Anfang Juni berichteten diverse deutsche Medien von einem neuerlichen »Eklat« um den US-Präsidenten Donald Trump. Dieser habe vor seinem Staatsbesuch im Vereinigten Königreich den Londoner Bürgermeister Sadiq Khan per Twitter »attackiert«, hieß es in Social-Media-Postings, Überschriften und Anreißern.
Man musste sich tief in die dazugehörigen Artikel vorarbeiten, um zu erfahren, dass Trump mit den fraglichen zwei Tweets auf einen vorangegangenen Angriff Khans reagiert hatte. Bei manchen erfuhr man es gar nicht. Bei keinem erhielt man einen Eindruck des Umfangs und der Schärfe von Khans Angriff.
Die Gleichförmigkeit dieser Berichterstattung ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich die Eisenspäne im Feld eines moralischen Elektromagneten ausrichten. Trump ist für diese Medien das Fremde, das Andere, das Böse. Als solches steht er außerhalb der Welt zwischenmenschlicher Verbindlichkeit. Wenn er angegriffen wird, erscheint das daher normal und nicht weiter erwähnenswert. Er ist derjenige, der den Frieden stört, schon allein dadurch, dass er im Amt ist. Er ist der Angreifer, egal wie der konkrete Sachverhalt aussieht. Ihm gegenüber sind keine Fairnessregeln einzuhalten, weil bereits seine bloße Existenz als Regelverstoß empfunden wird.
Das ist meine Hypothese zur Erklärung des Verhaltens der Journalisten, die unausweichlich spekulativ ist. Ich gehe weiter unten noch näher darauf ein. Zuerst einmal aber der Vorgang.
Am 1. Juni veröffentlichte der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan im »Guardian« einen Kommentar, in dem er Trump vor dessen Staatsbesuch im Vereinigten Königreich scharf angriff.
Es ist eine rhetorische Vernichtung. Die Worte Khans richten sich nicht an Trump, sondern über dessen Kopf hinweg an die Briten, die er dazu aufruft, ihm so wenig entgegenzukommen wie möglich. Er stellt Trump auf eine Stufe mit »europäischen Diktatoren der 1930er und 40er« sowie »Militärjuntas der 70er und 80er«, mit Putin und Kim Jong-Un. Er charakterisiert Trump als eines der »ungeheuerlichsten Beispiele« für die »globale Bedrohung« der extremen Rechten, deren Galionsfigur er sei und die sich »faschistischer Klischees« und »neuer bösartiger Methoden« bediene, um Freiheit und Demokratie zu zerstören.
In diesen Worten etwa wird die Verachtung spürbar, von der Khans Beitrag durchdrungen ist:
Manche sind der Meinung, wir sollten uns die Nasen zuhalten und die Kröte schlucken, Trump in dieser Weise zu ehren – darunter viele konservative Politiker. Sie meinen, wir sollten Realisten sein und sein Ego streicheln, um unsere wirtschaftliche und militärische Beziehung zu den USA aufrechtzuerhalten.
(There are some who argue that we should hold our noses and stomach the spectacle of honouring Trump in this fashion – including many Conservative politicians. They say we need to be realists and stroke his ego to maintain our economic and military relationship with the US.)
Khan verweigert Trump einen normalen zwischenmenschlichen Respekt oder einfach professionellen Umgang. Trump ist etwas Unreines, Ekelhaftes (sich die Nase zuhalten), und wenn man sich ihm gegenüber anständig verhielte, dann nur in manipulativer Absicht (sein Ego streicheln) und nicht etwa, weil das anständig wäre.
Am 3. Juni, also zwei Tage später, polterte Trump in zwei Tweets zurück, bezeichnete Khan als Versager sowie als dumm und inkompetent und legte ihm nahe, sich lieber um die Kriminalität in London zu kümmern.
Hierzu haben nun praktisch alle großen deutschen Medien eine Aufmachung mit dem Tenor »Trump attackiert Londons Bürgermeister« gewählt. Mit »Aufmachung« meine ich Tweets sowie Artikelüberschriften und ‑teaser.
Im moralischen Kraftfeld der Medien
Es ist eine klare Abfolge von Aktion und Reaktion: Khan attackiert mit Zeitungskommentar, Trump antwortet zwei Tage später mit Tweets. Darin erwähnt er, dass Khan unnötig böse/gehässig (»nasty«) zu ihm gewesen sei. So konnte eigentlich niemand übersehen, dass er auf etwas reagierte und nicht aus eigener Initiative auf den Bürgermeister losging.
Doch in den deutschen Medien wird die Aktion, die die Reaktion auslöste, bestenfalls irgendwo weiter unten im Artikeltext erwähnt, als handelte es sich um eine relativ unbedeutende Zusatzinformation.
Die Tagesschau:
Einen Hinweis auf die Provokation Khans bringt die Tagesschau gegen Ende des Artikels unter der letzten von vier Zwischenüberschriften. In dieser bleibt Trump der Aggressor, in merkwürdigem Widerspruch zum ersten Satz des Absatzes. Auch die Wortwahl unterstreicht die Tendenz: Khan »kritisiert«, Trump »attackiert«.
ZDFheute
Der Tweet der heute-Redaktion enthält keinerlei Link zu weiterführenden Informationen.
BILD:
Khans Provokation findet im letzten Absatz des Artikels Erwähnung:
Die Formulierung »hatte Khan nachgelegt«, die an einen Hinweis auf frühere Scharmützel zwischen den beiden Politikern anknüpft, stammt wohl aus einer dpa-Meldung. Sie findet sich auch im Handelsblatt und bei Spiegel Online. Zuerst aber …
Die FAZ:
Und der Artikel:
Der vorangehende Angriff Khans findet im FAZ-Artikel nicht statt. Dieser erzählt Verschiedenes über den Staatsbesuch und greift den Inhalt der Überschrift nur in diesem Schnipsel wieder auf:
Die Süddeutsche:
Die Aufmachung ist hier nicht so interessant, obwohl wieder Trumps Tweets in den Vordergrund gehoben werden und nicht das, was sie provozierte.
Der relevante Absatz im SZ-Artikel ist aber noch einmal aufschlussreich.
Dass die Verfasserin fälschlich von einem »Interview« spricht, lässt vermuten, dass sie nur die dpa-Meldung vor sich hatte, worin vage von »hatte Khan nachgelegt« die Rede ist. Dass sie praktisch nichts über den Vorgang weiß, hält sie nicht davon ab, Trump für ebendiesen Vorgang zu verspotten.
Spiegel Online:
Im Artikel taucht der dpa-Schnipsel wieder auf:
Ich weiß nicht, ob der Link da steht, weil Khans Kommentar den Spon-Redakteuren so gut gefallen hat, aber unabhängig davon verbuche ich es als Pluspunkt. Je weniger betreutes Denken, desto besser.
Zu guter Letzt noch das Handelsblatt:
Wieder die gewohnte Differenzierung: der eine »kritisiert«, der andere »attackiert«. Aber immerhin kommt die Kritik vor.
Trump attackiert, Bürgermeister antwortet? Da hatte mir der Tweet besser gefallen.
Der Artikel mündet wieder in dem schon bekannten dpa-Schnipsel. Wie immer kommt Trumps »Attacke« vor dem, was sie ausgelöst hat. Zu einer eigenen Auseinandersetzung mit den Einlassungen Khans kommt es nicht. Dafür aber findet der Verfasser Zeit, einen Tippfehler Trumps zu protokollieren.
Soweit das Material.
Der Vorgang ist schematisch ausgedrückt dieser:
- Hans schlägt Robert
- Robert schlägt zurück
- Schlagzeile: »Robert schlägt Hans!«
- Weiter unten gegen Ende des Berichts: »Hans hatte zuvor Robert geschlagen.«
Wie erklären wir uns das?
Eine »moralisch minderwertige Spezies, die keine Empathie verdient«
Ein Teil der Erklärung ist sicherlich die dpa-Meldung, die das Thema in dieser Weise formatiert hat. Doch die Existenz der dpa-Meldung erklärt noch nicht, warum die Journalisten sich entschieden haben, sie aufzugreifen und in dieser Aufmachung zu belassen, ohne den Vorgang zu recherchieren.
Auch wenn man also sagen wollte: Die haben nur stumpf abgeschrieben, müsste man sich fragen, ob sie auch stumpf abgeschrieben hätten, wenn die Meldung weniger ihren Erwartungen und Wertungen entsprochen hätte. Ich glaube nicht.
In Momenten des Ärgers über solche manipulativ wirkenden Halbwahrheiten in den Massenmedien liegt es nahe, den betreffenden Journalisten Bosheit, Verlogenheit, Inkompetenz oder Ähnliches vorzuwerfen.
Aber ich glaube, das ist zu einfach. Es ist nicht die richtige Antwort auf die Frage, wie diese Realitätsverzerrungen zustande kommen.
Vielmehr liegt genau dieses Reaktionsmuster, den unverstandenen Gegner als böse, verlogen, inkompetent abzustempeln, dem Verhalten der Journalisten gegenüber Trump zugrunde.
Erhellender ist der Versuch, sich das Verhalten anderer zu erklären, ohne auf Annahmen wie die zurückzugreifen, sie seien bösartig oder dumm. In der Regel glauben Menschen, dass ihr Tun gut oder zumindest gerechtfertigt ist. Wenn man sie verstehen will, muss man nachvollziehen, wie und warum es dies aus ihrer Sicht ist.
Im vorliegenden Fall denke ich, Trump steht für die Journalisten außerhalb ihres moralischen Magnetfelds bzw. quer zu dessen Feldlinien. Er steht quer zum Guten und dürfte eigentlich nicht in der Position sein, in der er ist. Dass er es ist, bedeutet einen Bruch des Friedens, der natürlichen Ordnung, der moralischen Naturgesetze. Es ist rational nicht erklärbar, nicht entschuldbar, nicht hinnehmbar.
Trump steht für sie außerhalb des sozialen Feldes, innerhalb dessen es normal und möglich ist, Menschen ernst zu nehmen, mit ihnen zu sprechen und sich ihr Verhalten plausibel zu machen. Plausibel machen als etwas, das aus ihrer eigenen Sicht gut und sinnvoll ist und das man selbst in ihrer Position vielleicht auch tun würde.
Ich zitiere eine kurze Passage aus dem Buch »Them and US: Cult Thinking and the Terrorist Threat«, worin der Psychiater Arthur Deikman aufzeigt, wie auch im normalen Alltagsleben Elemente von Sektenverhalten wirksam sind. Eines der vier Hauptmerkmale von Sektenverhalten ist die »Abwertung des Außenseiters«.
Die Abwertung des Außenseiters ist vielleicht das häufigste sektenartige Verhalten im normalen Alltagsleben, wo es die Form annimmt, seine Gegner so zu behandeln, als wären sie eine homogene Gruppe mit ausschließlich negativen Eigenschaften. Böse Motive werden dem anderen zugeschrieben, aber nicht sich selbst. Diese Abwertung erfolgt üblicherweise, indem man den Gegner zum Beispiel als »dumm«, »starr«, »faul«, »reaktionär«, »Gutmensch« oder »kalt« bezeichnet. Bei dieser Abwertung des Anderen werden keine echten Beweise vorgelegt. Selten findet eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Äußerungen und Handlungen der Mitglieder der »bösen« Gruppe statt, ebenso wenig wie eine ernsthafte Prüfung ihrer Sichtweise und deren möglicher Berechtigung, und selten kommt es zu einer kritischen Analyse der eigenen »guten« Sichtweise unter Differenzierung von Annahmen und Fakten. …
Abwertung beruht in hohem Maß auf Projektion, »einem Abwehrmechanismus, in dem die emotional nicht erträglichen Anteile des Selbst unbewusst abgestoßen und anderen Menschen zugeschrieben (auf sie projiziert) werden.« …
Der Effekt von Projektion ist häufig eine Wahrnehmung der anderen Person als fundamental andersartig, als moralisch minderwertige Spezies, die keine Empathie verdient.
Trump ist dieses fundamental Andersartige. Es gibt keine kommunikative Brücke zu seiner Welt und seiner Sicht. Es gibt keine empathische Verbindung jener trivialen und elementar wichtigen Art, die es uns im Alltagsleben ermöglicht, uns plausibel zu machen, warum ein Mensch tut, was er tut.
Deshalb empfindet man es als normal, ihn anzugreifen, wie Khan es getan hat, und als nicht berichtenswert. Trump ist böse. Das wird man doch wohl noch sagen dürfen.
Deshalb hat Trump gefühlt kein Recht, sich zu wehren.
Deshalb sind die Details des Vorgangs letztlich auch egal. Trump ist böse, das steht fest. Es ist sinnvoll, uns alle hin und wieder daran zu erinnern. Mehr kann Berichterstattung in dieser Frage nicht leisten.
Der Gegner, hier Trump, wird entmenschlicht:
- Man kann sich seine Motive nur als böse vorstellen;
- man kann ihn ungehemmt angreifen und beschimpfen, Anstandsregeln gelten nicht;
- man hält eine Beschimpfung für berechtigt, ohne ihren Inhalt zu kennen;
- man billigt ihm nicht das Recht zu, sich zu verteidigen.
Wenn man einmal in einem solchen Sektendenken drinsteckt – wir gut, die böse, wobei man die Fähigkeit verliert, die an normalen menschlichen Maßstäben zu messen –, kann man sich nicht einfach durch einen Willensakt daraus befreien. Sich daraus zu befreien verlangt, die Menschen der anderen Seite mitsamt ihrem Blick auf die Welt an sich heranzulassen. Man muss lesen, was sie schreiben, ihnen zuhören und die Prämissen verstehen, die sie zu ihren Ansichten geführt haben. Wenn die affektive Abwehr einmal steht, geht das nur in kleinen Dosen, in kleinen Schritten. Es kostet Zeit und Anstrengung. Viele haben überhaupt kein Bewusstsein davon, dass es nötig ist. Viele linke Experten für »Rechts« lesen nur Linke und reden nur mit Linken.
Dieses Sektendenken, diese Bubble-Wahrnehmung verstärkt sich selbst, indem man sich als Angehöriger eine soziale und kommunikative Umgebung schafft, in der Informationen gar nicht mehr auftauchen, die das Magnetfeld stören könnten.
Was in einer solchen Umgebung ebenfalls nicht mehr auftaucht, ist Kritik. Dies erklärt die Kombination von Parteilichkeit und handwerklicher Nachlässigkeit, die in diesem wie in ähnlichen Fällen zu beobachten ist.
Man empfindet es als selbstverständlich, dass Trump böse ist. Man kann sich nicht plausibel machen, dass es möglich ist, das anders zu sehen. Wenn man also eine dpa-Meldung mit der Kernbotschaft hereinbekommt, dass Trump böse ist, dann ist das nur eine Selbstverständlichkeit. Wozu eine Selbstverständlichkeit nachrecherchieren?
Und wenn man diese Botschaft dann weiterreicht, erwartet man nicht, sie irgendwie verteidigen zu müssen. Jeder halbwegs vernünftige, gute Mensch wird ihr ja zustimmen. Die einzigen, die nicht zustimmen, sind die, und bei denen ist eh nichts zu machen.
Was kann man also tun, um ein wenig aus dem Schützengraben herauszukommen und vielleicht auch andere dazu zu ermuntern?
Ich habe gegen Ende des vorangehenden Artikels ein paar Vorschläge dazu gemacht. zwei davon sind hier besonders relevant. Nummer 1:
Zutiefst skeptisch sein gegenüber Charakterisierungen einer Gruppe durch deren Gegner. Ich meine das Szenario, dass ein Vertreter der Gruppe A, die Gruppe B nicht mag, einem erklärt, worum es in Gruppe B geht. Das führt häufig zu Verkürzungen und Verzerrungen bis hin zu freischwebenden Fantasien und Projektionen, die mit der Realität von Gruppe B nur noch in Spurenelementen etwas zu tun haben. Häufig spielen die Medien die Rolle der Gruppe A.
Hier geht es darum, sich selbst nicht in Wir-gegen-die-Bubbles hineinziehen zu lassen, sich nicht manipulieren und aufhetzen zu lassen oder sich aus solchen Verstrickungen zu befreien.
Um demgegenüber anderen, insbesondere Gegnern, den Blick über den Tellerrand hinaus zu erleichtern, schlage ich einfach dies vor: Druck und Aggression in der Auseinandersetzung auf das notwendige Minimum reduzieren.
Aggressive Angriffe bringen niemanden zum Nachdenken, jedenfalls nicht in der gewünschten Richtung. Wer in der Öffentlichkeit steht, weiß, dass er Gegner hat. Journalisten im Ärger als »Lügenpresse« zu beschimpfen ist nachvollziehbar, hat aber für diese Journalisten keinen Informationswert. Wir kommen nicht Leuten entgegen, die uns aggressiv angreifen und beleidigen. Wir sortieren sie in den Eimer »Feinde« oder auch »Idioten«, den es schon vorher gab, und wir festigen wahrscheinlich noch unsere Überzeugung, dass es sich um Feinde oder Idioten handelt.
Mehr Erfolg verspricht es, ruhig zu bleiben und Einwände sachlich, ohne Feindseligkeit vorzutragen. Egal, in welchem Lager wir stehen oder auch nicht: Je schwerer wir es dem Gegner machen, uns als »fundamental andersartig, als moralisch minderwertige Spezies« wahrzunehmen, desto eher ist Kommunikation möglich und desto besser ist das Ergebnis für alle.