Für den hier angekündigten Artikel über das Verhältnis von Links und Rechts zu Gut und Böse beschäftige ich mich gerade mit dem interessanten Buch »Evil: Inside Human Violence and Cruelty« (»Vom Bösen: Warum es menschliche Grausamkeit gibt«) von dem Sozialpsychologen Roy Baumeister. Aus dem Artikel werden wahrscheinlich mehrere und ich brauche noch Zeit dafür. (Nachtrag: der erste ist »Warum wir ideologische Gegner als bösartig wahrnehmen«.) In der Zwischenzeit brachte ein Abschnitt aus besagtem Buch mir eine Beobachtung wieder stärker zu Bewusstsein, die ich schon öfter angestellt hatte und im Folgenden nachzeichne.
Es geht um die Beobachtung, dass wir nicht nur schlecht darin sind, in Kausalitäten zu denken, also in Ursachen und Wirkungen, sondern dass wir es bei moralisierten oder sakralisierten Themen anscheinend gar nicht ernsthaft versuchen. Das ist paradox, denn wenn wir Ziele verfolgen, die uns heilig sind, sollten wir uns besonders vergewissern wollen, dass unsere Mittel geeignet sind, die Ziele zu erreichen. Doch das scheint nicht der Fall zu sein. Im Gegenteil zeigen wir ein auffälliges Desinteresse bis hin zu aktiver Abneigung gegen eine Kritik der Mittel.
Baumeister erzählt die Geschichte der nordkoreanischen Agentin Kim Hyon-hui, die im Jahr 1987 eine Bombe an Bord eines südkoreanischen Passagierflugzeugs platzierte und damit 115 Menschen tötete. Hinsichtlich der Natur des Bösen sind hier eine ganze Reihe von Aspekten interessant. Einer der hervorstechenden ist, dass Täter sich selbst praktisch nie als böse sehen. Darauf gehe ich in späteren Texten genauer ein, in denen ich die Kernaussagen von Baumeisters Buch wiedergeben werde.
Magisches Denken in der Politik – ein Extrembeispiel
Bei der Lektüre des Abschnitts über Kim Hyon-hui stach mir jedoch noch etwas anderes ins Auge: die unplausible Strategie, die Nordkorea mit dem Terroranschlag verfolgte, in Verbindung mit der Tatsache, dass Kim diese Strategie nicht in Frage stellte. Es scheint mir drastisch einen Aspekt der menschlichen Psyche zu illustrieren, der in der Moderne dauerhaft Ärger und Chaos stiftet: die Neigung zu magischem Denken gerade dort, wo heilige Werte im Spiel sind. Ich benutze den Begriff »magisches Denken« in seinem konventionellen Sinn: ein Denken auf Basis der Annahme, dass sich durch menschliches Wollen die Wirklichkeit beeinflussen lasse.
Dies werde ich weiter unten erläutern. Hier erst einmal der von mir übersetzte Ausschnitt aus dem Buch.
Einer der größten Tage ihres Lebens kam, als sie in das Hauptquartier des nationalen Auslandsgeheimdienstes einberufen wurde. Der Direktor übertrug ihr eine Mission, von der er sagte, dass sie auf handgeschriebenen Befehlen des Lieben Führers selbst beruhte, was überragende Wichtigkeit anzeigte. Tatsächlich, so der Direktor, war dies wahrscheinlich die wichtigste Mission, die der Auslandsgeheimdienst je unternommen hatte. Sie würde »unser ganzes Schicksal als Nation« entscheiden. Sie und ihr männlicher Genosse sollten ein südkoreanisches Flugzeug zerstören. Der Direktor erklärte, dass dies eine Stimmung des Chaos und der Ungewissheit erzeugen würde, was zur Absage der geplanten Olympischen Spiele 1988 in Südkorea führen würde. Dies wiederum würde zur Wiedervereinigung Koreas führen, was »das große Ziel unserer Generation« sei. Wenn sie Erfolg hätte, würde sie zur Nationalheldin werden. Sie könnte zu ihrer Familie zurückkehren und sich »in jedem Luxus, den die Partei bieten konnte«, zur Ruhe setzen. Sie schrieb später, dass sie nie genau verstand, auf welche Weise die Sprengung eines Flugzeugs voller Touristen zur Wiedervereinigung führen sollte, doch sie stellte den Direktor nicht in Frage, noch nicht einmal in ihrem eigenen Geist. Sie wusste, dass es in der Politik vieles gab, was sie nicht verstand, und sie hatte Vertrauen in ihre nationalen Führungspersonen und Vorgesetzten.
Die junge Frau wurde von Gefühlen ergriffen: Ehrfurcht, Angst, Dankbarkeit, Verantwortung, Patriotismus. …
… ihr terroristischer Akt war von den höchsten Idealen und Prinzipien motiviert. Es war kein spontaner Ausdruck des Hasses gegen ihre Opfer, obwohl sie pflichtbewusst gelernt hatte, Menschen aus nichtkommunistischen Ländern als Feinde zu betrachten. Sie war nicht auf persönliche Bereicherung aus, obwohl ihr Belohnungen versprochen worden waren. Ihr Hauptanliegen war, ihrem Land zu dienen. Sie liebte ihr Land, sie vertraute seiner Führung und ihren Vorgesetzten, und sie glaubte aufrichtig, dass ihre Mission helfen würde, eine triumphale Wiedervereinigung Koreas herbeizuführen, auf eine Art, die sie nicht genau verstand. Im Rückblick begang sie eine schreckliche, sinnlose Grausamkeit, aber zur Zeit des Geschehens dachte sie, sie tue etwas Gutes: nicht nur etwas Akzeptables und Vertretbares, sondern etwas entschieden und eindeutig Gutes. Wie wir sehen werden, werden viele böse Taten von Menschen verübt, die glauben, etwas im höchsten Maß Gutes zu tun.
Wie gesagt, man kann hieran vieles aufzeigen und diskutieren. Was mir aber ins Auge stach und worauf ich hier hinauswill, ist, dass sie gar nicht versteht, wie ihre Mission das angestrebte Ziel herbeiführen soll, aber auch kein großes Bedürfnis zeigt, es zu verstehen, obwohl es sich um eine so extreme, alles verändernde Tat handelt.
Ich bringe mehr als hundert Menschen um, und dabei ist es okay für mich, dass ich gar nicht so genau weiß, warum?
Doch man muss feiner differenzieren. In gewissem Sinn weiß sie durchaus, warum. Weil der Dienst an ihrem Land es erfordert. Weil es Teil einer Strategie ist, die die kluge Führung ihres Landes entschieden hat. Weil es ihre Aufgabe und ihre Verantwortung ist, ihren Dienst so treu und so gut zu verrichten wie möglich. Weil die Wiedervereinigung das höchste Ziel ist.
Sie weiß, was das Ziel der Mission ist. In diesem Sinn, weiß sie, warum sie es tut. Was sie nicht weiß ist, wie die gewählten Mittel dieses Ziel erreichen sollen. Und es beunruhigt sie nicht, dies nicht zu wissen.
Wie soll das funktionieren?
Das erinnert mich an mehrere prominente Erzählungen in der heutigen Politik, die alle um heilige Werte kreisen, was vermutlich kein Zufall ist. Bei all diesen Erzählungen müsste man sich eigentlich fragen: wie soll das eigentlich funktionieren? Aber man tut es nicht.
Die Energiewende. Wann werden die Erneuerbaren technisch ausgereift und wirtschaftlich sein, wenn überhaupt? Wie sieht die Ökobilanz eines E‑Autos, einer Windfarm, einer Batterie Solarzellen aus, wenn man ihre Produktion, Entsorgung und Nebeneffekte wie das Schreddern von Vögeln und Insekten einbezieht? Wie können drastische Maßnahmen in Deutschland, das nur knapp über zwei Prozent zum globalen CO2-Ausstoß beiträgt, jemals so wichtig sein, wie Klimaaktivisten behaupten? Was ist, wenn die Erneuerbaren nicht reichen und Deutschland Strom aus dem Ausland importieren muss, der schmutziger produziert wurde als er mit deutschen Kohle- oder Atomkraftwerken produziert worden wäre?
Der Kampf gegen Rechts. Wenn man sich die Publikationen beispielsweise der Amadeu-Antonio-Stiftung oder Veranstaltungen wie die wirsindmehr-Konzerte anschaut, dann ist glasklar, dass es sich um Produktionen von Linken für Linke handelt. Durch welchen Mechanismus soll dies einem Wachstum des rechten Lagers entgegenwirken? Lässt sich davon irgend ein Mensch erreichen, der rechts ist oder mit rechts sympathisiert? Mindestens genauso wahrscheinlich ist, dass ihn die Rigorosität der Feinderklärung noch radikalisiert oder zumindest gleichermaßen auf seinem Standpunkt beharren lässt. Werden sich nach rechts neigende Chemnitzer davon beeindrucken lassen, dass man Herbert Grönemeyer einfliegt, einen im Wesentlichen unpolitischen Künstler, der seit Jahrzehnten als Millionär in London lebt? Einschlägig ist hier auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Zensurbestrebungen verschiedenster Art und dem Streisand-Effekt sowie allgemein das Stichwort Reaktanz.
Open Borders. Die Parteinahme für eine großzügige Migrationspolitik begründet sich durch Mitgefühl und die moralische Pflicht zum Helfen gegenüber den Migranten. Doch schon viele Einheimische, die eine einheimische Schulbildung genossen haben, finden keine existenzsichernde und halbwegs erfüllende Arbeit. Gleichzeitig lässt die Einwanderung die Rechte erstarken und verschärft die innergesellschaftlichen Spannungen. Immer wieder ist zu hören, dass die Schleuser und Schlepper in Nordafrika Migranten mit erfundenen Versprechungen über ein Luxusleben ködern, das in Europa auf sie warte. Tut man nun den Migranten einen Gefallen, wenn man zulässt, dass sie in dieser Erwartung ihr letztes Geld für die Schlepper ausgeben und dann in einer ärmlichen und perspektivlosen sozialen Lage in Europa gestrandet sind? Durch welchen Wirkmechanismus soll die Aufnahme von möglichst vielen Migranten gegen den Willen eines wachsenden Teils der einheimischen Bevölkerung zu einem guten Leben für diese Migranten führen?
Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich behaupte ich keine moralische Äquivalenz zwischen der nordkoreanischen Agentin und denjenigen, die sich für diese drei Anliegen einsetzen. Jene hat viele Menschen getötet, diese haben nichts dergleichen, und die Absichten hinter diesen Anliegen sind an sich gut, menschenfreundlich und ehrenhaft.
Auch behaupte ich nicht, zu wissen, dass der betreffende Aktivismus mehr schadet als nützt oder dass die kontraproduktiven Wirkungen, deren Möglichkeit ich angedeutet habe, wirklich eintreten. Es handelt sich um komplexe Fragen und man könnte umfangreich und überzeugend für beide Seiten argumentieren.
Es geht mir einzig darum, dass in der öffentlichen Diskussion und vor allem von denen, die sich die jeweiligen Anliegen auf die Fahnen geschrieben haben, die Frage nach dem Wirkmechanismus kaum je ernsthaft gestellt wird. Ich behaupte nicht, die wahren Mechanismen umfassend zu kennen. Ich wundere mich vielmehr darüber, dass wir über die real gegebenen Wirkmechanismen wenig bis überhaupt nicht reden.
Dies ist die Parallele zum Fall der Agentin, auf die ich hinaus will. Dass sie einen Massenmord begangen hat, macht ihr Beispiel zu einem Extremfall, was sie von Aktivisten kategorisch unterscheidet, aber zugleich den entscheidenden Punkt klarer erkennbar macht.
Selbst bei einer Tat, wie sie kaum extremer sein könnte, war es kein Problem für sie, die Frage nach der Kausalität, nach dem Wirkmechanismus zu ignorieren, durch den ihre Tat zum Ziel führen sollte. Ich tue etwas außergewöhnlich und unzweifelhaft Gutes, so sinngemäß ihr Denken, da bin ich sicher, auch wenn ich gar nicht weiß, wie das überhaupt funktionieren soll.
Mir ist klar, dass Aktivisten in der Lage sein werden, irgendwelche Wirkmechanismen zu benennen, wenn man sie zur Rede stellte. Aber das ist fadenscheinig. Menschen sind immer in der Lage, ihre gefühlten Wahrheiten zu rationalisieren. Das ist kein Ausdruck eines echten Nachdenkens über das Problem, sondern eine Maßnahme zur Gesichtswahrung und Aufrechterhaltung des Anscheins der Rationalität, auch in den eigenen Augen.
Aktive Vermeidung einer Kritik der Mittel
Anscheinend gibt es eine gewisse Unverträglichkeit zwischen Moralisierung oder Sakralisierung und dem Denken in Ursachen und Wirkungen. Menschen lassen sich von der empfundenen moralischen Qualität ihrer Ziele blenden, so dass sie unwillkürlich glauben, der Wille, diesem guten Ziel zu dienen, sei Gewähr genug für die Eignung der gewählten Mittel. Eine Gefühlslogik, die besagt: Wenn ich das Gute will und im Einklang mit diesem Willen handle, dann bewirke ich auch das Gute. Das ist magisches Denken.
Eigentlich müssten gerade diejenigen, denen ein Anliegen wie der Kampf gegen Rechts sehr wichtig ist, besonders kritisch danach fragen, ob die eingesetzten Mittel wirksam sind. Es spricht einiges dafür, dass sie auch kontraproduktiv sein können. Müsste ein engagierter Kämpfer gegen Rechts also nicht um jeden Preis ausschließen wollen, dass er versehentlich die Rechte stärker macht? Und müsste er nicht dazu einen extra strengen Blick auf die im Kampf gegen Rechts eingesetzten Mittel werfen?
Stattdessen passiert etwas ganz anderes und Gegenteiliges. Wenn ich wie oben die Vorgehensweisen von Klima‑, Gegen-Rechts- und Migrationsaktivisten in Zweifel ziehe, springt der moralische Elektromagnet an und ich gerate in den Verdacht, ein Feind oder Verräter zu sein. Du zweifelst an der Energiewende – bist du etwa ein Klimaleugner? Du zweifelst am Kampf gegen Rechts – bist du etwa rechts? Du zweifelst an den Möglichkeiten der Integration – hast du etwas gegen Ausländer?
Anstatt sich durch rigorose Kritik zu vergewissern, dass die eingesetzten Mittel geeignet sind, die heiligen Ziele zu erreichen, wird Kritik aktiv unterdrückt. Dadurch bleibt auch die Möglichkeit zur Vergewisserung über die Mittel auf der Strecke. Eine Paradoxie. Die Ziele sind heilig, und deshalb nimmt man in Kauf, dass die Arbeit an ihrer Verwirklichung wirkungslos oder kontraproduktiv ist.
Eine offensichtliche Erklärung dafür ist, dass Kritik an den Mitteln unweigerlich in einen Zielkonflikt führt. Wenn jemand zeigen kann, dass die Mittel einer Initiative gegen Rechts ganz oder teilweise ungeeignet sind, dann geht das auf Kosten der Legitimität dieser Initiative. Sie verliert Autorität und womöglich auch Fördermittel. Wer ihren Kampf für wichtig hält, wird das nicht wollen. Wer dagegen rechts ist, wird es begrüßen. Daher ist der Verdacht nicht abwegig, Mittelkritik sei in Wahrheit durch die Absicht motiviert, der Initiative zu schaden.
Daraus aber folgt eine intuitive Gleichsetzung von moralischem Charakter mit blindem Glauben. Niemand will inmitten eines moralisch legitimierten Aktivismus in den Verdacht geraten, ein Verräter zu sein. Für den einzelnen ist es rational und opportun, unbeirrt mitzumachen, auch wenn die verfolgten Strategien kontraproduktiv sind. Kritik zu äußern ist dagegen eine unattraktive Option. Man riskiert, in Ungnade zu fallen, und die Chance, dass aufgrund geäußerter Kritik die ganze Maschinerie ihre Verfahrensweise ändert, ist gering.
Man kann es auch so sagen: Die Kosten kontraproduktiven Aktivismus‹ verteilen sich auf alle; die Kosten meines Ausschlusses aus der Herde trage ich allein.
Glaubenskrieger im Selbstmissverständnis
Auf einer tieferen Ebene ist diese Abkopplung des moralisch begründeten Handelns vom Denken in Kausalitäten auch aus evolutionsbiologischer Sicht plausibel. Kausalität im wissenschaftlichen Sinn ist eine historisch sehr junger Idee; voll ausgeprägt entsteht sie erst in der Moderne. Ich meine die Vorstellung, dass die Elemente der Wirklichkeit in gesetzmäßiger Weise aufeinander wirken und dass diese Gesetzmäßigkeiten unabhängig davon sind, was Menschen wollen, wünschen und fürchten.
Über die annähernd gesamte Dauer der bisherigen Evolutionsgeschichte war dies nicht die Art und Weise, wie Menschen die Wirklichkeit erlebt haben. Dieses Kausalitätsdenken stand ihnen über Jahrtausende nicht zur Verfügung. In Anbetracht dessen, wie selbstverständlich es uns heute erscheint, ist erstaunlich, wie spät erst es entstanden ist.
Stattdessen erschien die Welt die längste Zeit über primär als eine Arena von Akteuren mit Absichten inmitten einer Natur, die sich belohnend oder bestrafend verhält, sanft oder wütend, gnadenlos oder vergebend, je nach Laune und Karma. Die Überlebensstrategie der Menschen war nicht, die Mechanismen der Kausalität zu verstehen und zu manipulieren, die ihre Welt unbemerkt und indifferent regierten. Ihre Strategie war, sich zu Glaubensgemeinschaften zusammenzuschließen, bis in den Tod zusammenzuhalten und Feinde zu bekämpfen. Unsere Natur drängt uns weiterhin mit Macht dazu, dies zu tun, aber wir machen uns das nicht klar.
Hinzu kommt, dass die Komplexität der menschlichen Wirklichkeit in der Moderne rapide und exponentiell zugenommen hat. Der Fall der nordkoreanischen Agentin und auch meine drei Beispiele kreisen um Versuche, im Zusammenhang komplexer sozialer Systeme das Verhalten von Menschen vorherzusagen und zu manipulieren. In Zeiten relativ simpler, naturnaher Stammesgesellschaften stellten sich keine Probleme auf diesem Komplexitätsniveau.
Komplexe Gesellschaften sind der Paradefall komplexer Systeme und der allererste Geschehensbereich der Wirklichkeit, in dem steuernde Eingriffe unbeabsichtigte Folgen zeitigen. Nein, daraus soll man nicht schlussfolgern, dass alles vergeblich ist. Aber dass man hochkomplexe Zusammenhänge so behandelt, als wären ihre Kausalitäten eine simple und offensichtliche Selbstverständlichkeit, ist Ausdruck einer gigantischen Selbsttäuschung infolge der Tatsache, dass sich unsere neuronale Hardware in einer Wirklichkeit zurechtzufinden versucht, für die sie nicht gemacht ist.
Der Artikel behandelt ein Phänomen, das mich auch schon viele Gedanken gekostet hat.
Ich war ein paar Mal in meinem Leben in politischen Gruppen aktiv, und habe selbst erlebt, wie man ausgestoßen wird, wenn man es wagt, Selbstkritik zu äußern. Dabei dient es dem Anliegen, wenn man eigene Schwachstellen anspricht.
Ich hatte es kürzlich in einem anderen Konmentar angesprochen, ich glaube, man kommt der Lösung näher, wenn man ritualisiertes Handeln als Kriegsvorbereitung versteht.
Im Artikel wird das kurz gestreift:
Die Überlebensstrategie der Menschen war nicht, die Mechanismen der Kausalität zu verstehen und zu manipulieren, die ihre Welt unbemerkt und indifferent regierten. Ihre Strategie war, sich zu Glaubensgemeinschaften zusammenzuschließen, bis in den Tod zusammenzuhalten und Feinde zu bekämpfen.
Wahrscheinlich fallen Menschen sehr schnell in den Kriegsmodus, da es evolutionär vorteilhaft war. Es kommt da auf durchdachte, effektive Strategien vielleicht weniger an als auf Kampfmoral, Kampflust, Opferbereitschaft, Schmerzunterdrückung, Furchtunterdrückung, maximale Brutalität.
Im anderen Kommentar hatte ich das Beispiel von Einschwörungs-Ritualen vor dem Austragen eines Mannschaftsspiels.
Nehmen wir eine Demonstration: Wer brüllt lauter – der mit den klugen, differenzierten Gedanken und Selbstzweifeln oder der, der keine Fragen stellt und restlos »überzeugt« ist?
Im normalen Alltagsleben sehe ich nicht, dass übersteigerte Moralisierungen und absolut gesetzte – heilige – Werte die Kooperation fördern. (Im Alltagsleben findet sich nebenbei auch keine Gendersprache, die ja ebenfalls ein Ritual ist.)
Diese Sinnsuche (siehe Anfang des Artikels) leuchtet mir auch nicht ganz ein. Menschen können durchaus differenziert denken und brauchen im Alltag kein moralisches Schwarzweiß. Religiöse Inhalte sind ja gerade alles andere als sinnvoll (»höher als unsere Vernunft«).
Man muss bedenken, dass unsere christlichen Hauptkonfessionen inzwischen kaum noch Menschen dazu bewegen können, in die Kurche zu gehen. Unser heutiges Verständnis von Religion ist insofern vielleicht verzerrt. Ursprünglich waren die wahrscheinlich viel politischer und stärker auf Kampf gegen Feinde ausgerichtet. Sekten wie die Zeugen Jehovas mischen sich viel stärker in das konkrete Leben ihrer Anhänger ein. So ist Rockmusik bei den Zeugen dämonisiert. Man grenzt sich durch konservativen Lebensstil und Kleidung ab. Das ist nicht einfach nur Sinnsuche. Das ist konkreter. Die Geisteshaltung ist eher: Da draußen sind Feinde. Man muss sie entweder zum Seitenwechsel bewegen oder bekämpfen. Aber man darf keine Kompromisse machen.
Eine andere Frage, die mich umtreibt: Was hat sich in den letzten Jahren verändert, dass sich die Spannungen in der Gesellschaft so verschärft haben? Warum passiert das alles gerade jetzt?
P.S. Oben ist ein Tippfehler: »Sie schrieb später, dass sie die [nie?] genau verstand, auf welche Weise die Sprengung eines Flugzeugs voller Touristen zur Wiedervereinigung führen sollte«
Na ja, was ist dein Maßstab für »übersteigert«? Aber ob absolute Werte die Kooperation fördern? Oh ja. Frag doch mal beiläufig Bekannte, ob Rassismus und Frauenunterdrückung nicht doch gute Ideen sind, ob wir Menschenrechte und Demokratie wirklich brauchen, ob wir einander fair behandeln sollten, das Leben achten sollten, ob mathematische Berechnungen korrekt sein sollten, oder wirf in der Firma die Frage auf, ob das Überleben der Firma überhaupt ein erstrebenswertes Ziel ist. Wenn du auf ein philosophisch veranlagtes Gegenüber stößt, können sich daraus vielleicht unterhaltsame Debatten entwickeln, aber soweit der Eindruck entsteht, dass du das ernst meinst und mit diesen Ideen tatsächlich die soziale Praxis modifizieren willst, wirst du schnell an Magnetfeldern abprallen. Und die Leute werden nicht erst überlegen müssen, ob das gute Ideen sind, oder sich um eine starke Argumentation bemühen. Es ist eine emotionale Reaktion und die Antwort ist einfach da. Und das geht auch nicht anders. Es gibt zu vieles, das man in Frage stellen könnte, wenn man diese emotionalen Leitplanken nicht hätte, das wäre unmöglich zu handhaben.
Siehe oben: doch. Der absolute Großteil unseres Verhaltens ist automatisch. »Differenziert Denken« ist nur gefragt, wenn wir wirklich auf Schwierigkeiten stoßen, weil unsere Routinen versagen. Dass wir differenziert denken, ist die Ausnahme, nicht die Regel. Und das muss auch so sein, weil es viiiiiel zu viel gäbe, worüber man nachdenken könnte. Dem Denken vorgeschaltet ist ein Wertesystem, das uns anzeigt, was überhaupt unsere Aufmerksamkeit verdient. Wenn das nicht der Fall wäre, wären wir aufgrund von Überforderung mit all den Reizen handlungsunfähig, und wenn wir ständig unsere Wertorientierungen in Frage stellen würden, bekämen wir nie etwas gebacken. Irgendwann müssen wir aufhören, differenziert zu denken, und einfach machen. Und der Schwerpunkt, wenn man überleben will, liegt mehr auf dem Machen.
Bei Sinnsuche geht es zudem ja noch um etwas anderes, um das Bedürfnis nach Sinn. Ist das strittig? Hättest du gerne das Gefühl, dass dein Leben sinnlos ist? Bei solchen Dingen müsste ich genauer wissen, welche Aussage du genau bestreitest und welches Phänomen wir gerade erklären wollen.
Der Zusammenhang wäre in meiner Vorstellung dieser: Religionen/Wertesysteme erfüllen eine integrative und koordinierende Funktion für Gruppen. Da dies über Jahrtausende der Fall war, korrespondiert damit auf individueller Ebene ein Bedürfnis nach solchen Wertesystemen. So wie man etwa sagen kann, dass Sex der Fortpflanzung dient, es aber auch ein eigenständiges Bedürfnis nach Sex gibt, das sich (relativ) unabhängig von der Fortpflanzungsfunktion bemerkbar macht.
Ich sehe gerade, dass ich zwei Artikel verwechselt habe.
Ich schrieb: Diese Sinnsuche (siehe Anfang des Artikels) leuchtet mir auch nicht ganz ein.
Das bezieht sich auf den Artikel »Der rassistische Antirassismus – Kritik einer Massenhysterie«, dort die Passage, die beginnt mit:
Ich würde sagen, dass Menschen ein Bedürfnis nach Sinn haben und Religion diesen stiftet.