Man erzählt niemandem etwas Neues, wenn man sagt, dass die Spannungen zwischen dem linken und dem rechten Flügel in Politik und Bevölkerung in den letzten Jahren gefährlich angestiegen sind. In einem großartigen improvisierten Vortrag über die Meinungsfreiheit warnte Hamed Abdel-Samad schon im Herbst 2015 davor, unseren »geistigen Bürgerkrieg« in einen tatsächlichen Bürgerkrieg eskalieren zu lassen.
Wie viele andere sieht er in der Meinungsfreiheit das geeignete Mittel, um diese Eskalation zu verhindern. Durch sie können Menschen ihre Meinungsverschiedenheiten mit Worten statt Fäusten austragen. Durch sie finden sie Kompromisse, in denen sich jeder Beteiligte vertreten fühlen kann. Dies ermöglicht es allen, eine gewisse Loyalität dem großen Ganzen gegenüber zu bewahren, statt sich von der Mehrheit oder den Mächtigen tyrannisiert zu fühlen.
Dieser Artikel soll zu einem klareren Verständnis dessen beitragen, was Rechte und Linke allgemein auf psychologischer Ebene unterscheidet. Dieses Verständnis hilft, die komplementäre Berechtigung beider zu sehen und sich von den wechselseitigen Dämonisierungen zu lösen, die Feindschaft und Irrationalität eskalieren lassen und damit eine Diskussion unmöglich machen.
Zur Begriffsverwendung: »rechts« versus »konservativ«
Man kann einem Artikel wie diesem viel von seiner Anstößigkeit nehmen, indem man eine Grenze zwischen »konservativ« und »rechts« zieht und sagt, Ersteres sei legitim und Letzteres nicht. Doch diese politisch korrekte Lösung widerstrebt mir aus folgenden Gründen:
- Sie ist unlogisch. Konservativ ist rechts von der Mitte und eine Teilmenge von rechts. Logisch kann daher nicht konservativ okay und rechts nicht okay sein.
- Mir fehlt ein konkretes Unterscheidungskriterium.
- Es gibt auf der Linken keine Grenzziehung dieser Art. Links soll grundsätzlich in Ordnung und Rechts grundsätzlich nicht in Ordnung sein. In Anbetracht der Tyranneien, Barbareien und Massenmorde auch linker Bewegungen im 20. Jahrhundert halte ich dieses Wertungsschema für nicht gerechtfertigt und im Hinblick auf die Potentialitäten der Zukunft für gefährlich.
Auf der anderen Seite kann man aber auch nicht a priori ausschließen, dass die meist intuitiv getroffene Unterscheidung zwischen »konservativ« und »rechts« auf einem realen, objektiv gegebenen Unterschied beruht.
Vielleicht findet man diesen Unterschied in der Forschung der Psychologin Karen Stenner zur Psychologie des Autoritarismus. Sie kommt auf Basis gängiger psychologischer Fragebogen-Methodik zu dem Schluss, dass es drei Arten von Konservativen gibt. Diese haben ihr zufolge klar unterscheidbare Präferenzen und Motivationen und würden zu unrecht zusammen in einen Topf geworfen:
- Laissez-faire-Konservative zeichnen sich vor allem durch eine hohe Wertschätzung für individuelle Freiheit und Abneigung gegen überbordende staatliche Eingriffe in die Gesellschaft aus.
- Status-Quo-Konservative zeichnen sich vor allem durch eine Abneigung gegen schnelle Veränderungen aus.
- Autoritäre zeichnen sich vor allem durch eine Abneigung gegen soziale Heterogenität und eine entsprechende Intoleranz gegen Normabweichung aus.
Womöglich sind Stenners Autoritäre das, was man umgangssprachlich als »rechts« bezeichnet, wenn man »rechts« von »konservativ« unterscheidet.
Je nach politischer Situation können die drei Gruppen an einem Strang ziehen oder miteinander in Konflikt geraten. Eine rapide reaktionäre Wende mag Autoritären gefallen, nicht aber Status-Quo-Konservativen, die sich vor schnellen Veränderungen fürchten. Status-Quo-Konservative können sich an der Seite von Linken wiederfinden, wenn der Status Quo langsam nach links gedriftet ist und Autoritäre ihn angreifen. Dies könnte der Effekt sein, der ihnen von Seiten der Neuen Rechten und Alt-Right das Schimpfwort »Cuck« einträgt.
Die Abwehrreaktion der Autoritären gegen als zu viel empfundene Heterogenität mag indessen auch nicht immer etwas Schlechtes sein, da sie sich gegen desintegrative Tendenzen in der Gesellschaft richtet. Ohne eine gewisse Normiertheit gibt es keine Gesellschaft und keinen Frieden.
Wie dem aber auch sei, es bleibt der Umstand, dass »konservativ« rechts der Mitte ist, wenn man sich die Verteilung politischer Einstellungen als Kontinuum von einem rechten bis zu einem linken Pol vorstellt. »Rechts« wäre demnach ein Wort, das in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet wird:
- Für autoritäre Einstellungen in Abgrenzung vom Konservativen
- Für das ganze politische Spektrum rechts der Mitte
Die Annahme einer doppelten Verwendung würde den genannten Widerspruch auflösen, wäre aber reichlich unpraktisch.
Ich verwende im Folgenden »rechts« im Sinne der zweiten Bedeutung als Sammelbegriff für das ganze politische Spektrum rechts der Mitte. Wenn ich sage, dass dieses rechte Spektrum eine Daseinsberechtigung hat, rechtfertige ich damit ebensowenig Hass oder Gewalt, wie ich Hass oder Gewalt rechtfertige, wenn ich sage, dass das linke Spektrum eine Daseinsberechtigung hat.
Öl ins Feuer
Nach einer heute weit verbreiteten Auffassung bedeutet gesellschaftlicher Fortschritt das Aussterben der Rechten – und dass hier nicht klar ist, ob das nur auf Rechtsextreme oder auch auf Konservative zielt und wo man die Grenze zieht, ist Teil des Problems. Dieser Gedanke begründet die Assoziation des Begriffs »progressiv« mit einem bestimmten Gesellschaftsideal und die häufige Einordnung alles nicht in diesem Sinn Progressiven als »gestrig«.
Progressive Eliten glauben häufig, ihre Vorstellungen einfach mit Macht und ohne Diskussion durchsetzen zu können, da sie diese Vorstellungen in Übereinstimmung mit gesellschaftlichem Fortschritt schlechthin sehen. Sie begreifen sich selbst als Pioniere einer besseren Zukunft, die so oder so kommen werde, sofern die Gesellschaft sich weiter- und nicht zurückentwickelt.
Den Rechten »keine Plattform bieten«, eine »rote Linie ziehen«, die »Grenzen des Sagbaren anmahnen“, rechte Publikationen und Publizisten isolieren, ihre Veranstaltungen unterbinden und so weiter: Das alles ist konsequent und folgerichtig, wenn man die Rechte als eine Art Krankheit, Verirrung oder letzten Ausläufer einer archaischen Vergangenheit betrachtet. Man heilt Krankheiten, indem man die Erreger tötet oder ihnen die Lebensgrundlage entzieht, so dass sie von selbst sterben.
Wenn rechtes Denken und Empfinden aber ebenso wie linkes eine tiefere Wurzel in der menschlichen Natur hat, ist diese Strategie falsch und gefährlich. Je elementarer die Aspekte des Denkens und Empfindens sind, die man für »rechts« und damit für unzulässig erklärt, desto härter die Botschaft an Rechte: »Deine Wirklichkeit ist nicht real und das, was für dich wertvoll ist, darf nicht existieren« (zu schweigen von »du bist der Krebs der Gesellschaft«).
Jeder, der einen Hauch Selbstbehauptung im Leib hat, wird als Reaktion darauf umso stärker auf den angegriffenen Aspekten seines Lebens und seiner Wirklichkeit beharren. Das bedeutet zugleich, dass ihm ihr Wert stärker bewusst wird.
Der Versuch einer allgemeinverbindlichen Durchsetzung linker Identitätspolitik befeuert die Renaissance rechter Identitätspolitik. Je stärker die Repression ist, desto umfassender geschieht dies im Verborgenen. Das begünstigt dort Sektendenken und ein Selbstverständnis als verfolgte Minderheit. Daraus folgt entsprechende Wut, ggf. mit Wahnideen gemischt, und die Gewissheit, auf zivilen, demokratischen Wegen nichts erreichen zu können.
Auch abgesehen davon, was im Untergrund passieren mag, entsteht rechter Gegendruck, beide Seiten schaukeln sich in ihrem Antagonismus hoch und steigern sich in ein Gut-und-Böse-Schema hinein. Je tiefer die Spaltung wird, desto weniger ist noch jemand in der Lage, sich nüchtern mit den Fragen und Themen auseinanderzusetzen, an denen sich der Streit eigentlich entzündet. Alle empfangenen Informationen stehen sofort im Dienst des Kampfes gegen das in der gegnerischen Gruppe verkörperte Böse, nicht im Dienst des Verstehens.
Je weniger wir verstehen, desto weniger haben wir die Dinge unter Kontrolle. Je weniger wir die Dinge unter Kontrolle haben, desto mehr Angst haben wir und desto irrationaler werden wir. Der eskalierende Tribalismus führt zu Entzivilisierung.
Das Verständnis der Persönlichkeitsgrundlagen von Rechts und Links hilft, sich vom magisch-mythischen Gut-und-Böse-Denken zu befreien und Menschen mit anderen Meinungen und Präferenzen als das zu sehen, was sie sind: Menschen mit anderen Meinungen und Präferenzen. Mit solchen diskutiert es sich leichter als mit Dämonen, von denen man mit Sicherheit zu wissen glaubt, dass sie alles niederbrennen wollen.
Von einem populären linken Standpunkt aus würde man bei alledem einwenden, ich könne doch aber nicht Links und Rechts einfach so als Äquivalente behandeln. Wenn die Linke in ihrer Geschichte auch auf Abwege geraten sei, seien doch aber ihre Ideale gut, bei den Rechten hingegen schon die Ideale böse. Hier setze ich mich mit diesem Argument auseinander und weise es zurück.
Die Big Five als Persönlichkeitsbasis von Rechts und Links
Rechte und linke politische Einstellungen wurzeln in den allgemeinen Persönlichkeitseigenschaften »Offenheit für Erfahrung« und »Gewissenhaftigkeit«. Bei Linken ist das Merkmal Offenheit stark und das Merkmal Gewissenhaftigkeit schwach ausgeprägt, bei Rechten ist es umgekehrt.
Das Merkmal Offenheit ist die stärkste psychologische Korrelation mit der politischen Orientierung auf dem Rechts-Links-Spektrum. Insofern ist der Links-Rechts-Konflikt zu einem gewissen Grad als Konflikt zwischen psychologischer Offenheit und Geschlossenheit zu begreifen. (Die Quelle der Angaben in diesem und dem nächsten Abschnitt ist Gerber et al. 2011, ein Überblicksartikel, in dem sich viele weitere Quellen finden).
Offenheit und Gewissenhaftigkeit sind zwei der fünf Persönlichkeitseigenschaften oder Temperamente, die das wissenschaftlich am besten abgesicherte Persönlichkeitsmaß bilden. Dieses ist auch unter dem Namen »Big Five« bekannt. Es bildet die Ausprägung von fünf globalen Persönlichkeitsmerkmalen ab, mit denen man die Persönlichkeit jedes Menschen beschreiben und gewisse Verhaltensvorhersagen treffen kann.
Die Big-Five-Merkmale sind teilweise erblich, machen sich bereits früh in der Kindheit bemerkbar und bleiben über das ganze Leben weitgehend stabil. Sie weisen Zusammenhänge mit messbaren biologischen Merkmalen auf. Beispielsweise korreliert das Merkmal Gewissenhaftigkeit mit der Größe des lateralen präfrontalen Kortex, der wichtig für Planung und Impulskontrolle ist.
Darüber hinaus besitzen die Big Five Vorhersagekraft für eine lange Liste von Verhaltensweisen und biographischen Resultaten. Sie korrelieren mit Alkohol- und Tabakkonsum, der Häufigkeit sportlicher Betätigung, der geistigen und körperlichen Gesundheit, dem Verhalten in ökonomischen Planspielen, dem beruflichen Status, verschiedenen Erziehungsstilen und mehr.
Im Folgenden gebe ich die Beschreibung der Big-Five-Merkmale aus dem Handbuch zu dieser deutschen Ausgabe des Fragebogens wieder, da die US-amerikanischen Artikel, mit denen ich hier arbeite, nur sehr knappe Charakterisierungen enthalten. Sie sind jeweils als bipolare Skala zu verstehen, wobei das Merkmal jeweils nach einem der Endpunkte benannt ist. Die Benennung des Merkmals »Neurotizismus« variiert; die US-Literatur nennt es »emotionale Stabilität«. Dies ist schlicht das andere Ende der Skala.
- Probanden mit hohen Werten in Neurotizismus neigen dazu, nervös, ängstlich, traurig, unsicher und verlegen zu sein und sich Sorgen um ihre Gesundheit zu machen. Sie neigen zu unrealistischen Ideen und sind weniger in der Lage, ihre Bedürfnisse zu kontrollieren und auf Stresssituationen angemessen zu reagieren.
- Probanden mit hohen Werten in Extraversion sind gesellig, aktiv, gesprächig, personenorientiert, herzlich, optimistisch und heiter. Sie mögen Anregungen und Aufregungen.
- Probanden mit hohen Werten in Offenheit für Erfahrung (Openness to Experience) zeichnen sich durch eine hohe Wertschätzung für neue Erfahrungen aus, bevorzugen Abwechslung, sind wissbegierig, kreativ, phantasievoll und unabhängig in ihrem Urteil. Sie haben vielfältige kulturelle Interessen und interessieren sich für öffentliche Ereignisse.
- Probanden mit hohen Werten in der Skala Verträglichkeit (Agreeableness) sind altruistisch, mitfühlend, verständnisvoll und wohlwollend. Sie neigen zu zwischenmenschlichem Vertrauen, zur Kooperativität, zur Nachgiebigkeit, und sie haben ein starkes Harmoniebedürfnis.
- Die Skala Gewissenhaftigkeit (Conscientiousness) schließlich unterscheidet ordentliche, zuverlässige, hart arbeitende, disziplinierte, pünktliche, penible, ehrgeizige und systematische von nachlässigen und gleichgültigen Personen.
Woher kommen die fünf Faktoren?
Das Fünf-Faktoren-Modell wurde aus Wörtern und Ausdrücken abgeleitet, die Menschen in natürlichen Sprachen zur Beschreibung von Persönlichkeitseigenschaften verwenden. Der Gedanke dahinter ist, dass solche Begriffe sich deshalb als Teile einer natürlichen Sprache etabliert haben, weil sie regelmäßig auftretende Merkmale von Personen erfassen.
Man sammelt also sprachliche Ausdrücke, die Persönlichkeitseigenschaften beschreiben. Durch Zusammenfassung bedeutungsverwandter Begriffe reduziert man den Bestand auf eine handhabbare Anzahl und verwandelt die verbleibenden in etwas, das man abfragen kann. Dazu dienen meist sogenannte »Items«. Das sind Aussagesätze, denen die Befragten auf einer abgestuften Skala zustimmen oder widersprechen können. Beispiele:
- Ich fühle mich oft unsicher.
- Ich bin gerne mit anderen Menschen zusammen.
- Ich bin sehr pflichtbewusst.
Um von Dutzenden oder Hunderten solcher Aussagen auf eine sinnvolle, kleinere Zahl von zugrundeliegenden Persönlichkeitseigenschaften zu kommen, nimmt man eine Faktorenanalyse vor. Das bedeutet, auf Basis realer Befragungen herauszurechnen, welche der abgefragten Merkmale zusammen variieren. Wer sich zum Beispiel »oft unsicher« fühlt, bezeichnet sich tendenziell auch als »ängstlichen Menschen«, der »viel grübelt« usw. Zusammen mit weiteren Items ergäben diese dann den Faktor Neurotizismus.
Die Einzelaussagen der Items werden also auf Basis der gemeinsamen Variation realer Antworten zu übergeordneten psychischen Eigenschaften zusammengefasst.
Linke sind offen, Rechte gewissenhaft
Um näher auf die Zusammenhänge der Big Five mit rechten und linken Einstellungen einzugehen, beziehe ich mich im Folgenden auf eine Studie von 2010, die auf einer repräsentativen Stichprobe von gut 12.000 US-Wählern beruht. Die Grafik gibt das Ergebnis kompakt wieder.
Korrelationen zwischen Big-Five-Eigenschaften und politischen Einstellungen. Quelle: Gerber et al. 2010.
Auf der Rechtsachse sind die fünf Persönlichkeitsfaktoren sowie der Einfluss von Einkommen und Bildung auf politische Einstellungen abgetragen. Die letzteren dienen dazu, die Größe des Effekts der Big-Five-Eigenschaften besser einschätzen zu können.
Die Hochachse stellt rechte Einstellungen als negative und linke als positive Werte dar.
Jede Eigenschaft ist mit drei Balken repräsentiert, weil die Autoren neben globalen politischen Einstellungen auch Meinungen zu spezifischen Politikfeldern erhoben haben. Dies zeigt, dass ein Mensch auch in einem Politikbereich eine eher rechte und im anderen eine eher linke Position vertreten kann. Das erklärt sich in der Regel aus seiner sozialen Situation. Dazu unten mehr.
Mit »Social Policy« ist hier nicht das gemeint, was wir im Deutschen »Sozialpolitik« nennen. Diese würde unter »Economic Policy« fallen. »Social Policy« bezieht sich auf progressiv konnotierte Themen wie Abtreibung und Homosexuellenehe.
Bleiben wir aber vorerst beim jeweils linken Balken, der die globalen politischen Einstellungen gemäß der Rechts-Links-Achse anzeigt. Die Hauptbefunde sind:
- Offenheit für Erfahrung ist der Faktor mit der größten Bedeutung für die politische Einstellung. In starker Ausprägung ist er nahezu allein bestimmend für eine linke Einstellung. Bereits ein lesenswerter Überblicksartikel von 1996 zeigte die weitreichende Bedeutung dieses Faktors auf, der neben politischen Einstellungen auch etwa den Kunstgeschmack, den Humor und die Wahl von Freunden und Partnern messbar mitbestimmt (McCrae 1996).
- Eine rechte Einstellung ist durch eine relativ starke Ausprägung des Faktors Gewissenhaftigkeit und in geringerem Umfang des Faktors emotionale Stabilität charakterisiert. Gewissenhaftigkeit ist der zuverlässigste psychologische Prädiktor für den Lebenserfolg in verschiedenen Bereichen (Duckworth et al. 2012).
- Der Einfluss des Faktors Offenheit auf die politische Einstellung ist deutlich größer als derjenige von Einkommen oder Bildung. Gewissenhaftigkeit liegt etwa in der gleichen Größenordnung wie Bildung und hat immer noch einen deutlich größeren Einfluss als das Einkommen.
Zusammenfassend könnte man also sagen, Linke sind eher neugierig und kreativ, Rechte eher pragmatisch und effektiv.
Weil sie sich zum Neuen hingezogen fühlen, streben Linke nach Veränderung; weil sie fantasievoll sind, mögen sie Utopien; weil sie intellektuelle Stimulation brauchen, sind sie von Theorien fasziniert. Sie erleben feste Strukturen und Routinen tendenziell als beengend. Sie sind Künstler, Erfinder und Innovateure.
Rechte fühlen sich wohler und sind eher kompetent unter Bedingungen, die von Ordnung und Regelmäßigkeit charakterisiert sind. Bei der Aussicht auf utopistisch motivierte Veränderung sehen sie eher das Bewährte, was verloren ginge, als das schillernde Neue, das bislang nur eine Fantasie ist, die für nichts garantiert. Sie erleben das Fehlen fester Strukturen und Routinen tendenziell als Kontroll- und Orientierungsverlust. Sie sind gut in der Anwendung und Durchführung bestehender Verfahren, sie sind effizient und strukturiert. Sie halten den Betrieb am Laufen.
Der Überlebenswert von Stabilität und Plastizität
Die Antworten aus Big-Five-Erhebungen lassen sich zu zwei übergeordneten Faktoren bündeln. Das steht nicht im Widerspruch zu der Aussage, dass es fünf Faktoren gibt. Vielmehr handelt es sich um dasselbe Bild in zwei verschieden scharfen Auflösungen.
Bereits die fünf Faktoren vergröbern die Auflösung, indem sie anhand empirischer Kovariation der Itemantworten die Iteminhalte zu allgemeineren psychischen Tendenzen zusammenfassen. Das kann man auch noch einmal auf einer höheren Ebene tun. Dort ergeben sich dann die zwei Faktoren Stabilität und Plastizität (DeYoung et al. 2002).
In diesen zwei »Super-Faktoren« ergeben Extraversion und Offenheit zusammen Plastizität, während sich Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität als Aspekte des übergeordneten Faktors Stabilität darstellen.
DeYoung et al. argumentierten, dass jedes komplexe System über Mechanismen verfügen muss, die seine Struktur aufrecht erhalten (Stabilität). Zugleich muss es zu einer mehr oder weniger flexiblen Anpassung an sich ändernde Situationen und Umwelten fähig sein (Plastizität). Es muss also die optimale Balance zwischen diesen beiden Tendenzen finden.
Die hier besprochenen Persönlichkeitseigenschaften könnten Ausdruck dieser universellen Notwendigkeit sein. Dies würde erklären, warum die Ausprägungen der beiden Grundtendenzen von Mensch zu Mensch variieren, so dass beim einen die eine und beim anderen die andere dominiert. Für einen Zufall ist das Phänomen zu universell, dass in menschlichen Gruppen stets eher konservative und eher progressive Teilgruppen nebeneinander stehen. Vielleicht erfüllen diese Teilgruppen für menschliche Gesellschaften ebendiese Funktion, sowohl stabilisierende als auch veränderungsoffene Potentiale bereitzustellen, die einander die Waage halten und je nach aktueller Situation die Oberhand gewinnen können.
Manche erleben Neues als reizvoll, sehen im Unbekannten Chancen und haben eine größere Sensibilität für die Gefahren der Starre und Rigidität. Andere sehen den Wert des Bewährten und die Gefahren, die in unerforschtem Territorium lauern. So können beide Teilgruppen durch Kommunikation den Horizont der jeweils anderen erweitern. Dadurch sieht die Gruppe insgesamt mehr als sie sehen könnte, wenn die Grundtendenzen der Persönlichkeit bei allen Individuen gleich ausgeprägt wären.
Es ist klar, dass eine allzu ungezügelte Neugier, ein allzu leichtfertiges Vordringen ins Unbekannte und ein allzu realitätsfernes Träumen ebenso gefährlich sein können wie ein stures Beharren auf gewohnten Praktiken oder die Unfähigkeit zur Veränderung unter veränderten Bedingungen.
Ebenso klar ist, dass keine der beiden Grundtendenzen per se böse oder gut, moralisch oder unmoralisch ist.
Neugier, Fantasie und Experimente sind gut, aber das einmal Erreichte zu schützen und »gewissenhaft« die Arbeit zu tun, auf denen das Weiterleben aller Gesellschaftsmitglieder beruht, ist ebenfalls gut. Auch die Abwehr des Fremden ist gut oder zumindest nötig, wenn dieses Fremde das eigene Überleben bedroht.
Dieses Konditional »wenn« bezeichnet den Punkt, an dem die Probleme mit Rechts und Links beginnen. Es gibt viele Beispiele dafür, dass psychische Mechanismen, die im Evolutionsprozess auf lange Sicht Überlebenschancen maximieren, dies durchaus nicht in jeder einzelnen Situation tun. Unser Instinkt, bei Gefahr wegzulaufen, leistet auf lange Sicht gute Dienste. Wenn aber unsere Kleidung brennt oder wir einem Bären begegnen, ist das die falsche Reaktion. Dadurch entkommen wir der Gefahr nicht, sondern vergrößern sie.
Die Motivation des Verhaltens ist auf ein gewünschtes Ergebnis gerichtet (Ausschalten der Gefahr), doch das Verhalten bewirkt in bestimmten Situationen etwas anderes, nämlich die Vergrößerung der Gefahr. Deswegen ist aber nicht der Instinkt an sich falsch, schlecht oder gefährlich.
Die Situationsabhängigkeit von Rechts und Links
Wie erwähnt ging es in der zitierten Studie von 2010 unter anderem darum, dass die Big-Five-Faktoren zu unterschiedlichen politischen Standpunkten führen, je nachdem, in welcher sozialen Situation sich der Betreffende befindet.
Ein einfaches Beispiel dafür ist in der Grafik enthalten. Mit steigendem Einkommen tendieren Menschen zu einer »rechten« Wirtschaftspolitik, nehmen also Abstand von Ideen staatlicher Eingriffe und Umverteilung. Das ist logisch, denn für die Gutverdienenden funktioniert das System, wie es ist.
Um diesen Effekt näher zu erforschen, haben die Autoren Stichproben von weißen und schwarzen US-Amerikanern verglichen. Da sich die Schwarzen – nicht ausnahmslos, aber im Durchschnitt sehr deutlich – in einer sozial benachteiligten Situation befinden, eignen sie sich zur Überprüfung der Hypothese, dass Eigenschaften wie Offenheit, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität und so weiter je nach sozialer Situation unterschiedliche politische Positionen nahelegen.
Der übergeordnete Ausdruck dieses Effekts ist, dass Schwarze generell im Durchschnitt weiter links stehen. Darüber hinaus ergaben sich folgende Befunde.
- »Gewissenhafte« Schwarze sind anders als Weiße im Durchschnitt nicht konservativ. Je nachdem, welche Chancen man für sich selbst sieht und wie man das System bewertet, legt Gewissenhaftigkeit als Charakterzug verschiedene Standpunkte und Verhaltensweisen nahe, z.B. konventionelle Strebsamkeit versus politische Opposition.
- Schwarze mit stark ausgeprägter Offenheit für Erfahrung sind im Durchschnitt weniger links als Weiße. Die Erklärung der Autoren dafür ist, dass in schwarzen Milieus linke Einstellungen die Norm sind. Individuen mit starker Tendenz, das Neue zu suchen, neigen eben aufgrund dieser Tendenz zur Normabweichung.
- Schwarze mit stark ausgeprägter emotionaler Stabilität sind im Durchschnitt weniger rechts als Weiße mit dieser Eigenschaft. Für Weiße, die zur Sorge und Ängstlichkeit neigen, steht linke Politik für ein soziales Sicherheitsnetz. Für Schwarze, die in der sozialen Hierarchie niedriger stehen, verheißt sie eher eine Herstellung von Gerechtigkeit, die noch aussteht. Dabei sind Ängstlichkeit und Sorgen weniger relevant.
Die übrigen Unterschiede sind nicht signifikant. Mit der Differenzierung nach »Economic« und »Social Policy« treten weitere zutage, doch soweit muss ich hier nicht ins Detail gehen.
Historisch war die linke Bewegung immer eine herrschaftskritische. Da herrschende Gruppen und Herrschaftsmechanismen umso fixer sind, je weiter man in die Geschichte zurückschaut, ist plausibel, dass Linkssein zunächst mit Offenheit assoziiert war und eine solche Assoziation als normal gilt. Menschen mit stark ausgeprägter Offenheit wollen Veränderung und begeben sich dadurch in Konflikt mit den Herrschenden.
Doch wenn ursprünglich linke Gruppierungen an die Schalthebel der Macht gelangen, ändert sich die Konstellation. Sobald sie ihr z.B. kommunistisches System installiert haben, wollen sie es auf Dauer stellen.
Sie mögen sich durch ritualistische Revolutionsromantik weiterhin als die Emanzipationsbewegung inszenieren, aus der sie einst hervorgegangen sind, und sie mögen weiterhin gegen »bourgeoise« Elemente ihrer Kultur vorgehen und dies als fortgesetzte Rebellion gegen das alte Establishment deuten. Fakt ist aber, dass sie nun die Herrschenden sind, für die jede Veränderung von unten tendenziell eine Gefahr ist.
Der Psychologe und Autoritarismusforscher Bob Altemeyer hat kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Erhebung unter Moskauer Studenten durchgeführt. Dabei stellte er fest, dass diejenigen, die am stärksten zu ihrer kommunistischen Regierung standen, die höchsten Werte in der autoritären Einstellung erzielten, die Altemeyer »Right-Wing-Authoritarianism« nennt. Wie man erwarten würde, korreliert diese positiv mit Gewissenhaftigkeit und negativ mit Offenheit (Bob Altemeyer: The Authoritarian Specter. Cambridge, MA und London: Harvard University Press, 1996, S. 125ff.).
Demgemäß wären die strammsten regierungstreuen Kommunisten in kommunistischen Systemen psychologisch gesehen nicht Linke, sondern Rechte. Anders als eine romantische Sicht des Sozialismus wünschen würde, sind in solchen Systemen ja auch Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit durchaus geläufig.
Hat sich die psychologische Zusammensetzung der Lager gewandelt?
Die vergleichende Betrachtung von Schwarzen und Weißen oben wirft ein Licht auf die veränderte Gemengelage bezüglich Rechts und Links, mit der wir es heute zu tun haben. Weil im entsprechenden Milieu tendenziell alle links sind, neigen dort diejenigen mit stark ausgeprägter Offenheit dazu, weniger links zu sein. Salopp gesagt, weil die Konformität sie langweilt und vielleicht auch misstrauisch macht.
Ich beobachte seit einigen Jahren eine anhaltende Linksflucht, nicht zuletzt an mir selbst.
Ich bin ziemlich klar von dem Faktor Offenheit charakterisiert. Wenn ich mir die Items ansehe, denke ich ständig nickend, ja, das kenne ich. Mich interessieren neue, ungewöhnliche, unbequeme Gedanken. Mich faszinieren ungelöste intellektuelle Probleme und Widersprüche. Sobald ich etwas zu meiner Zufriedenheit verstanden habe, beginnt es mich zu langweilen, darüber zu reden. Sobald ich in einer Gruppe bin, in der alle dasselbe glauben und darüber nicht mehr nachdenken, fühle ich mich unwohl und werde misstrauisch gegen diesen Glauben. Alles, was nach Konformität und geistlosem Gleichmarsch aussieht, macht mir Angst. Apropos Angst, mein Neurotizismus ist auch über dem Durchschnitt. Über mein Minus in Gewissenhaftigkeit sage ich lieber nichts.
Nach meinen Big-Five-Werten müsste ich am Anschlag links sein. Früher war ich das auch. Heute sehe ich mich zwar nicht rechts, kann mich aber aufgrund der erdrückenden geistigen Enge, die das linke Lager in den letzten Jahren erfasst hat, auch nicht mehr links einordnen. Ich finde eher interessante Gedanken sowie Offenheit und Toleranz unter Konservativen, Liberalkonservativen, Liberalen und Libertären, also zusammengefasst Zentristen und Rechten.
So gesehen bin ich tatsächlich nach rechts gerückt, das aber nicht trotz, sondern gerade aufgrund meiner Offenheit. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass ich mindestens genauso rebellieren würde, wenn Rechte eine rechte Leitkultur installierten, die ähnlich eindimensional, borniert und intolerant wäre wie heute die (neu)linke.
Die kulturell dominante Linke scheint in den letzten Jahren zu etwas anderem mutiert zu sein, das bei mir und anderen diese Linksflucht auslöst. Ein wichtiges Stichwort dabei ist die politische Korrektheit. Sie verbindet die traditionell linken Strebungen nach Gerechtigkeit und Parteinahme für die Schwachen mit traditionell eher rechten Strebungen wie dem nach autoritärer Schaffung von (politisch-ideologischer) Homogenität. Einer unveröffentlichten Studie von Jordan Peterson und Catherine Brophy zufolge setzt sich die Anhängerschaft der politischen Korrektheit aus zwei Teilgruppen zusammen, von denen eine durch ihren Egalitarismus und die andere durch Autoritarismus motiviert ist.
Bob Altemeyer kam im genannten Buch von 1996 am Rande zu einem ähnlichen Befund. Um zu prüfen, ob es neben dem rechten auch einen linken Autoritarismus gibt, konstruierte er einen entsprechenden Fragebogen, der etwa erhob, ob man sich einem starken Führer im Kampf gegen das Establishment anschließen würde und Ähnliches. Der interessante Befund war, dass teilweise dieselben Personen, die dergleichen bejahten, auch die Items des rechten Autoritarismus bejahten. Altemeyer bezeichnete diese Gruppe als »Wild-Card Authoritarians«, weil sie sich unbesehen des Inhalts zum Prinzip von Autorität und Unterwerfung hingezogen zu fühlen scheinen (Altemeyer 1996, S. 223f.). Diese Wild-Card Authoritarians hatten die höchsten Werte in politischer Korrektheit, höher als sowohl Rechte als auch Linke (ebd., S. 233).
Man kann also annehmen, dass sich die Linke in ihrer herrschenden Position gewandelt hat, indem sie in Teilen von konservativen und autoritären Kräften übernommen wurde. Für viele Linke mögen Kunst und Kultur als Betätigungsfelder für die Bedürfnisse der Offenheit genügen, während im Umkreis der heiligen Werte dieser Linken kein Nachdenken mehr möglich ist. Andere fühlen sich vom zunehmenden Dogmatismus dieses Lagers in die Flucht geschlagen oder werden als Ketzer verbannt.
Womöglich vollzieht sich auf der Rechten etwas spiegelbildlich Analoges, nämlich ein Einzug von mehr Offenheit und Kreativität in Gestalt derjenigen, die aus dem linken Lager geflohen sind oder vertrieben wurden, und als Ausdruck der Tatsache, dass schlicht Rebellion heute eher rechts als links ist. Man mag von Leuten wie Paul Joseph Watson, Lauren Southern, Milo Yiannopulous oder hierzulande Don Alphonso halten, was man will, aber sie sind zweifellos rebellisch und kreativ. (Ich glaube, Don Alphonso sieht sich weiterhin links, und in irgendeinem abstrakt ideellen Sinn mag er das auch sein, aber im Kontext der aktuellen politischen Gemengelage stellt es sich anders dar.)
Wo fängt der Ärger an?
Wenn man also sagt, dass die Existenz sowohl Rechter als auch Linker normal und die Existenz beider sogar ein Vorteil ist, weil sie verschiedene, komplementäre Funktionen für die Gesellschaft erfüllen, dann fragt sich: wo beginnen die Probleme? Wann und warum entwickeln die beiden Lager zerstörerische Ideologien, und wann und warum gehen sie einander an die Gurgel?
Anders ausgedrückt: Wo beginnt und warum entsteht Extremismus?
Meiner Meinung nach ist Extremismus Folge einer Verabsolutierung der Werte, für die die eigene Glaubensgemeinschaft steht. Wenn man sich den rechten und den linken Totalitarismus des 20. Jahrhunderts anschaut, sieht man deutlich die extremistische Fortschreibung von Wertpräferenzen, die in gemäßigter Form grundsätzlich zum Wesen der jeweiligen Lager gehören: Aus dem rechten Ordnungsstreben wird ein Reinheitswahn, aus der linken Offenheit wird das nicht minder wahnsinnige Projekt, Individuum und Gesellschaft von Grund auf neu zu erschaffen.
Dem liegt eine Sakralisierung der eigenen Werte zugrunde, eine religiöse Überhöhung, die die Durchsetzung der eigenen Präferenzen zu einer Frage von Gut und Böse macht. Je entschiedener dies der Fall ist, desto verzerrter wird der Blick auf die Realität, desto größer werden die blinden Flecken überall dort, wo die heiligen Werte berührt sind und das befriedigende Gut-und-Böse-Denken mit der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit in Konflikt geraten würde.
Der Polarisierung der Weltwahrnehmung in Gut und Böse entspricht eine Polarisierung der sozialen Welt in Wir und Die. Moralische Gemeinschaften können in eine Feedbackschleife der Selbstbestätigung hineingeraten.
Sie formieren sich um heilige Werte herum und diese heiligen Werte sind umgekehrt das zentrale Scharnier, das die Gruppe zusammenhält; die Achse, um die sie kreist. Innerhalb der Gruppe steigt auf, wer diese Werte gut zu verkörpern scheint. Wer dagegen verstößt, wird je nach Schwere des Verstoßes zur Ordnung gerufen oder ausgeschlossen. Dies erzeugt unter den Gruppenmitgliedern einen Wettbewerb um die sozialen Chancen und Gratifikationen, mit denen Normentreue belohnt wird, also einen eskalierenden Fundamentalismus.
Die materiellen Vorteile spielen eine Rolle in dieser Dynamik, aber es lässt sich nicht auf sie reduzieren. Menschen glauben wirklich. Es gibt ein Bedürfnis, zu glauben, das gleichzeitig ein Bedürfnis ist, einer Gruppe anzugehören, die Geborgenheit, Sicherheit und Orientierung bietet. Eine religiöse Erfahrung ist das Empfinden, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Intensive Gruppenerlebnisse öffnen eine Tür zu diesem Empfinden. Es ist befriedigend und erfüllend, und zwar auf eine tiefere und dauerhaftere Weise als die meisten anderen Befriedigungen (wobei Erfahrungen der Selbsttranszendenz unter den richtigen Bedingungen auch beim Sex vorkommen). Das Erlebnis der Erfüllung durch das Aufgehen in den heiligen Werten und Prinzipien der Gruppe bestätigt dem Einzelnen deren Wahrheit. Das Gleiche tut von morgens bis abends schlicht der Konsens innerhalb der Gruppe. Jeder gibt dir recht, wenn du die gemeinsamen Werte artikulierst und lebst. Du kannst dir Bewunderung ernten, wenn du dich dabei besonders ins Zeug legst, und du kannst alles verspielen, wenn du diese Werte verletzt. Man unterschätzt diesen Effekt leicht, aber es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein Mensch in Frage stellt, was alle für ihn relevanten Mitmenschen für selbstverständliche Wahrheit halten.
Dies sind allgemeine Aspekte des Menschseins, die in extremistischen Gruppierungen und Sekten einen ins Extrem gesteigerten Ausdruck finden und von diesen Gruppen bzw. ihren Führern ausgebeutet werden. Begünstigt wird eine solche Entwicklung durch folgende Faktoren:
- Soziale, politische und philosophische Desorientierung. Glaubensgemeinschaften bieten eine Heimat und einen Boden unter den Füßen in einer Welt, die ohne eine solche ideell-soziale Heimat chaotisch, brutal und überwältigend ist. Der Reiz von Ideologien und Sekten, ebenso wie der von Süchten, wird unter Bedingungen der Vereinzelung und Sinnleere größer.
- Die Abgrenzung nach außen. Gut-und-Böse-Denken ist in politischem und sozialem Kontext immer grob vereinfachend. Es muss viel unterschlagen, weil die Wirklichkeit komplex und widersprüchlich ist. Dies ist am ehesten möglich, wenn man unter Menschen bleibt, die dasselbe Gut-und-Böse-Denken verinnerlicht haben, denn dies schirmt einen von Informationen und Erfahrungen ab, die der Vereinfachung widersprechen.
- Die Feindschaft nach außen. Zur Verherrlichung der Eigengruppe auf Basis von Sakralisierungen gehört die Abwertung von Außenseitern. Dies kann, aber muss nicht eine bestimmte, abgrenzbare Gegnergruppe sein. Bei radikalen Sekten ist es üblich, auf sämtliche Nichtmitglieder herabzuschauen, weil sie in Sünde leben und den wahren Glauben verschmähen. Konkrete Gruppenfeindschaften haben aber ein besonders Potential zur Radikalisierung der betreffenden Gruppen, denn in jedem Akt der Feindseligkeit findet das (pseudo-)religiös begründete Empfinden der anderen als »böse« eine reale Bestätigung.
Hier schließt sich also der Kreis zum Anfang und Kernanliegen dieses Artikels, denn das beste Mittel gegen die Verwandlung von sozialen Gruppen in Sekten ist Kommunikation über die Gruppengrenzen hinweg. Kommunikation, die uns vor Augen führt, dass die Außenseiter Menschen und keine Dämonen sind, und uns gleichzeitig zwingt, uns weiterhin mit der Komplexität der Wirklichkeit auseinanderzusetzen.
Man kann es tatsächlich auch so sehen, dass die Gefahr in der Vereinfachung liegt. Wer nur die halbe Situation auf dem Schirm hat, wird mit seinem Handeln in der verdunkelten Hälfte unvorhersehbare Wirkungen zeitigen. Da er seinen Glauben verteidigen muss, um sein Gesicht zu wahren, hat er ein aktives Interesse, diese unvorhersehbaren Wirkungen zu verschweigen. Im Extremfall, wenn Verschweigen nicht mehr funktioniert, geht er mit Gewalt dagegen vor.
Das ist der Zusammenhang zwischen Unwahrheit und Totalitarismus. Die Abwendung von der Wirklichkeit führt zu einem Kontrollverlust. Diesen kann man nur mit Gewalt kompensieren, solange man nicht zur Wiederhinwendung zur Wirklichkeit bereit ist. Letztere würde aber erfordern, zuzugeben, dass der zugrundeliegende Glaube falsch ist. Wenn man bereits die ganze soziale Wirklichkeit und die eigene Identität um diesen Glauben herum arrangiert hat, wird das in der Regel nicht möglich sein.
Interessante Darlegung.
Aber sie belegt auch, dass die politische rechts/links-Einteilung doch zu eindimensional und damit übersimplifizierend ist.
Was ist zB mit denen, deren Werte bei Offenheit und Gewissenhaftigkeit beide hoch oder niedrig sind?
Danke! Klar, es ist nur eine Dimension. Und es sind nur Korrelationen. Das heißt, es ist nicht jeder mit hoher Offenheit und niedriger Gewissenhaftigkeit links, aber eine Mehrheit. Das kann man jetzt nicht auf eine Zahl bringen, weil es kein Entweder-Oder ist, sondern weil es Kontinuen sind, mehr oder weniger offen/links/gewissenhaft.
Ganz abstrakt gesprochen müsste jemand mit hoher Offenheit und Gewissenhaftigkeit eher links rauskommen, weil Offenheit die stärkere Korrelation ist. Grundsätzlich lassen diese Korrelationen aber einen Spielraum und einen nicht erklärten Rest. Außerdem habe ich ja oben erwähnt, dass auch etwa Bildung, sozialer Status und die vorherrschende Meinung im Freundeskreis hineinspielen. Diese Faktoren würden also wahrscheinlich den Ausschlag geben.
Jordan Peterson ist übrigens so ein Kandidat mit gleichzeitig sehr hoher Gewissenhaftigkeit und Offenheit. Man merkt ihm die beiden Züge stark an, eine ziemliche Pedanterie, wenn es um Fleiß und Ordnung und so etwas geht, aber gleichzeitig eine riesige intellektuelle Neugier. Politisch ist er wohl ein Zentrist mit Tendenz zum Konservativen.
Danke, danke, danke! Das kann ich eins zu eins auf mich anwenden. Eigentlich klar links und mit einer unbändigen Neugier auf andere Menschen und Länder (und deren Kultur) ausgestattet, bin ich in den letzten Jahren vertrieben worden. Angefangen hat es mit dem Feminismus von heute, deren Vertreterinnen mich mit ihrem ewigen »Vierbeiner gut, Zweibeiner schlecht« Gerede abgestoßen haben, dass sich nahezu gar nicht mit der von mir beobachteten Wirklichkeit in Einklang bringen lässt. Auch die »no boarder« Fraktion hat mir noch nicht erklären können, wer denn eigentlich in ihrem Utopia für Arbeitnehmerrechte, Sozialstaat, Verbraucher- und Umweltschutz etc. sorgen soll. Ich sehe da nur supranationale Konzerne, die sich nahezu vollständig jeder Kontrolle entzogen haben.
Und diese Hipster-Deppen! Halten sich für wahnsinnig progressiv, sehen aber doch alle gleich aus und bewohnen in jeder Metropole das exakt gleiche Biotop. Und sie merken gar nicht, dass sie in Wahrheit völlig rechtlose Arbeitssklaven sind und die Reinkarnation der Tagelöhner von einst.
Ich finde die Analyse in dem Beitrag in vieler Hinsicht sehr passend. Eine Anmerkung habe ich aber zu der zitierten Deutung, dass »die strammsten regierungstreuen Kommunisten« psychologisch gesehen »Rechte« seien.
Das ist sicher von dir nicht so gemeint, aber es erinnert mich daran, dass nicht wenige Linke Stalin, Mao, Pol Pot & Co. als »rechts« bezeichnen, was verdächtig nach einem billigen Weg aussieht, die Exzesse der eigenen Ideologie dem politischen Gegner in die Schuhe zu schieben.
Mir scheint, dass die Unterscheidung nach Offenheit versus Gewissenhaftigkeit bei moderaten Linken (z.B. Linksliberalen) bzw. moderaten Rechten (Konservativen, Libertären) zutrifft, während die radikaleren Kräfte auf beiden Seiten den im Beitrag genannten »Autoritären« entsprechen: Leute, die überzeugt sind, als die Guten in einem Kampf gegen die absolut Bösen zu stehen, bei dem letztlich alle Mittel erlaubt sind (die Perspektive solcher Leute beschreibt ja Roy Baumeister in dem von dir erwähnten Buch »Evil«).
Und wenn sich die Extremisten auf beiden Seiten so ähneln, mit welchem Grund sollte man diese »Bösen« allein auf der Seite von Libertären und Konservativen platzieren? Vielleicht wäre es passender, statt einer linearen links-rechts-Achse ein Dreieck anzunehmen, in dem die Autoritären eine eigene Ecke für sich haben (mit Untergruppen für Linksextreme, die nur noch für ihre Utopie »offen« sind, und Rechtsextreme, die für eine glorreiche vergangene »Ordnung« kämpfen)?
Aber wie gesagt, abgesehen von diesem Einwand hat mir der Beitrag sehr gut gefallen, nicht zuletzt auch, weil in ihm die Motive beider Seiten mal aus einer anderen, neutraleren Sicht betrachtet werden.
Ja, mit dem Problem habe ich mich auch schon herumgeschlagen. Es ist auch eine Kritik, mit der Altemeyer konfrontiert ist, dass es linke Autoritäre bei ihm gar nicht geben kann, weil Autoritäre in seinem Konstrukt automatisch rechts sind.
Allerdings können wir nicht auf der einen Seite mit Messinstrumenten arbeiten und dann so eine Dreieckstheorie aufstellen, weil uns das irgendwie fairer erscheint. Bzw. wäre das erstmal eine Hypothese, die man durch entsprechende Messungen prüfen müsste.
Und was Messungen betrifft, wissen wir zumindest, dass Autoritarismus mit Offenheit deutlich negativ korreliert. Es könnte durchaus sein, dass es beim Führungspersonal irgendwelche Besonderheiten gibt, man wird ja nicht nur durch Zufall Führungspersonal. Vielleicht gibt es dazu auch Daten, die mir jetzt nicht bekannt sind, aber von den bekannten Regelmäßigkeiten ausgehend ist anzunehmen, dass autoritäre Führer und ihr Personal eher weniger offen sind, also so gesehen eher rechts.
Mir scheint das auch unter noch einem anderen Aspekt plausibel. Man kann die Scheidelinie zwischen links und rechts auch an den unterschiedlichen Haltungen zu Hierarchie festmachen. Jordan Peterson macht das häufig. Ganz grob gesprochen sind Rechte eher pro Hierarchie und Linke eher kontra. Das spricht auch dafür, Autoritäre eher rechts zu sehen. Linke sind allerdings eher die Agenten des Chaos, das autoritäre Modelle attraktiv macht.
Die positive Haltung Konservativer zu Hierarchie ist m.E. bei Peterson Teil von deren umfassenderem Bedürfnis, die prekäre Stabilität der schützenden tradierten Ordnung gegen den stets drohenden Einbruch des Chaos abzusichern. Umgekehrt rebellieren Linke gegen eine als veraltet und unnötig restriktiv empfundene Ordnung und ihre Hierarchien. Der entscheidende Unterschied zwischen Linken und Rechten wäre demnach die Einschätzung, ob es zu viel oder zu wenig Ordnung gibt.
Was ist aber mit dem Fall, dass eine Gruppe die alte Ordnung bekämpft, um sie durch eine neue zu ersetzen? Ein aktuelles Beispiel wäre die intersektionale Ideologie, bei der es im Kern darum geht, die bestehende Ordnung der »weißen alten Männer« abzulösen durch die intersektionale Opferpyramide, in der alle Gruppen nach ihren unveränderlichen biologischen Merkmalen hierarchisch angeordnet sind. Sind diese Leute dann »links« nur in Bezug auf die alte Ordnung und »rechts« in Bezug auf die neue?
Noch verwirrender wird es dadurch, dass diese Umwälzungen vom gesellschaftlichen Establishment (Regierungsparteien, Mainstream-Medien, Gewerkschaften, teilweise auch den Kirchen) propagiert und befördert werden, Arm in Arm mit jungen Elitestudenten, linker Szene und Antifa. Rebelliert hier die Ordnung gegen sich selbst? Und ist das dann links oder rechts? Finden sich Menschen, die Offenheit schätzen, eher unter den Befürwortern oder unter den Gegnern der neuen Ordnung? Und stützen Menschen mit hoher Gewissenhaftigkeit weiterhin den (sich ändernden) Status Quo oder verteidigen sie lieber ihre bedrohten Traditionen?
Meine Vermutung ist, dass in dieser Situation die Zuordnung von »linken« und »rechten« Persönlichkeitstypen zur »rechten« und »linken« Seite des Kulturkampfes (und damit auch diese Etiketten) nicht mehr funktioniert, da sich aufgrund der oben beschriebenen Konfusion zunehmend beide Typen auf beiden Seiten finden. Das würde auch die von dir beschriebene zu beobachtende Linksflucht erklären.
Eine wirklich interessante Frage: Welche Eigenschaften zeichnen Menschen aus, die sich in Folge des Kulturkampfes genötigt sehen, ihre traditionelle politische Verortung zu ändern?