Das Böse betritt die Welt meist unbemerkt von denjenigen, die ihm die Tür öffnen und es einlassen. Die meisten Menschen, die Böses tun, sehen ihre Taten nicht als böse an. Das Böse existiert primär im Auge des Betrachters, insbesondere des Opfers.
Roy Baumeister in: »Evil: Inside Human Violence and Cruelty« (Deutsch: »Vom Bösen: Warum es menschliche Grausamkeit gibt«), meine Übersetzung
Im linken wie im rechten Lager erklärt man sich die abweichenden Standpunkte der Gegner häufig damit, dass diese von zerstörerischen Absichten getrieben seien. Damit kontrastieren in der Wahrnehmung die jeweils eigenen Absichten, die man für gut, produktiv und menschenfreundlich hält. Der Vorwurf an die Gegenseite, von Bosheit getrieben zu sein und zerstören zu wollen, kommt in vielen Formen vor. Eine der häufigsten ist heute die Anklage des Hasses. Weitere Beispiele sind »Hetze«, »Faschisten«, »menschenverachtend«, »Demokratiefeinde«, »Verfassungsfeinde« und »die Masken fallen«. Sie alle wollen darauf hinaus, dass der Gegner insgeheim bösartige, zerstörerische Absichten verfolge.
In diesem Artikel argumentiere ich auf Basis des eingangs zitierten Buches von Baumeister, dass die Wahrnehmung des politischen Gegners als böse ein psychologischer Reflex ist, der das Denken verzerrt, die Kommunikation behindert und zur Eskalation der gegenseitigen Feindseligkeiten beiträgt. Indem wir uns diese Mechanismen bewusst machen, können wir ihnen besser widerstehen.
Man kennt die Identifikation des Gegners mit dem Bösen vielleicht eher von der Linken in Richtung der Rechten. »Gegen rechts« ist geläufig und erscheint selbstverständlich, »gegen links« gibt es nicht. Einer der Gründe dafür ist, dass die Rechte in assoziativer Nähe zum Nationalsozialismus steht, der als annähernd idealtypische Verwirklichung des Bösen gilt, während der Kommunismus trotz seines zahlenmäßig noch höheren Blutzolls als im Prinzip gute Idee im kollektiven Gedächtnis weiterlebt. Ein anderer ist die einfache Tatsache, dass Linke die Diskurshoheit haben und man dadurch mit ihren Äußerungen häufiger konfrontiert ist. Dennoch gibt es die Vorwürfe bösartiger, zerstörerischer Absichten auch in der Gegenrichtung. Linke werfen Rechten vor, Europa zerstören zu wollen, Rechte werfen Linken vor, Deutschland zerstören zu wollen. Linke werfen Rechten vor, von Hass auf Ausländer und andere Minderheiten motiviert zu sein, Rechte werfen Linken vor, von Hass auf ihre Kultur, ihr Land und sich selbst motiviert zu sein. Der Begriff »Faschisten« fliegt in beide Richtungen und behauptet relativ vage eine Absicht, mit Autorität und Gewalt die eigenen Werte durchzusetzen.
In diesen Auffassungen beider Seiten steckt ein Körnchen Wahrheit. Menschen haben zerstörerische Impulse, insbesondere, wenn sie wütend sind, was im emotional bedeutsamen Streit um Weltdeutungen oft der Fall ist. Und beide Seiten wollen tatsächlich selektiv Dinge zerstören oder freundlicher ausgedrückt: abbauen.
Rechte wollen zum Beispiel mehr oder weniger große Teile der EU-Strukturen abbauen, was man mit einer entsprechend undifferenzierten Wahrnehmung als »die EU zerstören« oder gar »Europa zerstören« deuten kann. Linke wollen zum Beispiel einen Teil der Normen und Traditionen abbauen, die mit Ehe und Familie verknüpft sind, was man mit einer entsprechend undifferenzierten Wahrnehmung als »Ehe und Familie zerstören« deuten kann. Zudem mag es auf der Rechten und der Linken extreme Randgruppen geben, die wirklich die EU bzw. Ehe und Familie restlos zerstören wollen und der Gegenseite damit gelegentlich Beweise für ihren Generalverdacht liefern. Autoritäre Ideen und die Denkfigur »Der Zweck heiligt die Mittel« gibt es ebenso auf beiden Seiten.
Doch wieso rückt man die potentiell destruktiven Elemente und Impulse des gegnerischen Lagers in den Mittelpunkt und verallgemeinert sie, als wären sie seine eigentliche Motivation und alles andere letztlich nur Tarnung dafür? Warum glaubt man den anderen nicht, dass sie das Gute, zu dem sie sich bekennen, aufrichtig für gut halten und wirklich wollen? Woher kommt dieses zwingende Gefühl, dass sie nichts Gutes im Schilde führen und, mit einem Wort, böse sind?
Meine Antwort lautet in Kürze: Es ist eine Erscheinungsform dessen, was Roy Baumeister in seinem Buch den »Mythos des reinen Bösen« nennt. Dies ist eine Wahrnehmungsgestalt, eine Vorstellung, die wir uns aufgrund eines psychologischen Reflexes vom Bösen bilden. Der Auslöser sind üblicherweise Handlungen, die uns unnötig zerstörerisch erscheinen. Es lohnt sich, einen näheren Blick auf diese Wahrnehmungsgestalt zu werfen. Sie ist stark fantasiegeladen, bestimmt aber wesentlich unser Handeln mit. Wie immer, wenn verzerrte Vorstellungen von der Realität das tun, ist das Ergebnis nicht unbedingt positiv – und nicht das, was man beabsichtigt hatte.
Das Böse und die Eskalation
Im politischen Streit spielt das Böse eine Doppelrolle. Es ist auf der einen Seite das, was wir verhindern wollen: weitere Eskalation, Gewalt, Grausamkeit, Mord, Bürgerkrieg und alles andere in dieser Richtung. Auf der anderen Seite trägt das Böse als Wahrnehmungsgestalt, als »Mythos des reinen Bösen« selbst zur Eskalation bei. Unsere Art, das Böse wahrzunehmen, ermöglicht und befeuert es.
Auf die Mitglieder streitender Gruppen mit verschiedenen Wertesystemen wirkt ein ständiger Sog, ihre Gegner als böse zu kategorisieren. Dies liegt viel mehr in unserer Natur als ein Bestreben, den Gegner oder den Ketzer zu verstehen. Wenn ein gewisses Spannungsniveau erreicht ist, müssen wir uns mit erheblicher Kraft gegen unsere Natur stemmen, um uns in ihn hineinzuversetzen. Seine Wahrnehmung als böse hingegen drängt sich unmittelbar auf. Wo sie sich verfestigt, verunmöglicht sie Empathie und Kommunikation und rechtfertigt unmenschliche Methoden. Das Böse darf man, nein, muss man unerbittlich bekämpfen.
Gegen Nazis wenden wir Nazi-Methoden an.
Philipp Ruch, »Zentrum für politische Schönheit«
Es erschiene geradezu verrückt, dem Bösen gegenüber fair und anständig sein zu wollen. Es machte einen vielleicht sogar zum Komplizen.
Gruppe A bekämpft also die als böse wahrgenommene Gruppe B unerbittlich, in dem Glauben, dem Guten zu dienen. Durch die unerbittlichen, vielleicht auch grausamen und unfairen Angriffe verfestigt sich bei Gruppe B das Bild von Gruppe A als böse. Beide handeln im Zuge des eskalierenden Kampfes bösartig gegen den Gegner und glauben dabei, das Böse zu bekämpfen. In dem Glauben, das Böse zu bekämpfen, bringen beide mehr davon in die Welt.
Die Banalität des Bösen
Für den Zweck seiner Untersuchung definiert Baumeister das Böse recht weit und locker als Handlungen mit der Absicht, andere zu schädigen. Auf dieser Basis trägt er Daten und Wissen über solche Handlungen aus vielfältigen Quellen und Kontexten zusammen. Dazu gehört das ganze Spektrum von gewöhnlichen Streitigkeiten über diverse Formen von Kriminalität bis hin zu extremen Kriegsverbrechen. Die Auswertung interessiert sich für Kontextbedingungen, Motivationen und Vorgeschichten der Taten sowie ihre Wahrnehmung und Deutung auf Seiten der Täter, Opfer und Beobachter.
Dabei tritt ein scharfer Kontrast zwischen der psychologischen Realität des Bösen und der Vorstellung zutage, die wir uns intuitiv vom Bösen bilden. Die psychologische Realität des Bösen ist banal, ganz im Sinn der Formel von der »Banalität des Bösen«, die Hannah Arendt in ihrem Buch über den Eichmann-Prozess in Jerusalem prägte. Aus der Nähe erschien der Verwalter des Holocaust nicht als der Dämon, den man aufgrund seiner genozidalen Rolle erwartet hätte:
Das Problem mit Eichmann war gerade, dass so viele so waren wie er, und dass die Vielen weder pervers noch sadistisch waren, dass sie vielmehr schrecklich und erschreckend normal waren und sind.
Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil (1963), meine Übersetzung
Mit demselben Erschrecken ringen Historiker und Psychologen immer von Neuem mit der Erkenntnis, dass Täter, die Kriegsverbrechen begehen, mehrheitlich normale Menschen mit normal funktionierender Psyche sind. Prominente Beispiele bzw. Darstellungen dieses Ringens sind neben Arendt auch das Milgram-Experiment sowie die Bücher »Ordinary Men«/»Ganz normale Männer« von Christopher Browning oder »Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden« von Harald Welzer. Die Erkenntnis der Normalität der Täter ist immer wieder schockierend und skandalös, weshalb sie den dramaturgischen Mittelpunkt beider Buchtitel bildet.
Dies liegt daran, dass es schwer bis unmöglich ist, diese Erkenntnis mit unseren intuitiven Erwartungen und moralischen Wertungen zu versöhnen. Wir erwarten zunächst, auf Ungeheuer zu stoßen, wenn wir uns die Literatur über die Täter eines Genozids oder andere Grausamkeiten vornehmen. Doch je genauer wir hinsehen und systematisch erklären, desto weniger lässt sich dieses Bild aufrechterhalten.
Einen Ablauf zu erklären heißt, eine möglichst geschlossene Kausalkette, also Kette von Ursachen von Wirkungen, zu ermitteln und darzustellen, die zu dem Ablauf geführt und ihn geformt haben. Doch je mehr Details in Kausalketten untergebracht sind, desto weniger Freiheit gibt es im entstehenden Bild; je weniger Freiheit, desto weniger Verantwortung; und je weniger Verantwortung, desto weniger kann man verurteilen. Jemanden, der keine Wahl hatte, kann man nicht verurteilen, und je genauer man hinsieht, desto mehr Faktoren werden sichtbar, die die Wahlfreiheit des Betreffenden eingeschränkt haben. Immer.
Wir wollen das Bild vom Ungeheuer aber nicht aufgeben, weil wir es brauchen, um Täter mit der gewünschten Eindeutigkeit verurteilen zu können. Das moralische Urteil ist wiederum nötig, um klarzustellen, dass die Regeln weiterhin in Kraft sind, die sie gebrochen haben, sowie um Distanz zwischen ihnen und uns zu schaffen. Wenn Täter »normale Menschen« sind, dann sind sie wie ich, dann bin ich wie sie, dann wäre ich wahrscheinlich auch imstande, das zu tun. Kein Wunder, dass wir diesen Gedanken lieber vermeiden.
In diesem Kontrast zwischen einem erklärenden und einem urteilenden Zugriff auf das Täterhandeln spiegelt sich der Kontrast zwischen dem Blick auf das eigene Handeln und dem Blick auf das Handeln anderer. Das eigene Handeln können wir besser erklären, das der anderen besser verurteilen. In Bezug auf uns selbst haben wir immer unsere Gründe vor Augen, die Zwänge, die auf uns wirken, und vielfältige Rechtfertigungen. Um Gründe und Rechtfertigungen sind Menschen selten verlegen. Zwänge sind ebenfalls immer wirksam und spürbar. Mit Verweis auf sie können wir uns weiterhin für im Grunde gut halten, auch wenn wir selbst wissen, dass wir gegen moralische Regeln verstoßen.
Ein bekanntes Zitat des SS-Chefs Heinrich Himmler treibt diesen Aspekt menschlicher Moralpsychologie auf die zynische Spitze:
Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.
Wikipedia
Da wir die eigenen Taten rechtfertigen und herunterspielen, sehen wir das Böse nicht, wenn wir es selbst verkörpern. So stellt es sich bei den Tätern in den Geschichtsbüchern dar, und durch die nähere Beschäftigung mit ihren Motiven können wir uns in sie hineinversetzen und zwischen einer Betrachtung in der ersten und der dritten Person wechseln.
Je mehr wir ihre Zwänge, Gründe und Rechtfertigungen in den Blick nehmen, desto stärker wächst ein Graubereich, wo vorher ein scharfer moralischer Kontrast zwischen der eigenen Normalität und dem diabolischen Täter-Universum war. Der moralische Kontrast beruht darauf, nicht die Gründe, Zwänge und Rechtfertigungen von Tätern vor Augen zu haben. Und dies ist der Regelfall, insbesondere dann, wenn wir Opfer sind, den Opfern nahe stehen oder uns aus anderen Gründen mit ihnen identifizieren. In unseren Köpfen formt sich deshalb die Vorstellung: Die Täter handeln böse, weil sie einfach böse sind.
Dies ist der »Mythos des reinen Bösen«. Er lebt bereits in uralten Sagen und natürlich Religionen, wo er von Teufeln und Dämonen verkörpert wird. Er formt sich immer wieder aufs Neue in den Köpfen von Verbrechensopfern und auf Seiten von Kriegsparteien mit Blick auf den Gegner. Geschichten und Erzählungen bis hin zu Hollywoodfilmen machen dieses fantasiegesättigte Bild des Bösen immer wieder sicht- und greifbar.
Im folgenden Abschnitt stelle ich die acht Merkmale des Mythos des reinen Bösen nach Baumeister vor. Im Anschluss skizziere ich kurz die banalere Realität des Bösen nach Baumeister. Im letzten Abschnitt geht es dann um den Stellenwert dieser Mechanismen des Bösen im »Culture War«, also im Kontext der Spannung zwischen Links und Rechts als einer prägenden sozialen Kraft unserer Zeit.
Der Mythos des reinen Bösen
Folgende Aufzählung von acht Bestandteilen des Mythos des reinen Bösen orientiert sich eng an der Darstellung Baumeisters.
- Erstens bedeutet das Böse die absichtliche Schädigung anderer Menschen.
- Zweitens ist dieses Handeln im Rahmen des Mythos primär von dem Wunsch motiviert, zu schädigen, weil dies dem Täter Vergnügen oder Befriedigung bereite.
Dies ist meist Fantasie. In Wirklichkeit ist es Menschen in der Regel eher unangenehm, andere zu schädigen, die ihnen nichts getan haben. Kriminelle nehmen es als notwendiges Übel in Kauf, ihren Opfern Leid zuzufügen, aber sie ziehen daraus keine Befriedigung, geschweige denn, dass es ihre Motivation wäre.
Diese Annahme, der Täter genieße sein böses Tun, hängt damit zusammen, dass aus Sicht des Opfers oft ein nachvollziehbares Motiv fehlt oder das Handeln exzessiv erscheint. Außerdem ermöglicht sie eine klare Verurteilung des Täters. Diese verliert sofort an Schärfe und Eindeutigkeit, sobald man den Gedanken zulässt, der Täter habe womöglich unter Zwang gehandelt und/oder nicht gerne getan, was er getan hat.
- Drittens ist das Opfer unschuldig und gut.
Dies ist mit dem eben genannten zweiten Aspekt verknüpft. Wenn der andere mir etwas angetan hat, weil er einfach böse ist, muss ich mich nicht fragen, ob ich einen Anteil an der Eskalation habe.
In Wirklichkeit entstehen Gewalttaten nicht immer, aber meistens aus einer Abfolge gegenseitiger Provokationen. Auch wenn es tatsächlich Unschuldige trifft, gehört zur Tat eine Vorgeschichte, die ein anderes Bild ergibt als ein schlichtes »der Täter ist böse«.
Der Mythos des reinen Bösen bringt auf der anderen Seite das Bild eines unbefleckten, heilig-unschuldigen Opfers mit, das wie jener ein Fantasieprodukt ist, welches vor allem psychischen Bedürfnissen dient. Heute profitieren mächtige soziale Bewegungen systematisch von der Tatsache, dass dem Bild des Opfers etwas Heiliges anhaftet.
Man kann häufig auf relativ unauffällige Weise den Mythos des reinen Bösen heraufbeschwören und damit einen Gegner dämonisieren, indem man schlicht die Vorgeschichte einer aggressiven Handlung verschweigt. Dann erscheint es so, als schlüge der Betreffende aus dem Nichts heraus um sich. Dass Medien gerne berichten, wie Trump angreift, und auslassen, wie er vorher angegriffen wurde, ist ein Beispiel dafür.
Wobei man hier die Henne-Ei-Frage stellen muss: Berichten sie in dieser Form, weil sie Trump als böse erscheinen lassen wollen oder weil sie Trump tatsächlich für böse halten und diese Form, zu berichten, daher als die natürliche und angemessene empfinden? Im verlinkten Artikel behaupte ich Letzteres.
- Viertens ist das Böse der Andere, der Feind, der Außenseiter, die Fremdgruppe.
Dies veranschaulicht der Filmschurke mit exotischem Akzent ebenso wie unsere Erwartung, Täter müssten dämonische Eigenschaften aufweisen. In Wirklichkeit sind Täter keine andere Kategorie von Lebewesen als man selbst, und Gewalttaten wie andere Bösartigkeiten geschehen zumindest in Friedenszeiten am häufigsten im sozialen Nahfeld, das mit Menschen bevölkert ist, die einem ähnlich sind.
- Fünftens ist das Böse zeit- und geschichtslos.
Die angenommene Geschichtslosigkeit des Bösen unterstützt seine Wahrnehmung als etwas, das wie aus einer anderen Welt ist, die einen unüberwindlichen Graben zwischen sich selbst und dem Bösen zieht. Wenn das Böse ewig ist, muss ich mir weniger Gedanken darüber machen, ob ich einmal böse werden könnte.
- Sechstens ist das Böse die Antithese zu Ordnung, Frieden und Stabilität.
Das Eindringen des Bösen ist eine Störung des normalen Laufs der Dinge. Das Böse bedeutet nicht nur Schaden, sondern auch Chaos und Irrationalität.
Batmans Joker ist hier eine gute Illustration. Vielleicht ist er deshalb ein so effektiver und beliebter Schurke, weil er idealtypisch den Mythos des reinen Bösen verkörpert. Er genießt es, Böses zu tun, er tötet Unschuldige, er kommt geschichtslos aus dem Nichts, er bildet einen grellen Kontrast zu aller Normalität und er steht für Chaos. Das Auftreten als Clown überzeichnet die Freude am Bösen und den Chaos-Aspekt zur Karikatur. Die Verhöhnung und Verachtung seiner Opfer ist schon in sein Erscheinungsbild eingebaut.
An verschiedenen Stellen hebt Baumeister Schädigung und Chaos als Kernelemente des Mythos des reinen Bösen hervor. Die eingangs angesprochene Intuition, der Gegner habe Zerstörung im Sinn, enthält beide. Man geht von der Vorstellung aus, dass die jeweils anderen in eine mehr oder weniger gute Normalität eindringen und sie ohne vernünftigen, nachvollziehbaren Grund zerstören wollen. (Bei Linken wäre diese gute Normalität etwa das multikulturelle Deutschland, bei Rechten das ethnisch oder kulturell homogene Deutschland.)
- Siebtens zeichnen sich böse Figuren oft durch Egoismus aus.
- Achtens haben böse Figuren oft Schwierigkeiten mit der Selbstbeherrschung, besonders in Bezug auf Zorn und Ärger.
Baumeister merkt an, dass die letzten beiden Punkte weniger zentral für den Mythos sind – und gleichzeitig mehr mit der Realität zu tun haben als die vorangehenden. Viele Gewalttaten geschehen aufgrund von empfundenen Kränkungen, Beleidigungen usw., sind also Verteidigungen des Egos, und viele geschehen aufgrund eines Verlusts der Selbstbeherrschung. Baumeister: »Diese Aspekte des Mythos mögen das Eindringen der Realität in eine psychologische Fabrikation widerspiegeln.«
Vier Quellen des Bösen
Bei obiger Aufzählung habe ich schon gelegentlich angedeutet, wo der Mythos des reinen Bösen von der Realität des Bösen abweicht. Um den Kontrast weiter zu schärfen, stelle ich im Folgenden die vier Quellen des Bösen dar, die Baumeister im Zuge seiner Recherche identifiziert hat. Dies sind Instrumentalität, verletzter Egoismus, moralischer Idealismus und schließlich Sadismus.
Mit Instrumentalität ist gemeint, dass Menschen zu bösen Mitteln greifen, um etwas zu erlangen, das an sich nicht böse ist. Ich will Geld verdienen (nicht böse) und sehe dazu für mich keinen anderen Weg als Kriminalität (böse). Wenn ich nun jemanden ausraube, dann tue ich das nicht, weil ich Spaß daran hätte, ihm Leid zuzufügen. Wenn ich die Wahl hätte, täte ich es nicht. Es gibt Ausnahmen, aber dies ist die Regel.
In diesem Zusammenhang verweist Baumeister darauf, dass böse, also schädigende Taten für Opfer systematisch schwerwiegender und bedeutsamer sind als für Täter. Ein Dieb kann gestohlene Gegenstände meist nur unter ihrem materiellen Wert verkaufen, von ihrem ideellen Wert für den ehemaligen Besitzer hat er gar nichts. Eine Sexualstraftat verschafft dem Täter nur mittelmäßige und flüchtige Befriedigung, belastet das Opfer aber für Jahre, wenn nicht für immer. Der Schaden ist für das Opfer ungleich größer als der Nutzen für den Täter. Dies trägt dazu bei, dass Opfer die Taten als exzessiv wahrnehmen und sie sich somit nicht anders erklären können als durch die Annahme, der Täter sei einfach böse. Täter hingegen haben ihre Rechtfertigungen und viele Argumente dafür, dass sie doch eigentlich gute Menschen seien und diese eine Tat alles in allem keine so große Sache sei. Opfer sehen schwarzweiß, Täter sehen große Grauzonen.
Die Kategorie »verletztes Ego« umfasst Gewalttaten und sonstige feindselige Handlungen, die aufgrund von Kränkungen, Beleidigungen und ähnlichem enstehen. Hierhin gehört das Gros der Alltags- und Beziehungsgewalt. Und hier wären auch die Fälle einzuordnen, in denen tatsächlich eine Absicht des Schädigens um des Schädigens willen besteht. Nur begründet sich diese Absicht nicht wie im Mythos dadurch, dass der Täter einfach böse wäre. Vielmehr ist es aus seiner Sicht so, dass er vorher selbst angegriffen und verletzt wurde. Einer Vergeltungshandlung liegt das Bestreben zugrunde, das schmeichelhafte Selbstbild zu verteidigen, das der andere angegriffen hat, und so gewissermaßen Gerechtigkeit herzustellen.
Baumeister wendet sich hier gegen die populäre Auffassung, Gewalt gehe vorrangig von Menschen mit niedrigem Selbstwertgefühl aus. Ihm zufolge sind es vielmehr Menschen mit hohem, aber fragilem Selbstwertgefühl – solche, die sich eher überschätzen und sich deshalb häufig gekränkt fühlen, wenn sie glauben, die Welt behandle sie nicht mit dem Respekt, den sie verdienen.
Die dritte Kategorie, der moralische Idealismus, ist im Zusammenhang mit Politik und Kulturkampf die interessanteste und neben der eben genannten die gefährlichste. Hier ist die schädigende Tat aus Sicht des Täters dadurch gerechtfertigt, dass sie einem guten höheren Zweck diene. Überzeugungstäter sind imstande, Brutalität und Grausamkeit als außerordentlich gute Taten anzusehen. Obiges Himmler-Zitat veranschaulicht dies. Er entschuldigt sich und seine Männer über Tausenden Leichen stehend nicht für mangelnde Moral, sondern er rühmt sich und seine Männer für ihre herausragende Moral. Hierauf komme ich gleich zurück.
Die vierte Kategorie Sadismus umfasst schließlich die Fälle, in denen es Menschen tatsächlich zu genießen scheinen, anderen Leid zuzufügen. Für den Mythos ist dies zentral, doch Baumeister kommt zu dem Schluss, dass es in der Realität ein eher seltenes Motiv ist. Es gibt Serienmörder, die das Leid ihrer Opfer anscheinend genießen, und es gibt Gewaltexzesse in Kriegen, im Zusammenhang mit Folter und in den Kämpfen unter Straßengangs, die darauf schließen lassen, dass Täter in eine Art Blutrausch geraten. Es gibt Lustmörder, die als Soldaten in Vietnam waren und derartige Befriedigung aus dem Töten gezogen haben, dass sie es in der Heimat fortsetzten. Für manche Täter ist Gewalt anscheinend eine Art Sucht.
Doch diese Fälle sind nicht die Regel. Die Täterforschung zeigt, dass sich normale Menschen unter geeigneten Umständen ohne große Mühe zu Tätern machen lassen, aber auch, dass die meisten eher widerwillig mitziehen als mit Freude. Die Literatur berichtet einhellig von psychischen Problemen unter Soldaten, die an Massenerschießungen teilgenommen haben. Dazu gehören Albträume, Stresssymptome, Übelkeit und posttraumatische Belastungsstörungen. In der Schlacht schießen einige Soldaten absichtlich daneben, obwohl der Gegner ebenfalls versucht, sie zu töten. Vielfältige Belege zeigen, dass es eine tief verankerte Hemmung und Abscheu gegen die Gewaltausübung an anderen Menschen gibt.
Andererseits ist in Kriegen immer wieder zu beobachten, dass Soldaten eine Art Spiel aus dem Töten machen. Daraus könnte man naheliegend auf Sadismus schließen. Baumeister vertritt dagegen den Standpunkt, dass dieses Spielerische vielmehr einen Versuch darstellt, unerträgliche Aufgaben erträglicher zu machen. Dafür spricht, dass Soldaten, wenn sie sich wie das von Browning untersuchte Polizeibatallion allmählich an ihre mörderischen Aufgaben gewöhnen, nicht anfangen, das Töten zu genießen, sondern es vielmehr mit einer zunehmend kalten Professionalität tun. Sie erfreuen sich nicht am Leid der Opfer, sondern sie blenden es aus.
Das Böse als Antithese heiliger Werte
Der Mythos des reinen Bösen wird als Wahrnehmung aktiviert, wenn einem das Handeln anderer erstens zerstörerisch und zweitens nicht rational nachvollziehbar erscheint. Das alltäglichste Szenario, in dem das geschieht, sieht so aus, dass jemand gewalttätig handelt und einem Beobachter der Kontext nicht bekannt ist. Die Tat kommt wie aus dem Nichts. Ergo muss der Täter böse sein.
Doch das Schema stellt sich auch ein, wenn jemand heilige Werte verletzt. Das Konzept der heiligen Werte habe ich anhand der Arbeit des Psychologen Jonathan Haidt hier genauer erklärt. Es verweist auf einen wichtigen Mechanismus der menschlichen Gruppenbindung und zugleich der menschlichen Religiosität.
Menschliche Gemeinschaften formieren sich um heilige Werte herum. Wie große Magnetfelder ermöglichen diese einer Vielzahl von Menschen ein kooperatives und friedliches Miteinander, indem sie in gewissem Umfang ihr Verhalten, ihr Empfinden, ihre Wahrnehmung und ihr Denken synchronisieren.
Das Paradebeispiel für heilige Werte sind religiöse Werte. Doch es gibt auch säkulare heilige Werte, etwa Gleichheit, Freiheit, Demokratie, Heimat oder Umweltschutz. Keines dieser Konzepte ist an sich oder zwangsläufig ein heiliger Wert. Man kann sie rational begreifen oder sakralisieren, also heilig machen.
Der Hauptunterschied zwischen irgendeinem Wert und einem heiligen Wert ist, dass Letzterer zu einer absoluten Größe und unantastbar wird. Übereinstimmend heben Haidt und Baumeister dies hervor. Heilige Werte sperren sich gegen Kompromisse oder Abwägung mit anderen Werten sowie gegen Kosten-Nutzen-Rechnungen. Ich brachte dafür im verlinkten Text das Beispiel, dass Judas‹ Verrat immer noch Verrat wäre, wenn er mehr als 30 Silbertaler dafür bekommen hätte. Es ist keine Frage des Preises, sondern eine grundsätzliche, bei der es keine Grautöne und Mittelwege gibt. Baumeister illustriert es ähnlich:
Sie können dem Teufel nicht Ihre halbe Seele verkaufen.
Wir empfinden schon die Idee als Sakrileg, sich einem heiligen Wert mit einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu nähern. Genauso funktioniert es bei säkularen heiligen Werten. Können wir nicht ein bisschen Diskriminierung zulassen? Können wir nicht ein bisschen die Demokratie abbauen? In den meisten sozialen Kreisen wären das unmögliche Standpunkte, obwohl in der Realität überhaupt nicht scharf zu definieren ist, was diskriminierend oder demokratisch ist. Sofern Diskriminierung und Demokratieabbau stattfinden, müssen Befürworter solche Vorgänge anders interpretieren, um einer Kollision mit den heiligen Werten Gleichheit und Demokratie auszuweichen. Man kann sich nicht offen gegen sie stellen und man kann sie nicht relativieren.
Mit der Verabsolutierung heiliger Werte geht eine Verzerrung der Wahrnehmung und des Denkens einher. Alles, was den heiligen Wert verkörpert, muss rein sein, und alles, was ihn angreift oder in Zweifel zieht, muss schlecht oder böse sein. Da die Wirklichkeit aber nicht so fein säuberlich in Gut und Böse sortiert, sondern komplex und widersprüchlich ist, muss man vieles ausblenden und anderes überbetonen, um das schlichte Gut-und-Böse-Denken aufrechtzuerhalten. Haidt beschreibt die Effekte partieller Blindheit mit der Metapher des Magnetfelds, auf die ich oben schon zurückgegriffen habe. Alle Eisenspäne richten sich entlang den Feldlinien zwischen den zwei Polen aus. Wahrnehmungen und Äußerungen, die diesem Wahrnehmungsschema widersprechen, werden als empörend und skandalös empfunden. Sie rufen wütende Abwehrreaktionen hervor. Wenn der Normverletzer nicht einlenkt und sich auf die eine oder andere Art den heiligen Werten unterwirft, wird er in letzter Konsequenz aus der Gruppe verbannt oder gar vernichtet.
Dieser Mechanismus ist dafür verantwortlich, dass so leicht der Mythos des reinen Bösen in weltanschauliche Streitigkeiten eindringt. Politische Lager und Parteien sind moralische Gemeinschaften. Ihre Mitglieder haben einen Satz heiliger Werte verinnerlicht. Je mehr sie sie verinnerlicht haben und durch ihre sozialen Kontakte täglich darin bestätigt werden, desto mehr empfinden sie diese Werte als selbstverständlich und alternativlos, und desto weniger können sie sich vorstellen, dass ein vernünftiger Mensch, der guten Willens ist, sich im Widerspruch zu diesen heiligen Werten befinden könnte. Es ist zugleich eine konditionierte Gefühlsreaktion und eine von diesem Standpunkt aus logische Schlussfolgerung: Wer das Heiligste angreift, muss böse sein.
Doch die Zahl der Fälle, in denen solche extremen Feindbilder zutreffen, dürfte gegen Null gehen. In der Regel will niemand primär zerstören oder handelt vorwiegend aus Menschenfeindlichkeit oder Hass. Sowohl Rechte als auch Linke wollen lebenswerte Lebensbedingungen für Menschen. Sie haben nur unterschiedliche Vorstellungen davon, wie solche Lebensbedingungen idealerweise aussähen und welche Mittel geeignet sind, sie herzustellen.
Wir gegen die, Gut gegen Böse – der Teufelskreis der Polarisierung
Unser Missverständnis des Bösen folgt aus einer verzerrenden Wahrnehmung des Anderen und einer verzerrenden Wahrnehmung von uns selbst, die miteinander Hand in Hand gehen. Wenn wir einen Übeltäter als böse abhaken, müssen wir uns nicht mehr fragen, ob wir selbst auch zu Taten wie seinen fähig wären. Der Mythos des reinen Bösen verführt zu Selbstgerechtigkeit. Beide Wahrnehmungsverzerrungen begünstigen die Entstehung weiterer bösartiger Handlungen. Da ich den Gegner für das Böse halte, habe ich keinen Grund, ihm gegenüber anständig oder zurückhaltend zu sein. Je gläubiger ich bin, desto mehr glaube ich mich vielleicht sogar verpflichtet, so skrupellos zu sein wie möglich. Das Böse muss vernichtet werden. Und da ich im Einklang mit den Wertungen meiner moralischen Gemeinschaft handle, bin ich blind für die Tatsache, dass ich selbst durch meine aggressiven Handlungen und meine Vernichtungswut mehr und mehr das verkörpere, was nach allgemein übereinstimmender Auffassung böse ist.
Was man gegen solche Teufelskreise der Eskalation tun kann, scheint recht klar:
- der Versuchung widerstehen, den Gegner als böse zu kategorisieren. Er ist in der Regel nicht besser oder böser als man selbst. Stattdessen versuchen, die Dinge von seinem Standpunkt aus zu sehen und zu verstehen, warum er glaubt, was er glaubt.
- der Versuchung widerstehen, sich selbst Lizenzen auszustellen, die man anderen nicht auch ausstellen würde. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Sich klarmachen, dass die eigenen Mittel ebenso definieren, wer man ist, wie die Zwecke, die man damit angeblich verfolgt.
Ausblick: Was fehlt
Zweifellos ist der Kulturkampf unserer Tage zu wesentlichen Teilen eine Konfrontation von moralischen Gemeinschaften mit verschiedenen heiligen Werten, und zweifellos erzeugen diese Konfrontationen böses Blut und Zerrbilder von Akteuren, die wiederum Kommunikation erschweren und Eskalation begünstigen.
Dabei ist jedoch auch noch ein anderer Aspekt im Spiel, den ich hier nur gestreift habe: Baumeisters zweite Kategorie, verletzter Egoismus als Motivator feindseliger Handlungen. Hier geht es um Dinge wie verletzten Stolz, Kränkung, Selbstwertgefühl und Narzissmus. Häufig ist zu beobachten, dass Akteure sich stark mit ihren Theorien oder Glaubenssystemen identifizieren und daher eine Kritik an ihnen als Angriff auf ihre Identität wahrnehmen. Das ist eine verheerende Entwicklung, die uns kritik- und dialogunfähig macht. Die Identitätspolitik forciert diesen Trend, indem sie ihre Anhänger darauf trainiert, überempfindlich zu sein (»Microaggressions«, Triggerwarnungen), und indem sie davon ausgeht, als müssten alle Frauen, alle Schwulen, alle Transsexuellen etc. letztlich denselben Standpunkt vertreten, den umgekehrt nur sie vertreten können. Nur so ist die Forderung nach »Repräsentation« plausibel. Dies aber bedeutet, dass Standpunkte mechanisch aus Identität folgen. Ich kann also in diesem Rahmen deinen Standpunkt nicht kritisieren, ohne deine Identität anzugreifen.
Ich finde es jedenfalls häufig schwer zu unterscheiden, ob die zu beobachtende Wut und Irrationalität aus verletzten heiligen Werten oder aus verletzten Egos resultiert, und die Beziehung zwischen beiden ist mir noch nicht klar. Ich werde diesbezüglich weiter nachdenken und recherchieren und entsprechend darauf zurückkommen.
Als letzter Punkt ist festzuhalten, dass es durchaus destruktive Impulse im Sinne einer blinden Zerstörungswut und Böswilligkeit gegen andere Menschen gibt. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch eine gewisse Menge davon in sich trägt, die bei manchen größer und bei anderen kleiner ist, abhängig davon, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sind. Doch diese Destruktivität führt in der Regel ein halb unterdrücktes Schattendasein am Rand des Seelenlebens und ist weit davon entfernt, die Hauptmotivation des Betreffenden zu sein, wie der Mythos des reinen Bösen es nahelegen würde. Auch dies werde ich zu einem anderen Zeitpunkt vertiefen.