thüringen. Das erste war die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit AfD-Stimmen, der von der Linken bis tief in die Mitte hinein als »Dammbruch« in Richtung einer Zusammenarbeit mit der AfD gesehen wurde. Die Presse reagierte schrill, Merkel auf ihre Art ebenfalls, draußen gab es Demonstrationen, Drohungen und Vandalismus gegen Kemmerich sowie unbeteiligte FDP-Politiker. Das Experiment wurde unter der Wucht des Gegendrucks eingestampft. Dann, kurz nach Hanau, vollzog sich ein Dammbruch in die andere Richtung, indem die CDU sich entschied, Ramelow den Weg zur Ministerpräsidentschaft freizumachen. Katja Kipping triumphierte, das Hufeisen sei beerdigt, und sie hatte nicht Unrecht.
Die CDU kooperiert mit einer Partei, die sich zu ihrer kommunistischen Plattform und weiterer vom Verfassungsschutz beobachteter Gruppierungen bekennt. Auf der anderen Seite dürfte es die AfD nach herrschender Meinung eigentlich gar nicht geben, und einige wollen sogar die »WerteUnion« aus der CDU ausschließen oder Publizisten wie Sarrazin, Broder und Tichy unmöglich machen. Demnach dürfte es noch nicht einmal eine konservative Plattform in der CDU oder konservativ-liberale Nischenmedien geben. Dies bedeutet praktisch einen Versuch, in Deutschland den Konservatismus abzuschaffen.
Dies ist ohnehin Fluchtpunkt des progressiven Politik- und Gesellschaftsverständnisses. Es ist deutlich an Ausdrücken wie »gestrig«, »rückwärtsgewandt«, »ich dachte, wir wären weiter« oder Trudeaus »because it’s 2016«. Immer liegt die Annahme zugrunde, dass in der Zukunft alle Menschen progressiv seien. Und jetzt, da sich links ein Gefühl ausbreitet, das progressive Projekt könnte scheitern (Trump, Brexit) und die Nazis kämen zurück (Höcke), läuft die Zeit ab und diese Zukunft muss so schnell wie möglich kommen.
Diese Denkweise ist im Sinn ihrer theoretischen Prämissen folgerichtig. Dies sind erstens die Blank-Slate-Theorie, zweitens eine Art naiver Realismus auf der Linken und drittens die Vorstellung, dass rechte Einstellungen sich durch Ansteckung verbreiteten wie Krankheiten.
Die Blank-Slate-Theorie ist das Menschenbild des unbeschriebenen Blattes, das in den westlichen Gesellschaften seit Jahrzehnten hegemonial ist. Ihm zufolge kommen Menschen als im Wesentlichen identische Rohlinge zur Welt, etwa wie Festplatten, denen im Zuge der Sozialisation eine kultur- und milieuspezifische Software aufgespielt wird. Darauf beruht der charakteristische progressive Glaube an die nahezu grenzenlose Formbarkeit von Mensch und Gesellschaft. Hierzu ist das Standardwerk »The Blank Slate/Das unbeschriebene Blatt« von Steven Pinker zu empfehlen.
Mit naivem Realismus meine ich die für viele Linke unhintergehbare Auffassung, sie sähen die Welt einfach so, wie sie ist, sodass jeder, der die Welt ebenfalls so sieht, wie sie ist, ihrer Meinung sein müsse. Hierher stammt die Verachtung, die Linke oft für Nichtlinke hegen – sie können sich deren abweichende Meinungen nur mit Dummheit oder Bösartigkeit erklären.
Siehe dazu:
Die Ansteckungstheorie folgt daraus. Menschen sind rechts, weil ihnen eine falsche Software aufgespielt wurde. Man muss ihnen stattdessen die richtige Software aufspielen und die weitere Verbreitung der falschen verhindern. Natürlich ist das nicht ganz falsch – Ideen verbreiten sich durch Kommunikation. Doch das geschieht nicht beliebig, sondern innerhalb der Zwänge einer materiellen Wirklichkeit. In Verbindung mit dem naiven Realismus macht die Ansteckungstheorie es unmöglich, zu verstehen, warum sich manche Ideen verbreiten und andere nicht. Die Antwort ist, weil diese Ideen in den Augen der Betreffenden gewissen Realitäten Rechnung zu tragen scheinen, die für sie von Bedeutung sind – genau wie linke Ideen auf der linken Seite. Will man die weitere Ausbreitung von Ideen also verhindern, müsste man alternative Ideen anbieten, die diesen Realitäten besser Rechnung tragen. Doch manchen Realitäten will die Linke nicht Rechnung tragen. Sie will sie gar nicht sehen.
Hier stehe ich, ich kann nicht anders
Dieser theoretische Dreiklang verkennt, dass rechtes wie linkes Denken auf Dispositionen beruht, die nicht abschaffbar sind, und dass beide ihre begründenden Realitätsbezüge haben. Konservative sind nicht aus Jux und Dollerei konservativ, sondern weil dies das Ergebnis ist, zu dem ihre Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit sie geführt hat. Weil ihnen die Dinge so zu sein scheinen.
Wir alle wissen im Prinzip, dass wir uns irren können und unzählige andere Menschen die Dinge anders sehen als wir selbst. Insofern wissen wir, dass die eigene Sicht nur eine Möglichkeit unter vielen ist. Doch gleichzeitig können wir nicht aus unserer Haut. Wenn mir die Dinge so erscheinen, dann erscheinen sie mir so. Es gibt keinen Schalter, den ich umlegen könnte, um das zu ändern.
Ich kann anderen zuhören, diskutieren und mich informieren, und danach werden mir die Dinge mehr oder weniger anders erscheinen. Doch ich kann mir nicht aussuchen, von welchem Standpunkt ausgehend ich zuhöre, diskutiere und so weiter, und ebenfalls nicht, welcher modifizierte Standpunkt dabei herauskommt. Die Lektüre eines »gegnerischen« Buches kann dazu führen, dass sich meine Gegnerschaft verstärkt, weil ich den Inhalt unsinnig und abstoßend finde. (Ein wichtiger Effekt, den die Ansteckungstheorie nicht abbildet. Viele Materialien und Botschaften »gegen rechts« sind so verfasst, dass sie garantiert nur Linke ansprechen.)
Ich habe diese Vorgänge nur begrenzt unter Kontrolle. Ich kann mich gezielt mit der Realität und mit Kommunikation konfrontieren, aber ich kann mich nicht einfach willentlich zu einer anderen Meinung entscheiden. »Meine Meinung« ist es nur, wenn es mir wahr erscheint, und was mir wahr erscheint, ist Folge eines komplexen Ineinandergreifens von Veranlagung, Erfahrung, Wissen, Wahrnehmung und Intuition im Verlauf meiner Biographie.
Was soll ich also damit anfangen, wenn mich jemand anbrüllt, mein Verständnis der Realität sei böse und falsch und müsse von der Bildfläche verschwinden? Ich halte mich nicht für böse; ich erkläre gerne, wie sich meine Auffassungen begründen; führe gerne aus, was das Gute ist, das ich anstrebe, und welches Böse ich bekämpfe.
Doch mein Gegenüber will das gar nicht wissen. Was ich auch sage, für ihn steht fest, dass ich böse und/oder ein Idiot bin und mit dieser Auffassung eigentlich nicht existieren dürfte. Wenn ich ihm versichere, dass ich die finsteren Absichten nicht hege, die er mir zuschreibt, beschuldigt er mich der Lüge. Wenn ich Beweise anführe, behauptet er, sie seien manipuliert und dienten nur zur Tarnung meiner finsteren Absichten. Meine Argumente greift er nicht als solche auf, um sie zu entkräften, sondern deutet sie als rhetorische Täuschungsmanöver. Wenn ich mich über die unfaire Diskussionsführung beschwere, heißt es, ich würde mich als Opfer inszenieren und das sei ein weiterer fauler Trick von mir. Unter Androhung von Gefängnisstrafen muss ich unterdessen jeden Monat einen erheblichen Teil meines Einkommens abgeben, um Leute zu finanzieren, die mir diese Behandlung angedeihen lassen.
Gleichzeitig höre ich die Argumente der Gegenseite und muss feststellen, dass sie mich nicht überzeugen. Ich höre sie nicht zum ersten Mal; sie sind ja überall und werden nachdrücklich als die einzig wahre, einzig gute Position präsentiert. Ich habe daher oft und lange über sie nachgedacht und komme immer wieder zu dem Ergebnis, dass ich sie für selbstwidersprüchlich, realitätsfern und uninformiert halte.
Was mache ich nun in dieser Situation? Ich könnte mich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, um meine Ruhe zu haben. Doch die Ruhe wäre nur äußerlich, denn mir liegt etwas an meiner Familie, meinen Freunden, meinem Land, der westlichen Zivilisation und den Menschen im Allgemeinen. Ich sehe, wie diejenigen das öffentliche Leben bestimmen, deren Realitätsdeutung ich für selbstwidersprüchlich, realitätsfern und uninformiert halte. Meiner Einschätzung nach verursachen sie mit ihrem halb blinden Handeln ernsten Schaden, und ich fürchte, dass die Situation irgendwann kippen und in etwas wirklich Schlimmes münden könnte.
Wer würde sich demgegenüber passiv zurückzuziehen? Das wäre zynisch, nihilistisch, eine Selbstaufgabe. Es wäre auch verantwortungslos. Es hieße, sich auf ein Leben des Den-Mund-Haltens wider besseres Wissen einzustellen. Man kann nicht erwarten, dass dies regelmäßig die Reaktion der Betroffenen sein wird. Und wenn sie es wäre, würde man damit nicht lauter aufrechte Demokraten gewinnen, sondern Millionen ausgeschlossene Zyniker, die die Demokratie aufgegeben haben. Man sollte sich das gut überlegen.
Das Notwehr-Argument
Hier liegt der Einwand nahe, die AfD-Wähler hätten die Demokratie bereits aufgegeben, seien bereits verloren, so dass ihre Ausgrenzung keinen zusätzlichen Schaden verursache, aber zusätzlichen Schaden verhindere. Und natürlich sei es nicht ideal, in einer Demokratie Wähler und gewählte Abgeordnete auszuschließen, aber es gelte ein neues 1933 zu verhindern. Der Ausschluss sei gewissermaßen Notwehr.
Abschließend ein prüfender Blick auf diese beiden Thesen: Dass die heutige Situation gefährliche Ähnlichkeit mit derjenigen von 1933 hätte und dass AfD-Wähler für die Demokratie verloren seien.
Als Hitler zur Macht kam, war die junge Demokratie der Weimarer Republik bereits zerrüttet. Dies scheint klar und in der Geschichtsschreibung Konsens zu sein. Sebastian Haffner schreibt in »Anmerkungen zu Hitler«:
… Es ist also ein Irrtum, wenn auch ein weitverbreiteter, dass erst Hitlers Ansturm die Weimarer Republik zu Fall gebracht hätte. Sie war bereits im Fallen, als Hitler ernsthaft die Szene betrat, und bei den innenpolitischen Kämpfen der Jahre 1930–1934 ging es in Wirklichkeit nicht mehr um die Verteidigung der Republik, sondern nur noch um ihre Nachfolge. Die einzige Frage war, ob die bereits aufgegebene Republik durch eine konservative – in letzter Konsequenz wohl monarchistische – Restauration abgelöst werden sollte oder eben durch Hitler. …
Die Weimarer Republik ist nicht durch Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit zerstört worden, obwohl sie natürlich zur Untergangsstimmung beigetragen haben, sondern durch die schon vorher einsetzende Entschlossenheit der Weimarer Rechten, den parlamentarischen Staat zugunsten eines unklar konzipierten autoritären Staats abzuschaffen. Sie ist auch nicht durch Hitler zerstört worden: Er fand sie schon zerstört vor, als er Reichskanzler wurde, und er entmachtete nur die, die sie zerstört hatten.
»Die Weimarer Rechten« schließt hier die Konservativen ein. Das heißt, eine Ablehnung der Demokratie war Mainstream, während große Teile der Linken revolutionär ausgerichtet waren und der Liberalismus auch in anderen Ländern in der Krise steckte und unter Beschuss stand.
Heute dagegen verfügen wir über stabile und ausdifferenzierte Staatsinstitutionen, die von kaum jemandem ernsthaft in Frage gestellt werden. Gibt es in den AfD-Reihen Stimmen, die das demokratische System selbst in Frage stellen? Im Umkreis des rechten Flügels gibt es das vermutlich; jedenfalls Sympathien für Denker und Gedankengut, die nicht ohne Weiteres mit einer freiheitlichen Demokratie kompatibel sind. Die gibt es auch auf der Linken. Wir sollten dies auch im Blick behalten und hellhörig sein, wann immer etwas dazu gedacht oder geeignet scheint, die demokratischen Institutionen zu destabilisieren.
Doch die Auffassung, dass die AfD als Ganze eine antiparlamentarische oder antidemokratische Kraft sei, scheint mir empirisch nicht gedeckt. Das Parteiprogramm und die allermeisten öffentlichen Äußerungen aus der Partei lassen das nicht erkennen. Und wenn dies täuschen sollte, untermauert genau die Tatsache, dass hier eine Täuschung notwendig ist, meinen Punkt: Eine Ablehnung der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik ist nicht mehrheitsfähig, weder im Parteiensystem noch in der weiteren Öffentlichkeit. Von wenigen Akteuren an den extremen Rändern abgesehen hat niemand Interesse an autoritären Experimenten.
Dazu zwei Meinungsbilder von der zurückliegenden Bundestagswahl.
86 Prozent der Gesamtbevölkerung meinen, dass die AfD sich nicht genug von rechtsextremen Positionen abgrenze – und mehr als die Hälfte der AfD-Wähler meinen das ebenfalls. Sie wählen sie trotzdem. Warum? Die Grafik beantwortet die Frage. Weil sie eine Veränderung der Migrationspolitik wollen. Diese Position wiederum teilen 35 Prozent der Gesamtbevölkerung (erste Grafik), eine Gruppe, die mehrheitlich nicht AfD wählt.
Selbst wenn man sich also auf den extremen Standpunkt stellt, die AfD sei eine reine Nazipartei, muss man feststellen, dass es für den »Naziaspekt« kaum Zuspruch gibt. Die Partei muss ihre rechtsextremen Tendenzen abstreiten und kaschieren und wird von den meisten trotz, nicht wegen dieser Tendenzen gewählt.
Die AfD hat mehrere Alleinstellungsmerkmale: vor allem die restriktive Zuwanderungspolitik, aber auch die EU-Skepsis, eine eher konservative Familien- und Geschlechterpolitik und andere. Dennoch kommt sie nur auf 14 Prozent, während mehr als die Hälfte ihrer Wähler aufgrund mangelnder Abgrenzung nach rechts ein schlechtes Gefühl haben, also lieber eine andere Partei wählen würden, wenn sie diese Anliegen dort wiederfänden.
Kurz: Niemand will Nazis an der Macht sehen. Die Parlamentarier nicht und die überwältigende Mehrheit der Wähler ebenfalls nicht. Was die Letzteren wollen, sofern sie AfD-Affinitäten haben, ist in erster Linie, dass die Probleme der Migration ernstgenommen werden. Wer Extremismus bekämpfen will, sollte das tun – oder sich etwas Mühe geben, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Probleme handhabbar sind und/oder die Vorteile überwiegen. Das Verschweigen, die Einschüchterung, das Überlegenheitsgehabe und das Einlullen mit politisch korrekten Sprachregelungen – das ist nicht überzeugend.
Es ist kein Wunder, dass Hanau der AfD nicht schadet, da sich an den Anliegen ihrer Wähler nichts geändert hat. Die Multikulturalisten haben sich nach dem Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz auch nicht plötzlich gegen Einwanderung gestellt. Eine solche 180-Grad-Wende ist hier wie dort nicht zu erwarten, da der Schock einer außergewöhnlichen Gewalttat nichts an der Gesamtdiagnose ändert, die in einem Lager vorherrscht.
Für Linke verkörpert der rückwärtsgewandte, antiliberale, autoritäre und nationalistische Gesellschaftsentwurf der Rechten das ultimative Zerstörungspotenzial. Für Rechte verkörpern der Verlust sozialer Kohäsion und die Konflikthaftigkeit, die sie im Multikulturalismus sehen, das ultimative Zerstörungspotenzial. Und für Menschen, die meinen, eine ultimative Gesellschaftszerstörung abwenden zu müssen, sind einzelne Gewalttaten kein Grund zum Kurswechsel, so schrecklich sie auch sind, denn in ihrem Selbstverständnis geht es ihnen immer darum, noch Schlimmeres zu verhindern. Das ist logisch und impliziert auf keiner Seite Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern.