Darf man mit rechten Parteien kooperieren? Darf man mit linken Parteien kooperieren? Muss man, wenn man das eine ausschließt, auch das andere ausschließen?
Anlässlich der Thüringer Krise der letzten Tage sind diese Fragen gerade wieder Gegenstand öffentlicher Diskussion. Zugrunde liegt ihnen die allgemeinere Frage, ob und inwiefern rechter und linker Radikalismus gleichwertig bzw. gleichermaßen verurteilungswürdig und gefährlich sind.
Die Annahme, dass sie das seien, kollidiert aufs Heftigste mit dem linken Selbstverständnis. Die Linke sieht sich als Kraft, die das Gute will und einer rechten Kraft gegenübersteht, die das Böse will.
Das Argument klingt etwa so:
Wie sollen rechts und links äquivalent sein? Linke stehen für Gleichheit. Sie setzen sich für die Schwachen ein und wollen mehr Gerechtigkeit schaffen. Rechte stehen für Ungleichheit. Sie wollen Menschen die Rechte wegnehmen, sie verfolgen und ausgrenzen. Das eine ist menschenfreundlich, das andere menschenfeindlich. Häufig wird »rechts« auch geradeheraus mit »Hass« gleichgesetzt.
Wenn man es so formuliert, kann man nur auf Seiten der Linken stehen. Dann sind diese unzweideutig die Guten und die Rechten die Bösen.
Doch das sagt zunächst einmal wenig aus, da es sich dabei um eine linke Selbstwahrnehmung und ‑beschreibung handelt. Wenn man einen Linken fragt, wofür die Linke steht, bekommt man wenig überraschend eine Antwort, die gut klingt. Wenn man einen Rechten fragte, wofür er steht, würde er ebenfalls kaum Ungleichheit, Ausgrenzung, Verfolgung und Hass sagen, sondern ebenfalls etwas, das gut klingt. Und er hätte auch eine weniger schmeichelhafte Beschreibung der linken Gegenseite parat, so dass ein unbedarfter außerirdischer Zuhörer zu dem Schluss käme, dass die Rechten wohl die Guten seien.
Die Pars-pro-toto-Verzerrung von links
Wenn man aus linker Sicht links und rechts vergleicht, ist man automatisch geneigt, beim Blick auf sich selbst einseitig das Positive hervorzuheben und beim Blick auf rechts einseitig das Negative. Das ist menschlich und geschieht in gewissem Umfang bei jedem Nachbarschaftsstreit. Verschärfend kommt aber hier hinzu, dass Politik tief verinnerlichte Werte berührt und viele, wahrscheinlich die meisten dezidiert Linken große Schwierigkeiten haben, zu verstehen, wie Rechte oder Konservative ticken. Aus ihrer Sicht erscheint Konservatismus oft als seltsam grundlose Ablehnung der linken Ideale, die so offenkundig und eindeutig gut sind, dass ihnen jeder Menschenfreund eigentlich nur zustimmen kann.
Viele Linke können sich nicht vorstellen, wie es möglich ist, mit guten Absichten nicht links zu sein. Sie neigen deshalb dazu, den Nichtlinken böse Absichten zuzuschreiben, und mit dieser Zuschreibung kommen Verachtung und Feindseligkeit.
Dazu passt eine Beobachtung des US-Ökonomen Thomas Sowell:
Wer Ideengeschichte studiert, wird feststellen, dass Menschen auf der politischen Linken viel mehr als andere diejenigen verunglimpfen und dämonisieren, die nicht ihrer Meinung sind – statt auf ihre Argumente zu antworten.
Das relative Unverständnis konservativen Denkens auf der Linken hat Jonathan Haidt in seinem Buch »The Righteous Mind« empirisch dokumentiert und erklärt. In dieser Hinsicht ist die Rechte im Vorteil – Rechte verstehen besser, wie Linke ticken, als umgekehrt. Der Grund dafür ist demzufolge, dass die Rechte ein breiteres Spektrum moralischer Intuitionen nutzt und bedient. Darauf gehe ich ein anderes Mal genauer ein. In diesem Interview ist es zur Mitte hin knapp erklärt; hier finden sich Theorie, Fragebogen und Studien dazu.
Das Ergebnis dieser Wahrnehmung der Rechts-links-Achse aus linker Perspektive ist jedenfalls das, was der Soziologe Norbert Elias eine Pars-pro-toto-Verzerrung nennt. »Pars pro toto« heißt übersetzt »ein Teil [steht] für das Ganze«.
Elias meint damit den Mechanismus, dass Menschengruppen einen Glauben an die eigene Höherwertigkeit gegenüber anderen Gruppen nähren, indem sie eine selektive Auswahl der besten Qualitäten der Eigengruppe zum repräsentativen Merkmal der Gruppe erklären, und die schlechtesten Eigenschaften der Fremdgruppe zu deren repräsentativem Merkmal. Wenn Rassisten die Helden ihrer Kultur als Beweis ihrer Überlegenheit hochhalten und Verbrecher der verhassten Gruppe als Beweis für deren Verderbtheit, während sie das Böse bei sich selbst und das Gute bei den anderen ausblenden, ist das nur das prägnanteste Beispiel dafür.
Welche Teile stehen für das Ganze, wenn wir Linke und Rechte vergleichen?
Auf der Rechten gab es die Nazis, den Vernichtungskrieg und den Holocaust, und gibt es immer noch Extremismus mit allem, was dazugehört – Intoleranz, Hass, Gewalt. Im Rahmen der Pars-pro-toto-Verzerrung wird nun dieses Hässliche und Böse als Kern und Fluchtpunkt rechten Denkens und Empfindens gedeutet, so dass der rechte Extremismus letztlich das sei, was Rechte eigentlich und wirklich wollen; das, was sie im Innersten ausmacht.
Wenn man sich ein Bild von der Linken macht, passiert etwas ganz anderes. Hier gab es die Tyrannei, den Totalitarismus, die Sklaverei und die Leichenberge der Kommunisten, und immer noch gibt es ideologisch ähnlich aufgestellten Extremismus. Dennoch denkt niemand, dass diese menschenfeindlichen und destruktiven Erscheinungsformen linker Ideologie das seien, was das Linkssein eigentlich ausmache, dass sie der Kern der linken Seele und die letztendliche Motivation aller Linken seien. Niemand denkt, dass Linke sich eigentlich nach politischer Geheimpolizei, Gulags, Folter, Totalüberwachung und Hungersnöten sehnen – was das Äquivalent zur gängigen Beurteilung der Rechten wäre. Wir stufen extremistische Tendenzen auf der Linken vielmehr schlimmstenfalls als unerfreuliche Randerscheinungen ein, wie sie bei jeder größeren sozialen Gruppe oder Bewegung zu erwarten sind, aber nichts mit deren Essenz und Wert zu tun haben.
Das ist offenkundig ein Messen mit zweierlei Maß. Bei den Rechten wird das Extrem zur Essenz erklärt, während bei den Linken das Extrem mit der Essenz gar nichts zu tun haben soll.
Ich habe den Mechanismus dieses Messens mit zweierlei Maß, diese Pars-pro-toto-Verzerrung, hier einmal veranschaulicht:
Zentrale Werte und ihre Verabsolutierung
»Was ist nun aber die Essenz bei den Rechten?«, würde man hier von links fragen. Die sind doch primär gegen andere gerichtet, statt für irgendetwas Gutes, Konstruktives zu stehen. Ja, das ist die vorherrschende Denkgewohnheit. Aber es stimmt nicht.
Man kann den zentralen Wert der Rechten nicht so knapp und klar auf den Punkt bringen wie man es bei der Linken mit dem Schlagwort der Gleichheit kann. Doch es gibt ihn und er ist an sich positiv. Ich habe mir die Beschreibung Integrität gewachsener Struktur dafür überlegt.
Damit meine ich, dass es bei Rechten ein Gefühl, eine Intuition, ein Bewusstsein gibt, dass die gesellschaftliche Struktur ein über lange Zeiträume gewachsenes Gebilde ist, das unter Blut, Schweiß und Tränen geschaffen wurde, das wertvoll und fragil ist, das nicht so einfach repariert werden kann, wenn es Schaden nimmt, und das gepflegt und mitunter auch verteidigt werden muss. Diese Vision eines gewachsenen größeren Ganzen, das Wert und Würde besitzt, steckt in Konzepten wie Volk, Nation, Tradition, Brauchtum, Loyalität, Treue, Autorität, Opferbereitschaft, Pflicht, Disziplin und »ordentliche Arbeit«, verstanden als Übernahme der Verantwortung, einen Beitrag zum Ganzen zu leisten.
Man sieht hieran auch gleich, wo Feindseligkeit, Hass, Gewalt und so weiter ins Spiel kommen: Wenn man es übertreibt. Wenn man ein Maß von Integrität oder Kohärenz erwartet, das eine komplexe Gesellschaft nicht bieten kann (»Reinheitswahn«). Wenn man Bedrohungen sieht, die nicht real oder weniger dramatisch sind als angenommen. Wenn man Feinde sieht, wo keine sind.
In ganz ähnlicher Weise sieht man aber bei kurzer Überlegung auch sofort, wie der zentrale Wert der Linken destruktiv werden kann, die Gleichheit. Nämlich ebenfalls, wenn man es übertreibt.
Wenn das Gleichheitsideal destruktiv wird
Gesellschaft ist ein hierarchisches Gebilde, ob einem das passt oder nicht. Gewisse Arten und Grade von Ungleichheit sind damit unausweichlich. Zudem werden wir bereits unterschiedlich geboren. Damit Gleichheit ein produktiver Wert ist, muss man konkretisieren, was man damit meint, zum Beispiel Gleichheit vor dem Gesetz, eine Wahlstimme für jeden oder das Ideal der Chancengleichheit. Wenn man die Idee der Gleichheit verabsolutiert, wird es brutal.
Der letztendliche Grund dafür ist, dass es viel leichter ist, Starke schwächer zu machen, als Schwache stärker zu machen. Es ist viel leichter, Reichtum wegzunehmen als ihn herzustellen; viel leichter, Erfolg wegzunehmen, als zum Erfolg zu befähigen; viel leichter, ein paar Männern per Quote den Weg abzuschneiden, als mehr Frauen in die Politik zu bringen.
Eine prägnante Veranschaulichung hierfür liefert die dystopische Kurzgeschichte »Harrison Bergeron« von Kurt Vonnegut von 1961. Ein fiktives Regime der Zukunft stellt darin Gleichheit her, indem es die Vorteile nichtig macht, die aus individuellen Begabungen entstehen. Der Intelligente muss ein Ohrstück tragen, das regelmäßig durch laute Töne seine Gedankengänge stört, die talentierte Tänzerin bekommt Gewichte angehängt und so weiter.
Ganz in diesem Geist kursierte im Jahr 2015 ein ernstgemeinter Artikel, der im Namen der »Social Justice« Überlegungen anstellte, dass Eltern, die ihre Kinder liebevoll erziehen, diesen dadurch »unfaire Vorteile« gegenüber anderen Kindern verschafften, die keine liebevolle Erziehung genossen, und ob man nicht ihrer Freiheit Grenzen setzen sollte, das zu tun.
Selbst wenn man von ausschließlich guten Absichten ausgeht, wird ein so grobschlächtiger Apparat wie der Staat niemals in der Lage sein, sämtliche Faktoren auszuschalten, die Ungleichheit erzeugen, und dabei die Chancen der Menschen zur Selbstentfaltung zu erhöhen statt sie einzuschränken. Das ist, als wollte man eine diffizile chirurgische Behandlung mit nichts als einem dicken Hammer durchführen. Man kann mit einem dicken Hammer durchaus etwas bewirken, aber die Frage ist, was.
Es ist wesentlich dieses Muster, das den Kommunismus immer wieder in Tyrannei, Gewalt und Elend münden ließ. Um Gleichheit herzustellen, macht man Jagd auf die Erfolgreichen, deren Besitz »gerecht« an alle verteilt werden soll. Das ist bereits an sich ein Gewaltakt. Als Nächstes kommt aber hinzu, dass die Wirtschaft zusammenbricht, weil man viele ihrer Träger und wichtigsten Produktivkräfte verjagt, enteignet, interniert oder umgebracht hat. Jetzt greifen Armut und Elend um sich, womit auch den Schwachen kaum geholfen ist, um die es dabei angeblich gehen sollte. Sie sind jetzt noch ärmer, bis hin zum Verhungern, wie es nach der sowjetischen Enteignung der »Kulaken« millionenfach geschah.
Nichts könnte falscher sein als die Schrecken des Kommunismus als Betriebsunfälle einzustufen, die etwa auf ungewöhnlich korrupte Herrscher zurückzuführen seien, aber mit den zentralen linken Werten und Idealen nichts zu tun hätten. Sie gehen direkt daraus hervor.
Aufwärts oder abwärts
Folgende Grafik zeigt in schematischer Vereinfachung, wie die zentralen Werte der Linken und der Rechten zum Gemeinwohl beitragen oder in die Hölle auf Erden führen können, je nachdem, wie sie sich praktisch manifestieren.
Beide zentralen Werte müssen Gegenstand rationaler Abwägung mit anderen Werten und vor allem den gegebenen Realitäten sein, um sich in fruchtbarer Weise zu verwirklichen. Das bedarf wohl keiner großen Erläuterungen. Entscheidend ist dabei auch der Austausch ihrer Vertreter, also der Linken und Rechten, miteinander. Beide sehen Aspekte der Wirklichkeit, die die anderen nicht sehen, und so wäre eine konstruktive Zusammenarbeit beider (zu der sie einander nicht lieben, sondern nur Erwachsene sein müssen) die beste Voraussetzung für eine informierte und am bestmöglichen Konsens orientierte Politik. (Mehr zu dieser Idee der gegenseitigen Ergänzung in meinem Artikel Offenheit versus Gewissenhaftigkeit: Der psychologische Unterschied zwischen Linken und Rechten.)
Zur Verabsolutierung habe ich oben schon einiges gesagt. Sektendynamik ist gewissermaßen die sozialpsychologische Seite davon. Menschen bilden moralische Gemeinschaften, verstärken darin durch gegenseitige Bestätigung ihre Glaubenssätze, werden allmählich blind für andere Ansichten und neigen zur Abwertung von Außenseitern. Dies ist immer eine Tendenz sozialer Gruppen. Wenn zwischen mehreren solcher Gruppen eine aktive Feindschaft besteht, beschleunigt dies das Abgleiten in die Sektendynamik, da die Feindschaft eine Wahrnehmung des Gegners als böse begünstigt, die mit zunehmender Blindheit für das eigene Böse einhergeht. Dies nennt man gemeinhin »Eskalation«.
»Ressentiment« sollte noch erwähnt werden, weil ich ein Missverständnis vermeiden möchte. Wenn ich sage, beide zentralen Werte sind an sich nicht böse, dann bedeutet das nicht, dass Menschen zunächst einmal reine, gute Geschöpfe seien, in denen nichts Böses stecke, solange sie sich nicht radikalisieren. Es gibt immer und auf beiden Seiten Zornige, auch solche, bei denen normalerweise nicht groß auffällt, dass sie zornig sind; es gibt Verletzungen, Rachegelüste, Feindseligkeiten, eben Ressentiments. Diese werden zur realen Gefahr und Destruktivkraft, wenn die Verhältnisse kippen. Politischer Extremismus – oder auch religiöser Fundamentalismus – bietet den Betreffenden eine Möglichkeit, ihren Zorn als Ausdruck von Tugend zu verkaufen und es zu vermeiden, sich den eigenen Dämonen zu stellen, indem sie sich einreden, die Dämonen seien die anderen. Ich halte dies für eine Kraft, über deren Existenz man sich im Klaren sein muss. Sie entfesselt sich im Ernstfall in Mobs, Pogromen und Irren in Befehlspositionen. Sie ist das Feuer, mit dem man spielt, wenn man auf eine gesellschaftliche Destabilisierung hinwirkt.
Es wäre nützlich, wenn mehr Menschen sich klarmachten, dass ihr Zorn und Hass kein Ausdruck von Tugend und moralischer Überlegenheit ist, sondern etwas sehr anderes – ja, auch der Zorn und Hass »gegen rechts«.
Die Pflege der strukturellen Integrität als Kern rechten Denkens ist für mich nachvollziehbar, aber sehr abstrakt. Ich denke, der Grundgedanke, der auf konservativer Seite vorherrscht, ist der, dass eine bestehende Ordnung, auch wenn ihr Sinn nicht voll erfasst werden kann, dennoch sinnvoll sein kann. Oder anders ausgedrückt: Die Generationen vor uns waren auch nicht dümmer als wir und die Lösungen, die sie sich ausgedacht haben, könnten einen Sinn besitzen.
Ein solcher Gedanke wird in der linken Denkweise in der Regel abgelehnt. Eine Gesellschaft lässt sich am Reißbrett entwerfen und ist besser als die bestehenden Strukturen. Ich vermute, das die Offenheit als Teil der Persönlichkeitsstruktur diese Einstellung begünstigt.
Allerdings, und hier bin ich mir nicht ganz sicher, wie ich das einordnen soll, gilt diese Offenheit nicht allgemein. Zumindest in unseren Breiten finden sich im linken Spektrum sehr viele Menschen, die bereitwillig die gesellschaftliche Organisation völlig neu definieren würden oder die Sprache als einen beliebigen Baukasten sehen, der nach Gutdünken freihändig verändert werden kann. Die gleichen Leute sind aber beispielsweise erbitterte Gegner von Veränderungen, wenn Pflanzen oder Tiere als Baukästen gesehen werden, die durch den Menschen beliebig verändert werden können (Biotechnologie) oder die den Klimawandel eben nicht als Konstruktion und »Terraforming« begreifen, sondern als Bedrohung, der – überspitzt formuliert – nur mit einer Rückkehr zu Verhalten aus dem 19. Jahrhundert begegnet werden kann.
Kann sich die Offenheit nur auf Teile des Daseins beziehen, während andere Teile als wenig offen oder gar unveränderbar postuliert werden?
Hey, danke für den Kommentar. Ich stimme dieser Beschreibung des Konservativen völlig zu. In Thomas Sowells »A Conflict of Visions« ist genau dieser Unterschied detailliert ausgearbeitet – ob man sozusagen die höhere Intelligenz in gewachsenen und erprobten Strukturen sieht oder in den theoretisch hergeleiteten Argumenten eines Einzelnen. In der letzteren Sicht kann tatsächlich ein Einzelner schlauer sein als alle vorangehenden Generationen zusammen; wenn er alles Nötige gelesen hat und sein Argument überzeugend ist, dann ist das halt so. Meiner Ansicht nach ist der Denkfehler dabei, dass man leicht ein überzeugendes Argument formulieren kann, wenn man selektiv auf die Empirie zugreift, und das tun wir immer. Einfacher ausgedrückt, der Theoretiker hat nicht alle relevanten Informationen, kann er gar nicht haben, und daran scheitert das Projekt. Sowell nennt diese beiden Perspektiven die »constrained vision« und die »unconstrained vision«. Letzteres ist die Baukastenvision; man kann im Prinzip alles umbauen.
Ich denke, die Sache mit der Ökobewegung ist kein Widerspruch. Die Natur ist eine offenere Welt als Industrie, Wissenschaft oder Produktion. Diese sind schon wieder Festlegungen, Eingrenzungen, Routinen und starre Formen. Die Kultivierung, aber insbesondere die Zerstörung von Natur ist durchaus eine Einschränkung von Offenheit. Unberührte Natur ist symbolisch das offenste Szenario überhaupt. Zunächst einmal ist nichts entschieden und alles möglich. Jeder Bau und jede Technologie ist dann eine Festlegung, und mit jeder Festlegung ist das Spektrum der Möglichkeiten kleiner und mehr vorgezeichnet. Jede technische Lösung sagt: so machen wir das jetzt.
Natürlich eröffnen Technologie auch Möglichkeiten, insofern ist fraglich, ob das so stimmt, aber ich glaube, es beschreibt die entsprechende Wahrnehmung. Im Allgemeinen ist ja die Verlustangst bei Menschen stärker als der Optimismus über Potenziale. Dies in Verbindung mit einem allgemeinen Misstrauen gegenüber dem Typ Mensch und dem Typ Institution, der baut und entwickelt, mag dazu führen, dass die Angst vor dem Verlust der ursprünglichen Offenheit der Natur gegenüber den durch Technologie eröffneten Chancen weit im Vordergrund steht. Ganz allgemein scheint mir die Ökobewegung auch praktisch immer teilweise von Feindseligkeit gegen die gesellschaftliche Ordnung getrieben zu sein, die als unterdrückerisch und einengend empfunden wird.
Danke für die Erläuterungen.
Wenn damit offen im Sinne von chaotisch gemeint ist, dann vielleicht. Aber offen im Sinne von alles ist möglich ist die Natur nun gerade nicht. Vielleicht ist es das sakrale Bild, das sich heute durch das Leben in einer durch Kultur geprägten Umwelt von einer unberührten Natur, also der Natur, die in ihrem als rein imaginierten Zustand ist, ergibt. Aber die unberührte Natur ist so gar nicht von der Gleichheit durchzogen, die den Linken der höchste Wert ist. Ganz im Gegenteil, überall Hierarchie und überall Kampf, um die eigene Position in der Hierarchie zu verbessern oder chemischer Zwang in von Gleichheit geprägten großen sozialen Gebilden wie einem Ameisenstaat.
Die These vom offensten Szenario überhaupt teile ich nicht: Jeder Wissenschaftler kann mit CRISPR ein Vielfaches an Offenheit in einem Bruchteil an Zeit erreichen, als es die unberührte Natur schaffen könnte. Er wird zwar durch die Gesellschaft gebunden, weil die Folgen solchen Handelns unabsehbar wären, aber dennoch ist das CRISPR-Szenario deutlich offener als die unberührte Natur. Für dieses viel offenere Szenario kann ich aber auf linker Seite keine Begeisterung erkennen.
Umgedreht ist das Leben in der Gesellschaft für den heutigen Linken (also eher intersektional angehaucht, denn marxistisch) ein System von kleinen Bausteinen, die von jedem Mitglied der Gesellschaft möglichst frei zu einem individuellen Gebäude kombiniert werden können sollte. Dieses selbst errichtete Gebäude, scheint mir im Subtext immer mitzuschwingen, wird aus dem Stand für die meisten Menschen schöner sein, als die Gebäudeentwürfe, die über Tradition, Sitten und anderen auf langfristigen Mustertransfer ausgerichteten Institutionen je angeboten werden können. Ein Gedanke, der gerade auf genetischer Ebene sofort als völlig haltlos verworfen werden würde. Dennoch scheint mir der Komplexitätsgrad der Aufgabe der gesellschaftlichen Demiurgen deutlich unterschätzt zu sein, wie der Entwicklungsverlauf aller Reißbrett-Gesellschaften des zwanzigsten Jahrhunderts eindrücklich zeigt.
Kurz: Ich erkenne die Argumentation von Offenheit und unberührter Natur wieder, sie überzeugt mich aber nicht.
»Auf der Rechten gab es die Nazis …« Wie man sich intellektuell mit diesem Thema auseinandersetzen kann und dann zu solchen Feststellungen kommt, ist mir unverständlich. Es ist nicht so schwer zu verstehen:
Der höchste Wert der Linken ist die GLEICHHEIT.
Der höchste Wert der Rechten ist die FREIHEIT.
Gleichheit lässt sich nur durch Einschränkung der Freiheit erreichen.
Aus Freiheit wird Ungleichheit hervorgehen.
NationalSOZIALISTEN (Nazis) sind ganz sicher nicht der rechten (freiheitlichen) Seite des politischen Spektrums zuzurechnen. Wenn Sie Rechtsextreme finden wollen, müssen Sie bei Anarchisten oder Libertären nachsehen.
Da kenne ich aber Rechte und Libertäre, die dieser Gleichung vehement widersprechen würden. Ich tue es auch. Was an dem Einwand aber stimmt, ist, dass ich hier die Nazis zu eindeutig rechts verortet und die linken Elemente unterschlagen habe. Werde dazu bald in einem gesonderten Artikel etwas sagen.
Der Artikel ist ja interessanterweise mit einem Hufeisen illustriert, auch wenn die besagte Theorie nicht angesprochen wird.
Gerade die extremen Ränder des Rechts-links-Spekrums ähneln sich in gewisser Weise. Die Linksextremen sind ja meist eher autoritär, und ich würde bezweifeln, dass das Persönlichkeitsmerkmal Offenheit da noch vorherrscht. Stattdessen findet man wieder vermehrt Tabus und Werte des Heiligen. Der links verortete Radikalfeminismus z.B. enthält geradezu reaktionäre erzkonservative Ideen.
Ja, sehe ich auch so, die ausschlaggebende Eigenschaft und der gemeinsame Nenner der Extreme ist meiner Ansicht nach Autoritarismus. Artikel dazu folgt demnächst, Hanau kam dazwischen.